Erzählen-AG: 366 Geschichten. Andreas Dietrich

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Название Erzählen-AG: 366 Geschichten
Автор произведения Andreas Dietrich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753171944



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Januar

      „Nanu, was ist denn hier passiert?“ Dies fragte sich Herbert, als er am Morgen in den Garten ging. Alles sah ganz anders aus als gestern.

      Am gestrigen Tag baute Herbert einen Schneemann. Nicht für sich. Nicht alleine. Herbert war Mitte dreißig. Er selber würde kaum auf die Idee kommen. Herbert lebte nicht alleine. Herbert lebte nicht bei seiner Mutter. Dort zog er schon vor Jahren aus. Herbert zog mit seiner damaligen Freundin zusammen. Heute ist sie nicht nur seine Freundin. Heute ist sie seine Frau. Vor etwas mehr als zehn Jahren war Hochzeit.

      Herbert und seine Frau sind schon eine halbe Ewigkeit zusammen. Schon als Jugendliche haben sie sich kennengelernt. Schon seit der siebenten Klasse sind sie ein Paar. Es gab zwar immer wieder einmal Krisen, doch die gab es wohl überall. Welche Beziehung läuft schon perfekt? Bei welcher Beziehung tritt nie ein Fehler auf? Es kriselt immer einmal.

      Vor allem dann, wenn die Familie sich vergrößert. Wenn Nachwuchs kommt. Dann kann die Zeit anstrengend sein. Wo ist meine Schokolade? Warum haben wir keine sauren Gurken mehr? Ich brauche Schokolade und Gurken! Ja, es ist schon zweiundzwanzig Uhr, na und? Irgendein Supermarkt wird doch noch offen haben. Irgendwo auf dieser Welt.

      Die Zeit wird besser, wenn der Nachwuchs endlich da ist. Dann dreht sich nicht mehr alles um Mama. Dann steht der Nachwuchs im Mittelpunkt. Windeln wechseln. Flasche geben. Morgens, mittags, abends und auch in der Nacht.

      Der Nachwuchs wird älter. Der Nachwuchs wird größer. Windeln müssen nicht mehr gewechselt werden. Die Flasche verschwindet. Der Nachwuchs kann sich selbstständig ernähren. Sofern genug Nahrung zu Hause ist.

      Doch auch wenn der Nachwuchs größer und älter wird, die Eltern müssen sich noch immer um den Nachwuchs kümmern. Im Frühling. Im Sommer. Im Herbst und im Winter.

      Jetzt war Winter. Jetzt wollte der Nachwuchs im Schnee beschäftigt werden. Alleine Schlittenfahren war kaum möglich. Irgendjemand musste den Schlitten ziehen. Wozu gab es Mama? Wozu gab es Papa? Bergrunter konnte der Nachwuchs alleine. Bergauf war dies nicht möglich. Auf ebenem Gelände erst recht nicht. Mama und Papa mussten ziehen. Notfalls auch zu zweit.

      Nicht nur Schlittenfahren war angesagt. Wenn genug Schnee lag, konnte ein Schneemann gebaut werden. Einer? Oft waren es mehr. Oft wurde eine ganze Schneemannfamilie gebaut. Mit Mama. Mit Papa. Mit Kind. Jedes Familienmitglied bekam seinen Schneemann. Jeder war für seinen oder ihren Schneemann zuständig.

      Jedes Familienmitglied nahm sich Schnee. Formte diesen in der Hand zu einem Schneeball. Der Schneeball diente als Grundlage für die erste Schneemannkugel. Dann ging es quer über die Wiese. Der Schneeball wurde zu einer großen Kugel gerollt. Nach der ersten folgte die zweite. Dann wurde noch eine dritte für den Schneemannkopf gerollt. Am Ende kam die zweite Schneekugel auf die erste. Der Kopf auf die zweite Schneemannkugel. Dann noch ein bisschen Schmuck und der Schneemann war fertig.

      Lange sollte der Schneemann nicht stehen. Es wurde milder. Die Temperatur stieg. Der Schnee schmolz. Auch der Schneemann musste daran glauben. Er wurde in der Nacht kleiner und kleiner. Am Morgen war er nur noch Matsch. Schneematsch im Garten hinter dem Haus von Herbert.

      Fünfundzwanzigster Januar

      Einmal im Monat war bei uns Spielenachmittag oder Spieleabend. Wenn wir am Wochenende Zeit hatten, war es ein Spielenachmittag, sonst wurde es ein Spieleabend.

      Manchmal spielten wir Karten. Manchmal spielten wir Mensch ärgere Dich nicht. Auch heute spielten wir. Heute spielten wir eine Runde Mensch ärgere Dich nicht. Mein Sohn, meine Frau und ich.

      Bei uns gab es besondere Regeln. Es war kein einfaches Mensch ärgere Dich nicht. Zuerst musste natürlich jede Spielfigur, die rausgeschmissen werden konnte, auch rausgeschmissen werden. Wer es unterließ, verlor seine Spielfigur. Sie kam zurück ins Haus und musste warten, bis der Spieler wieder eine Sechs würfelte. Spielfiguren rauszuschmeißen, war wichtiger als eine Spielfigur aus dem Haus zu bekommen. Wer mit einer Sechs eine Spielfigur aus dem Haus bekommen konnte und eine andere Spielfigur schlagen konnte, musste die zweite Option wählen. Die gegnerische Spielfigur wurde rausgeworfen.

