Belladonnas Schweigen. Irene Dorfner

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Название Belladonnas Schweigen
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738044560



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vorbei an seiner Tochter Corinna, die immer noch fleißig in ihr Handy tippte. Kurz schüttelte den Kopf, die Frau war echt eine Katastrophe. Hoffentlich fand sie bald einen Mann, der sich um sie kümmert und sie versorgt, denn allein wäre Corinna aufgeschmissen. Und er hatte keine Lust, noch länger für das Lotterleben seiner Tochter aufzukommen. Das Verhältnis zwischen den beiden war schon seit vielen Jahren sehr angespannt, noch bevor die Mutter abgehauen ist und die Tochter zurückgelassen hatte. Corinna wusste genau, dass ihr Vater nicht viel von ihr hielt, und sie provozierte ihn, wo sie nur konnte. Sie sah ihm hinterher und spürte, dass er etwas vorhatte. Schon allein die Tatsache, dass er die Tür des Büros hinter sich zumachte, bestätigte ihren Verdacht. Sie ging in den Aufenthaltsraum, von dem ein Fenster ins Büro ging. Durch die schmutzige Scheibe konnte sie beobachten, wie ihr Vater einige DVDs aus der Überwachungsanlage nahm und in eine Tasche steckte. Das Ganze dauerte nur wenige Augenblicke. Ihr Vater stand auf und Corinna lief schnell hinter den Kassentresen zurück. Wie vorher auch blickte sie stur auf ihr Handy. Ihr Vater sah sie an und wie immer schüttelte er nur den Kopf. Dann ging er nach draußen und warf die Tasche mit den DVDs in den Müllcontainer. Sie wartete, bis ihr Vater wie üblich zur Bank ging. Dann ging sie zum Müllcontainer und fischte die Tasche mit den DVDs raus und verstaute sie in ihrer Handtasche. Später, wenn sie Zeit und Lust hätte, würde sie sich ansehen, was ihr Vater vor der Polizei zu verbergen hatte.

      „Der Mann weiß was und sagt nichts,“ sagte Werner wütend, der es nicht leiden konnte, wenn er angelogen wurde. Viktoria informierte Krohmer, der sich umgehend um den Beschluss kümmern wollte.

      „Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mir gerne den Tatort ansehen.“ Werner war nach den vielen Wochen Abwesenheit wieder in seinem Element und genoss die Arbeit. Auch wenn er gerne Zeit mit seiner kleinen Tochter und seiner Frau verbrachte, liebte er auch seinen Job.

      „Von mir aus, wenn wir schon mal hier sind…“ Viktoria war davon nicht begeistert, denn sie wusste nicht, was das bringen sollte. Sie hatten dort gestern sehr viel Zeit verbracht und es war nichts dabei herausgekommen. Außerdem könnte sich Werner den Tatort auch auf Fotos ansehen. Aber sie wollte sich nicht gleich am ersten Tag mit ihm anlegen und fuhr los.

      Sie parkten den Wagen in der Trostberger Straße und gingen die wenigen Meter zu Fuß zur Marienstraße. Hier auf der linken Straßenseite vor dem leerstehenden Geschäft war es geschehen. Nur eine getrocknete Blutlache und Kreidereste auf dem Boden zeugten noch von der gestrigen Gewalttat. Werner besah sich alles genau. Gedanklich ging er das Verbrechen durch. Hier auf dem Gehweg stand das Opfer, vor sich befand sich die Frau, die er verprügelte. Von dort unten oder aber von der Seitenstraße muss der vermeintliche Retter gekommen sein, obwohl die wenigen Zeugen nur von der Marienstraße gesprochen hatten. Viktoria wurde stutzig, als sie Werners Blicken folgte.

      „Du meinst, der Typ kam vom Kreuzweg?“

      „Warum nicht? Lass uns nachsehen, vielleicht haben wir Glück.“

      „Na gut, wenn wir schon mal hier sind…“ Viktoria war sich sicher, dass Fuchs auch diese Möglichkeit in Betracht gezogen hatte. Allerdings wusste sie auch, dass sich die meisten Zeugenaussagen auf die Marienstraße konzentrierten und dabei die kleine Gasse vielleicht vernachlässigt wurde. Wie auch immer. Werner wollte sich selbst überzeugen und sie folgte ihm.

      Sie gingen über die Straße in die schmale Gasse Am Kreuzweg, die die Marienstraße mit dem Kapellplatz verband. Werner lief sehr langsam voraus, hielt den Blick immer auf den Boden und bückte sich ab und zu. Sie waren bis zum Eingang des Kreuzweges vorgedrungen, der sich links befand. Sie passierten den Brunnen mit den Symbolen der sieben Sakramente und Viktoria staunte nicht schlecht, als Werner den Kreuzweg betrat, der bislang nicht in Betracht gezogen wurde.

      „Keiner der Zeugen hat den Kreuzweg erwähnt. Nichts deutet darauf hin, dass der Täter hier gewesen wäre,“ maulte sie. Sie wusste genau, dass der Kreuzweg vom Vormittag bis zum Nachmittag immer gut besucht war, denn für die meisten Besucher der Gnadenkapelle gehörte der Kreuzweg zum Programm. Es wäre doch irgendjemandem aufgefallen, wenn der Täter hier gewesen wäre. Sie hielt diese Möglichkeit für absolut unwahrscheinlich.

