Belladonnas Schweigen. Irene Dorfner

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Название Belladonnas Schweigen
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738044560



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weißen Schutzanzügen hinter großzügigen Absperrungen nach irgendetwas suchten.

      „Hier sind bestimmt mehr Menschen als auf dem Kapellplatz,“ stöhnte Viktoria und schüttelte verständnislos den Kopf. „Wenn vermeintlich etwas passiert ist, dann kriechen die alle aus ihren Löchern. Blick dich doch mal um! Kaum ein Fenster, an dem nicht einer rausschaut!“

      „Das müssen wir ausnützen. Gehen wir reihum und befragen nochmals die Anwohner. Erfahrungsgemäß sind die gesprächiger, wenn sie sich von der Polizei Informationen erhoffen.“

      „Du schlauer Hund! Die Zeit zuhause hat dir nicht geschadet.“

      Sie klingelten und klopften so lange an allen Türen, bis ihnen geöffnet wurde. Sie stellten Fragen zum gestrigen Verbrechen und heute waren die Anwohner tatsächlich offener und hilfsbereiter. Aber sie wurden enttäuscht, niemand wusste etwas oder hatte etwas gesehen. Eine Frau war besonders gesprächig.

      „Gestern war ich nicht hier, ich muss diese schreckliche Tat nur knapp verpasst haben, denn als ich heimkam, war die Polizei noch nicht hier. Wenn ich nur fünf Minuten früher heimgegangen wäre, wäre ich eine Augenzeugin gewesen.“

      „Schade, trotzdem vielen Dank.“

      „Moment,“ rief ihnen die Frau hinterher. „Das habe ich ganz vergessen: Die Bofinger Rosi kam mir dort unten entgegen. Die könnte etwas gesehen haben.“

      „Wer ist die Frau?“ Viktoria hatte den Namen noch nie gehört.

      „Die Rosi kennen Sie nicht? Sie ist die Kastler Dorfschlampe. Ihr Künstlername ist Belladonna, aber das interessiert mich nicht. Was braucht diese Frau für ihren schändlichen Beruf auch noch einen besonderen Namen? Für mich ist und bleibt sie die Bofinger Rosi.“ Man spürte, dass die Zeugin diese Rosi oder auch Belladonna nicht mochte. Viktoria hatte noch nie von der Frau gehört. „Die Rosi schafft schon seit vielen Jahren an und hat auch in Altötting ihre Kundschaft. Mehr sag ich nicht, und mehr möchte ich auch nicht wissen. Und von mir haben Sie Ihre Information nicht.“

      Die Frau schloss die Tür und ging wieder ans Fenster, um die Vorgänge auf dem Kreuzweg weiter zu beobachten. Je länger sie darüber nachdachte, was sie wegen Rosi gesagt hatte, desto mehr bereute sie ihre Aussage. Warum hatte sie ihren Mund nicht halten können? Warum musste sie der Polizei gegenüber Rosi überhaupt erwähnen? Die Frau war ihr seit vielen Jahren ein Dorn im Auge, als ihr Mann - Gott hab ihn selig - mit dieser Schlampe in Verbindung gebracht wurde. Hohn und Spott erntete sie überall, was ja noch erträglich gewesen wäre. Aber diese mitleidigen Blicke waren wie Nadelstiche und verletzten sie bis ins Mark. Ihrem Mann hatte sie den Besuch bei Rosi nie verziehen, obwohl Erwin immer wieder dementierte, jemals bei ihr gewesen zu sein. Aber sie glaubte ihm nicht – bis heute nicht. Trotzdem war es nicht richtig, die Polizei auf Rosi zu hetzen. Aber sie hatte sich hinreißen lassen, sie bei der Polizei anzuschwärzen. Vielleicht lag es daran, dass sich heute Erwins Todestag zum achten Mal jährte? Egal, gesagt war gesagt, obwohl das schlechte Gewissen an ihr nagte. Aber sie hatte sie doch gesehen! Ganz sicher sogar! War es nicht sogar ihre Pflicht, das der Polizei gegenüber zu erwähnen? Je länger sie darüber nachdachte, desto beruhigter wurde sie: Sie hatte die Schlampe nicht angeschwärzt, sondern nur die Wahrheit gesagt!

      Werner fuhr zielsicher nach Kastl und parkte vor dem Haus von Rosi Bofinger. Ganz am Ende des alten Dorfkerns von Kastl, abseits gelegen und gut versteckt zwischen hohen Tannen und alten Obstbäumen, stand das Haus der Frau, zu dem ein kleiner, schmaler, privater Kiesweg führte. Der Zaun war kaputt und der Garten war sehr ungepflegt. Auch dem Haus selbst hätte ein Anstrich nicht geschadet. Sie klingelten und klopften an der Haustür, an der tatsächlich der Name Belladonna stand, aber niemand öffnete.

      „Wollen Sie zu Frau Bofinger? Die ist nicht da,“ rief eine ältere Frau, die ihnen auf dem schmalen Kiesweg entgegenlief. „Die ist aber nicht lange weg, sie ist mit dem Radl unterwegs.“

      „Danke, dann warten wir.“

      Die Frau machte keine Anstalten zu gehen und stand nun direkt vor ihnen.