      Doch nicht überall konnte eine Spielfigur rausgeworfen werden. Unser Spielfeld sah wie ein Plus aus. An den vier inneren Ecken war Rausschmeißverbot. Eine Figur, die dort stand, konnte nicht rausgeschmissen werden. Egal, was kam und kommen konnte.

      Nun genug der Regeln. Jetzt geht das Spiel los. Mein Sohn würfelt einmal. Eine Fünf. Meine Frau würfelt. Eine Drei. Wenn ich jetzt eine Sechs würfele, darf ich anfangen, sonst fängt mein Sohn an. Ich würfele keine Sechs. Ich würfele nur eine Eins. Mein Sohn fängt an. Dann geht es reihum.

      Mein Sohn würfelt einmal. Sofort würfelt er eine Sechs. Seine erste Spielfigur verlässt das Haus. Auch meine Frau kann gleich beim ersten Mal eine Spielfigur aus dem Haus bringen. Nur ich habe kein Glück. Ich schaffe es erst in der dritten Runde. Dafür lege ich wie die Feuerwehr los. Ich würfele mehrere Sechsen hintereinander. Ich schaffe es, gleich drei Figuren aus dem Haus zu bekommen. Meine Frau hat noch immer nur eine Spielfigur, mit der sie spielen kann. Bei meinem Sohn ist es genauso.

      Doch meine Spielfiguren leben nicht lange. Schon in der nächsten Runde schmeißt mein Sohn eine Spielfigur raus. Ich habe nur noch zwei. Doch auch diese bringe ich nicht ins Haus. Sie werden geschlagen. Beide Male von meinem Sohn. Wobei dies nicht ganz richtig ist.

      Meine dritte Spielfigur könnte meine Frau schlagen. Sie tut es nicht. Mein Sohn bemerkt es. Die Regeln sind klar. Die Spielfigur meiner Frau muss zurück aufs Startfeld. Meine Frau darf noch einmal von vorne beginnen.

      Kurze Zeit später darf ich auch von vorne anfangen. Mein Sohn schlägt meine dritte Spielfigur. Doch dies soll nicht mein Schaden sein. Als alle meine Spielfiguren auf dem Startfeld sind, lege ich wieder wie die Feuerwehr los. Ich würfele wieder mehrere Sechsen hintereinander. Diesmal schaffe ich es sogar, gleich vier Spielfiguren aufs Spielfeld zu bringen. Sie überleben!

      Ich schaffe es, meine Spielfiguren an sicheren Orten zu platzieren. Ich bewege mich meist nur mit einer Spielfigur. So bringe ich eine Spielfigur nach der anderen ins Ziel.

      Am Ende gewinne ich. Ich sehe zu, wie mein Sohn und meine Frau um den zweiten Platz kämpfen. Beide haben die Chance, doch nur einer von ihnen kann Zweiter werden. Am Ende schafft es mein Sohn. Er wird Zweiter. Meine Frau wird Dritter. Damit endet das einzige Spiel am heutigen Tag. Spätestens in einem Monat werden wir wieder spielen.

      Sechsundzwanzigster Januar

      Winterschlussverkauf! Juhu! So wird jemand schreien, der auf den Winterschlussverkauf gewartet hat. Der unbedingt etwas kaufen möchte. Der unbedingt etwas für den restlichen Winter benötigt.

      Im Winterschlussverkauf wird vieles angeboten. Mützen, Handschuhe und auch Jacken. Wer noch keine hat, wer noch etwas davon braucht, sollte jetzt zu schlagen.

      Also ab ins nächste Einkaufszentrum. Auch wenn es schneit, auch wenn es langsam voran geht, es muss sein. Es müssen neue Mützen gekauft werden. Wir haben zwar ein paar im Schrank, doch die sind zu klein. Oder sie haben die falsche Farbe. Oder, oder, oder. Eine Mütze wird heute gekauft! Genauso wie ein paar Handschuhe. Diese gehen langsam kaputt. Für den nächsten Winter reichen sie nicht mehr.

      Das nächste Einkaufszentrum ist nicht klein. Es gibt auch größere. Doch eine Zahl von siebzig Fachgeschäften ist schon in Ordnung. Klar, nicht jedes Fachgeschäft bietet Kleidung an. Nicht jedes Fachgeschäft macht beim Winterschlussverkauf mit. Es gibt auch zwei Bäcker. Es gibt auch zwei Drogeriemärkte. Einen Spielzeugladen. Ein Elektronikfachgeschäft und vieles mehr.

      Wir haben einen Standardplatz am Einkaufszentrum, wo wir unser Auto parken. Dieser ist nicht fest definiert. Er beschreibt eigentlich nur die grobe Lage. Das Einkaufszentrum mit siebzig Fachgeschäften hat vier Eingänge. Am westlichen Eingang parken wir. Dann steigen wir aus und gehen ins Einkaufszentrum.

      Am Anfang erwartet uns kein Textilladen. Links sind Schuhläden, rechts ein Zoofachgeschäft. Erst am Ende des Ganges, wo alle vier Eingänge aufeinander treffen,