ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR. Eberhard Weidner

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Название ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847636366



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Stimme weiter, um vermutlich ihren Vater zu imitieren. »Mach schön dein Abitur, mein Kind. Studiere etwas Vernünftiges, mein Kind. Heirate einen feinen Mann, mein Kind. Gebäre uns viele kleine Enkelchen, mein Kind.« Dann sprach sie wieder mit normaler Stimme weiter. »Es ist so was von zum Kotzen. Manchmal denke ich, ich muss ersticken. Und dann gibt es auch noch meine Schwester, Fräulein Neunmalklug, der Traum aller Eltern. Nur gute Noten, immer nett und niedlich. Manchmal möchte ich sie echt umbringen.« Bettina verstummte und blickte auf, um zu sehen, ob sie Andi durch ihren Redeschwall bereits in die Flucht geschlagen hatte. Doch er stand noch immer neben ihr und sah sie aufmerksam an. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihm schon nach wenigen Minuten ihre Lebensgeschichte erzählte. Was ihre geheimen Wünsche und Träume anging, war sie sonst eher verschlossen. Nur Beate erzählte sie manchmal davon, schließlich war sie ihre beste Freundin und engste Vertraute, sonst niemandem. Zumindest bis zu diesem Moment.

      »Hast du auch Geschwister?«

      Er nickte. »Ja, ebenfalls eine Schwester. Aber die ist ganz okay. Wir verstehen uns prima.«

      Sie lachte bitter. »Da hast du aber Glück gehabt.«

      Sie schwiegen eine Weile und hingen ihren Gedanken nach.

      »Hör mal, Bettina«, begann Andi. »Wenn dich hier eh alles ankotzt, warum kommst du dann nicht einfach mit mir mit?«

      Bettina starrte ihn mit großen Augen verblüfft an. Sie hatte gerade genau das Gleiche gedacht, hätte sich aber nie im Leben getraut, ihn zu fragen, ob er sie mitnehmen würde. Sie forschte in seinem Gesicht, ob er sich nur einen Spaß mit ihr erlaubte und sich insgeheim über sie lustig machte, doch es schien ihm ernst zu sein. »Ich kann doch nicht einfach so abhauen«, wandte sie ein, hoffte aber sehnlichst, dass er jetzt nicht etwa »Da hast du natürlich recht, vergiss es einfach!« sagen, sondern sie vielmehr vom Gegenteil überzeugen würde.

      »Warum denn nicht?«, fragte er, und ihr fiel bei dieser Reaktion ein Stein vom Herzen. »Was hält dich denn noch hier?«

      »Eigentlich … nichts«, stimmte sie zu. »Aber … aber ich kenne dich doch kaum.«

      »Dann musst du mich eben besser kennenlernen«, sagte er lächelnd. »Und für den Anfang muss ich dir gleich ein Geständnis machen.«

      »Was denn?«, fragte sie alarmiert und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Jetzt würde er ihr vermutlich erzählen, dass sie erst noch seine Freundin abholen mussten. Oder dass er unheilbar an Krebs erkrankt war, nur noch 5 Tage, 4 Stunden, 23 Minuten und 48 Sekunden zu leben hatte und durch Europa fuhr, um alle Länder vor seinem Tod noch ein letztes Mal zu sehen. Auf jeden Fall irgendetwas, das ihren Traum, mit ihm einfach von hier abzuhauen, schlagartig zum Platzen bringen würde.

      »Also, ich weiß ja nicht, ob es dir ähnlich erging«, begann er, »aber als ich dich vorhin zum ersten Mal sah, war es, als hätte mich der Blitz getroffen. Ich wusste instinktiv: Das ist das Mädchen, nach dem ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Ich bin überzeugt, dass wir füreinander bestimmt sind!«

      »Echt?«

      Er nickte mit todernstem Gesichtsausdruck und hob die rechte Hand. »Großes Indianerehrenwort.«

      Sie lachte und wäre vor Erleichterung, Freude und Rührung beinahe in Tränen ausgebrochen. »Du wirst es nicht glauben, aber genauso ging es mir auch. Wirklich ganz genauso.«

      Er grinste. »Irre, oder?«

      »Total abgefahren.«

      Sie lachten beide. Dann legte Andi seine rechte Hand auf ihre Schulter, beugte sich nach vorn und küsste sie. Sie schloss die Augen und erwiderte den Kuss, öffnete die Lippen und ließ seine Zunge in ihren Mund eindringen. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, löste er sich von ihr und schaute sie mit blitzenden Augen an.