      „Wenn nun alle durch die Tat abgelenkt waren? Vielleicht waren zu dem Zeitpunkt keine Besucher im Kreuzweg? Ich möchte nur kurz nachsehen, es dauert auch nicht lange,“ antwortete Werner und ging seinen Weg weiter. Es war ihm egal, was die Zeugen sagten. Er versetzte sich in die Situation des Täters und er an seiner Stelle wäre hierher gerannt und hätte hier irgendwo die Tatwaffe entsorgt.

      Viktoria fügte sich murrend und sah sich um. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr hier gewesen, genauer gesagt seit den Feierlichkeiten zur Renovierung des Kreuzwegs 1991, zu den sie ihre damalige Schwiegermutter gedrängt und überredet hatte. Ja, ihre Schwiegermutter konnte nerven, aber sie war eine Seele von Mensch, fast zu gut für diese Welt. Von dieser Charaktereigenschaft hatte ihr geschiedener Mann leider nichts geerbt: Er war selbstsüchtig, egoistisch und hinterfotzig. Schnell zwang sie sich dazu, die Gedanken an ihren Exmann aus dem Kopf zu verdrängen, und erinnerte sich viel lieber an den damaligen Besuch mit ihrer Schwiegermutter, die leider kurz darauf schon sterben musste. Sie hatten 1991 den weiten Weg auf sich genommen und waren früh morgens losgefahren, um pünktlich hier zu sein und in vorderster Reihe einen guten Platz zu ergattern. Damals wusste sie noch nicht, dass Altötting einmal zu ihrem beruflichen Wirkungskreis gehören würde. Wie das Leben nun mal so spielt. Sie ging langsam weiter, während sich Werner irgendwo ganz hinten aufhielt. Damals waren vor allem die rollstuhlgerechten Wege und die Grünanlagen noch vollkommen neu. Viktoria staunte nicht schlecht, wie sich vor allem die Botanik verändert hatte. Sie bewunderte die sauberen Natursteinplastiken der einzelnen Stationen, wofür Werner kein Auge hatte. Er suchte systematisch nach einem Hinweis auf das gestrige Verbrechen. Als sich Viktoria gerade die 9. Station der insgesamt 15 Stationen des Kreuzweges besah, rief Werner aufgeregt. Das gibt es doch nicht! Hatte Werner tatsächlich etwas gefunden? Sofort lief sie zu ihm und sah, dass er mit einem Taschentuch triumphierend ein großes Klappmesser in der Hand hielt.

      „Das muss die Tatwaffe sein,“ sagte Werner. Viktoria kramte in ihrer Handtasche und zog einen Plastikbeutel hervor, in den Werner das Messer legte. Jetzt besah sich Viktoria das Fundstück genauer: Das auf der Klinge war ganz sicher Blut. Schnell verstaute sie das Messer in ihrer Handtasche, denn eine kleine Gruppe Wallfahrer betraten den Kreuzweg.

      „Was jetzt? Es könnten noch mehr Spuren auf dem Kreuzweg sein. Wenn die Gruppe hier durch ist, können wir die womöglich vergessen,“ sagte Werner und sah seine Chefin flehend an. Die wusste genau, was in Werners Kopf herumspukte.

      „Du willst den Kreuzweg sperren lassen? Das ist irre, dafür bekommen wir riesigen Ärger.“ Sie überlegte und war in einer Zwickmühle. Zum einen war dieser Kreuzweg eine unverzichtbare Attraktion für Gläubige und Wallfahrer, die am heutigen Feiertag Fronleichnam ganz bestimmt wieder zu Tausenden nach Altötting pilgerten. Aber zum anderen musste sie Werner Recht geben, hier könnten tatsächlich Spuren des Täters zu finden sein. Die Gruppe näherte sich immer mehr und nun entschied sie spontan, denn eigentlich hätte sie vorher ihren Chef informieren müssen. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Sie ging auf die Gruppe zu und hob dabei ihren Ausweis in die Höhe.

      „Kriminalpolizei. Ich möchte Sie bitten, den Kreuzweg aus ermittlungstechnischen Gründen zu verlassen. In drei bis vier Stunden ist die Polizeimaßnahme vorbei, dann können Sie sich hier wieder ungehindert aufhalten. Die Kriminalpolizei bedankt sich für Ihr Verständnis.“ Sie sprach sehr laut und sehr bestimmt, während Werner an ihrer Seite stand.

      Natürlich waren die Besucher nicht erfreut über den Rauswurf und auf Viktoria prasselten von allen Seiten verschiedene Fragen ein.

      „Die Entscheidung ist nicht diskutierbar. Sie gehen jetzt, oder ich muss Sie dazu zwingen.“ Das klang vielleicht etwas hart, aber die Besucher gingen jetzt endlich unter großem Protest. Werner rief die Spurensicherung. Sie brauchten nicht lange warten. Friedrich Fuchs, der Leiter der Spurensicherung, sprang aus seinem Wagen und gab lautstark Anweisungen an seine Leute. Dass das Tatwerkzeug auf dem Kreuzweg hätte sein können, lag nach den Angaben der Kripobeamten nicht nahe und es hatte ihn niemand darauf hingewiesen. Trotzdem ärgerte er sich darüber, dass sie nur wenige Meter vom Tatwerkzeug entfernt völlig umsonst gesucht