ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR. Eberhard Weidner

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Название ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847636366



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nicht so groß. Irgendwann musste er also zwangsläufig auf Silke stoßen.

      Zweieinhalb Stunden später kehrte er erschöpft, verschwitzt und frustriert an seinen Ausgangspunkt zurück. Er hatte überall nach ihr gesucht, war in jedes einzelne Geschäft gegangen und hatte jeden Verkäufer gefragt, aber niemand hatte Silke gesehen. Es war wie verhext. Seine Frau war anscheinend über Nacht spurlos verschwunden.

      Er betrat das Hotel und lief an der verwaisten Rezeption vorbei zur Treppe. Erneut suchte er ihre Suite auf. Er hoffte, dass Silke zwischenzeitlich zurückgekehrt war, seit Stunden ungeduldig wartend auf dem Bett saß und ihn nach dem Betreten des Zimmers wütend fragte, wo er denn bitteschön die ganze Zeit gesteckt habe. Aber als er die Suite betrat, war sie noch genauso verlassen wie zuvor.

      Er machte sofort wieder kehrt und eilte zurück zum Empfang. Er schlug kräftig auf die Rezeptionsklingel, doch nichts geschah. Immer wieder klingelte er, aber Linda tauchte nicht auf. Verdammt, war die nun etwa auch noch verschwunden.

      Der Tag, als die Frauen verschwanden, dachte er. Das wäre doch mal ein guter Titel für einen Film der hiesigen Romeros, Carpenters oder Cronenbergs.

      Als er realisierte, dass vermutlich niemand auf das Klingeln reagieren würde, wirbelte er herum und rannte ins Freie. Vor dem Hotel blieb er schwer atmend stehen und überlegte fieberhaft. Was sollte er jetzt tun? Was konnte er jetzt überhaupt noch tun? Vielleicht war es nun doch an der Zeit, zum Sheriff zu gehen und Vermisstenanzeige zu erstatten? Schließlich kannte er hier sonst niemanden näher außer der Rezeptionistin Linda, und die war ebenfalls nicht mehr da.

      Moment mal, dachte er, der Bürgermeister! Genau, das war die rettende Idee! Der alte Walt Hooper kannte sich hier aus und wusste bestimmt, was in einem solchen Fall zu tun war. Günther legte die Stirn in Falten und versuchte sich zu erinnern, denn Walt hatte ihnen auf der Feier erklärt, wo sein Amtsgebäude lag. Dabei hatte er auch irgendetwas über das Hotel gesagt. Aber was war das nur gewesen? Verdammter Whisky! Hoffentlich hatte der Alkohol nicht ausgerechnet die Gehirnzellen vernichtet, die er jetzt so dringend benötigte. Aber dann fiel es ihm wieder ein. »Mein Büro liegt direkt gegenüber dem Hotel. Sie können es eigentlich gar nicht verfehlen«, hatte Walt erklärt.

      Günther achtete nicht auf den Verkehr, den es hier ohnehin nicht gab, und rannte, ohne nach rechts oder links zu schauen, über die Straße zu einem Gebäude, das eine exakte Kopie des Herrenhauses der Plantage Tara aus dem Film Vom Winde verweht war. Er lief zwischen den weißen Steinsäulen hindurch zur Eingangstür, verharrte dann aber dort für einen Moment. Es gab keine Klingel, aber schließlich handelte es sich hier um ein öffentliches Gebäude. Da marschierte man doch einfach so rein, oder. Er drückte kurzerhand die Tür auf, schlüpfte ins klimatisierte Innere und stand dann schwer atmend und schwitzend in einem langen Flur mit zahlreichen Türen.

      Soweit er sich erinnern konnte, sah das Plantagenhaus im Film innen ganz anders aus. Allerdings hatte er nur noch vage Erinnerungen, da er den Film nur Silke zuliebe angesehen hatte und beinahe eingeschlafen wäre. Aber vermutlich zählte in einem Ort wie Movietown ohnehin nur die Fassade.

      Er sah sich um und entdeckte am gegenüberliegenden Ende des Flurs eine Tür mit Glaseinsatz, auf dem in schwarzen Lettern Walt Hooper, Mayor stand – und zwar so groß, dass er es trotz der Entfernung problemlos lesen konnte.

      Er rannte den Gang hinunter und klopfte vorsichtig gegen das Glas. Er lauschte, konnte jedoch nichts hören, weder die Aufforderung »Come in!« noch sonst irgendeinen Laut. Er klopfte erneut, etwas energischer und kräftiger, doch wieder geschah nichts. Langsam drückte er die Klinke nach unten und schob dann behutsam die Tür auf, die unverschlossen war und ihm keinen Widerstand leistete.

      »Mr Hooper?«, sagte er laut und schob sich durch den Türspalt in das Büro des Town Mayor.

      An den beiden Seitenwänden standen dicht gefüllte Bücherregale. Die Mitte des Raumes dominierte ein riesiger Schreibtisch aus Walnussholz. An der Wand dahinter hing die amerikanische Flagge zwischen den beiden Fenstern. Der Stuhl hinter dem Schreibtisch war allerdings leer.