      „Sie sind von der Polizei, gell? Ich habe Sie schon mal gesehen,“ strahlte sie Viktoria an.

      Viktoria konnte sich nicht erinnern. Die 66-jährige Frau mit der Kittelschürze und der altmodischen Kurzhaarfrisur lächelte sie mit schiefen Zähnen erwartungsvoll an. Aber sie mussten sich schon mal gesehen haben, schließlich wusste sie, dass sie von der Polizei war.

      „Es tut mir leid, ich erinnere mich nicht. Sie müssen mir auf die Sprünge helfen.“

      „Das verstehe ich, Sie haben bestimmt täglich mit so vielen Menschen zu tun, dass Sie sich nicht alle Gesichter merken können. Wir sind uns bei dem Fest der Ukrainer in Mühldorf begegnet.“

      Jetzt dämmerte es Viktoria langsam. Der Ukrainische Verein war Teil der Ermittlungen um ein Faschingskostüm und die Kripo wurde zu einem riesigen Fest eingeladen. Sie wäre auf dieses Fest nicht scharf gewesen, aber einige Kollegen und vor allem der Chef waren davon begeistert. Viele Kastler waren ebenfalls dort und hatten sich an den Feierlichkeiten beteiligt.

      „Ich erinnere mich,“ log sie und gab der Frau die Hand. „Aber an Ihren Namen kann ich mich nicht erinnern.“

      „Das glaube ich gern. Bergmann Sieglinde mein Name. Ich wohne dort drüben, das große gelbe Haus mit dem Gickerl auf dem Dach. Was wollen Sie denn von der Rosi? Ist etwas passiert? Hat sie was angstellt?“

      „Nur eine Befragung, reine Routine.“

      Unschlüssig stand Frau Bergmann bei den Polizisten. Soll sie Auskunft geben? Eigentlich gehörte sich das nicht, aber da sie die Polizistin Frau Untermaier quasi privat kannte, war es ihre Pflicht, ihr Wissen weiterzugeben.

      Werner und Viktoria spürten, was in der Frau vorging, und konnten sich ein Lachen nur schwer verkneifen. Sieglinde Bergmann war eine der Frauen, die sich gerne mitteilten und jeden Tratsch weitertrugen.

      „Sie wissen, was die Frau Bofinger beruflich macht?“ Viktoria ging einen Schritt näher auf Frau Bergmann zu und zeigte sich interessiert. „Sie ist eine Prostituierte.“ Diesen Satz flüsterte sie, obwohl weit und breit niemand außer ihnen war. Bei dem Wort Prostituierte brach sie sich fast die Zunge ab. „Aber was Genaues weiß ich nicht. Gerüchte gibt es viele, aber ich spreche mit Rosi nicht über ihre Arbeit. Das ist mir zu peinlich, dafür bin ich zu anständig.“ Die Polizisten mussten sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. „Ich kenne die Rosi schon seit fast dreißig Jahren und nenne sie nur Rosi, wie viele hier im alten Dorfkern. Rosi möchte eigentlich Belladonna genannt werden, unter dem Namen ist sie schon fast eine Berühmtheit. Aber für mich ist und bleibt sie die Rosi.“ Als weder Viktoria, noch Werner darauf reagierten, fuhr sie fort. „Ich hab jung geheiratet und wir haben das Haus hier vor achtundzwanzig Jahren von meinem Onkel übernommen. Wenn wir gewusst hätten, dass hier ein Puff ist, hätten wir uns das vielleicht noch überlegt. Aber einem geschenkten Gaul, schaut man nicht ins Maul!“ Sie lachte und wurde wieder ernst. „Jaja, die Rosi. Über die Jahre sind sehr viele Männer hier ein- und ausgegangen, meist über die Hintertür. Aber ich habe sie trotzdem gesehen und auch viele erkannt. Einige Männer gaben sich Mühe, sich unkenntlich zu machen, andere gehen ganz ungeniert zur Rosi. Aber ich habe nie ein Wort darüber verloren, ich bin ja keine Ratschen. Es ist schon schlimm, dass es so was bei uns auf dem Land, in unserem beschaulichen Kastl gibt. Das gehört sich einfach nicht.“

      Angelockt von dem Gespräch auf dem Privatweg vor Frau Bofingers Haus kam eine Frau auf sie zu, die freundlich grüßte.

      „Griaß di Monika,“ rief ihr Sieglinde Bergmann entgegen. „Die Polizei ist da und wartet auf die Rosi. Weißt du was von der Rosi? Ich weiß ja nichts und hab auch nichts gsagt.“

      „Monika Seligmann, ich wohne dort hinten. Das Haus mit den neuen Dachschindeln. Können Sie es sehen?“ Die 64-jährige Frau plauderte ähnlich munter darauf los. Sie war beinahe so gekleidet wie Frau Bergmann und sie hatte sogar fast die gleiche Frisur.

      „Kennen Sie Frau Bofinger näher?“

      „Mei, die Rosi. Des is in Kastl a ganz a schwarze Gschicht.“