      Wo sind denn alle hin, verdammt noch mal?

      Günther trat zaghaft näher und sah sich um. Rechts neben dem Schreibtisch standen auf einem niedrigen Phonotisch ein Flachbildfernseher und ein Videorecorder mit integriertem DVD-Player. Wenn der Bürgermeister den Stuhl zur Seite drehte, konnte er bequem Videofilme angucken.

      Wahrscheinlich seine eigenen, dachte Günther, ging noch näher heran und fasste eine Ansammlung von Videokassetten ins Auge, die fächerförmig ausgebreitet auf dem Schreibtisch lagen, so als hätte der Bürgermeister sie erst vor Kurzem angesehen.

      Er nahm eine Kassette zur Hand und las die Aufschrift: »Der Tod kommt nur nachts, Szene 138. Darsteller: Edward Landis, Karl Landis. Gaststar: Carolyn Boone.« Das war die Szene, die er gestern zusammen mit Silke gesehen und die schon beim Dreh so realistisch gewirkt hatte. Günther kannte sich mit professionellen Filmaufnahmen nicht aus, aber anscheinend wurden die Szenen gleichzeitig auf Video aufgezeichnet, um sich sofort das Ergebnis ansehen und die Aufnahme zur Not noch einmal wiederholen zu können. Die Landis-Brüder hatten sie natürlich gestern auf der Feier getroffen. Schließlich war der Film, in dem sie mitgewirkt hatten, der Anlass der Feierlichkeit gewesen. Er erinnerte sich aber nicht, dort auch Carolyn Boone gesehen zu haben. Er konnte sich auch an keinen bekannten Regisseur mit dem Namen Boone erinnern. Entweder war Carolyn Boone damit die berühmte Ausnahme von der Regel, oder es gab doch einen Regisseur namens Boone, der in Deutschland nur nicht so bekannt war.

      Er legte die Videokassette auf den Schreibtisch zurück und wollte sich schon abwenden, um das Büro zu verlassen und nachzusehen, ob er den Bürgermeister oder wenigstens einen seiner Mitarbeiter woanders in diesem Haus finden konnte, als ihm auf dem Etikett einer anderen Kassette etwas ins Auge fiel, das ihm so vertraut erschien, dass er unwillkürlich innehielt und instinktiv danach griff. Er nahm die Kassette und las stirnrunzelnd die von Hand geschriebene Beschriftung: »Satansmesse auf dem Teufelshügel, Szene 24. Darsteller: Harry Carpenter. Gaststar: Silke Gerhards. Zahlreiche Statisten.«

      Obwohl er es schwarz auf weiß vor sich hatte, weigerte sich Günthers Verstand dennoch hartnäckig, an den Wahrheitsgehalt dessen zu glauben, was er soeben gelesen hatte. Er las die Aufschrift noch einmal, im festen Glauben, sich verlesen zu haben, doch das Ergebnis blieb unverändert: Auf der Videokassette war der Name seiner Frau als Gaststar der aufgenommenen Szene aufgeführt. Aber das war doch vollkommen unmöglich. Und was hatte es überhaupt zu bedeuten?

      Er erinnerte sich noch gut daran, dass Walt seine Frau gefragt hatte, ob sie nicht in einem Film mitspielen wolle. Auch auf der Feier hatte der Bürgermeister sie noch mehrmals darauf angesprochen. Silke hatte das Angebot jedoch jedes Mal abgelehnt, am Ende schon ein wenig genervt von Hoopers Hartnäckigkeit. Offensichtlich hatte sie ihre Meinung über Nacht geändert. Wieso sollte ihr Name sonst auf dieser Kassette stehen? Und vermutlich war das auch der Grund, weshalb Silke heute früh ohne ihn das Hotel verlassen war. Seine Frau spielte, ohne ihm etwas zu sagen, den großen Filmstar, während er sich große Sorgen um sie machte und die ganze Stadt nach ihr absuchte.

      Er musste sich sofort Gewissheit verschaffen. Zu diesem Zweck eilte er um den Schreibtisch herum zum Fernsehgerät und schaltete es ein. Anschließend schob er die Kassette in den Recorder und drückte auf Play. Für ein paar Sekunden lief noch das normale Fernsehprogramm, dann wurde der Bildschirm schwarz. Günther wartete und starrte gebannt auf die Mattscheibe.

      Endlich erschien ein Bild. Es handelte sich um eine Filmklappe, die vor die Kamera gehalten wurde. Darauf waren der Titel des Films, die Szenen- und die Aufnahmenummer, das heutige Datum sowie die Namen des Regisseurs und des Kameramanns vermerkt. Günther registrierte, dass Walt Hooper als Regisseur genannt war. Es gab noch ein paar weitere Angaben, von denen er aber nicht wusste, was sie bedeuteten.

      »Satansmesse auf dem Teufelshügel, Szene 24, die Erste!«, rief jemand aus dem Off, ehe die Balken aufeinandergeschlagen und die Klappe aus dem Bild genommen wurde.

      »Ton?«

      »Läuft.«

      »Kamera?«