      »Und? Was sagst du jetzt?«

      »Wozu?«

      »Na, kommst du jetzt mit oder nicht?«

      Sie warf sich freudig in seine Arme, umschlang ihn mit ihren Armen und bettete ihren Kopf an seine muskulöse Brust. »Wo immer dich dein Weg als Nächstes hinführt, ich komme mit dir.«

      Kurz nach Mitternacht verließen sie Arm in Arm die Diskothek. Sie hatten noch etwas getrunken und sich ausgiebig unterhalten. Bettina war immer noch erstaunt, wie viel sie und Andi gemeinsam hatten. Außerdem konnte sie sich mit ihm super unterhalten. Er war ein guter Zuhörer und erzählte nur dann von sich, wenn er gefragt wurde. Bettina war fast trunken vor Freude, denn heute war der schönste Tag in ihrem Leben. Falsch, verbesserte sie sich, wir haben ja schon morgen. Also war gestern der schönste Tag in ihrem Leben gewesen, denn da hatte sie endlich ihren Traummann kennengelernt. Aber von nun an würden nur noch schöne Tage folgen, einer besser als der vorherige, das wusste sie.

      Sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt, während sie den Parkplatz überquerten. Andi führte sie zu einem alten, weißen VW-Bus.

      »Darf ich vorstellen, das ist Berta«, sagte er, nachdem sie den Wagen erreicht hatten, und deutete auf das Fahrzeug. »Berta, das ist Bettina.«

      Bettina lachte. »Berta? Wer hat sich denn den Namen ausgedacht?«

      »Meine Mutter. Gefällt er dir?«

      »Klar. Er passt irgendwie zu ihm … ups, ich meine natürlich, zu ihr.«

      Andi umrundete die Front des Fahrzeugs, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Dann öffnete er von innen die Beifahrertür. Bettina hievte sich auf den Sitz und schloss die Tür.

      »Wie sieht es denn hier aus?«, fragte sie und rümpfte in gespieltem Entsetzen die Nase, als sie all die leeren Getränkedosen und -flaschen, Schokoriegel-Verpackungen, Pizzaschachteln und den sonstigen Müll sah, der im Fußraum lag.

      Andi zuckte die Schultern. »Ich wette, in deinem Zimmer sieht es auch nicht viel besser aus.«

      »Diese Antwort ist richtig, der Kandidat hat hundert Punkte«, rief sie lachend.

      Er lachte ebenfalls und startete den Wagen.

      »Und? Wo fahren wir jetzt hin?«, fragte Bettina abenteuerlustig.

      »Zu dir nach Hause.«

      »Nach Hause?«, fragte sie enttäuscht.

      Er warf ihr einen amüsierten Blick zu und steuerte den Bus dann aus der Parklücke. »Du willst doch bestimmt noch ein paar Sachen mitnehmen, bevor wir auf große Fahrt gehen, oder etwa nicht?«

      »Stimmt«, sagte sie und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, sodass es laut klatschte. »Das hätte ich jetzt glatt vergessen.«

      Andi lachte. »Das Ausreißen will eben gut geplant sein. Außerdem muss ich noch die Ersatzteile besorgen, von denen ich dir erzählt habe.« Er steuerte den Wagen vom Parkplatz auf die schmale Landstraße und gab Gas.

      Bettina schloss die Augen und lehnte sich entspannt zurück. Das war alles so aufregend. Eben erst hatte sie ihren Traummann kennengelernt, auf den sie ihr Leben lang gewartet hatte, und nun fuhr sie mit ihm schon auf und davon. Dabei war es ihr vollkommen egal, wohin die Reise ging, mit Andi an ihrer Seite würde es überall auf der Welt zauberhaft schön sein.

      Sie wurde aus ihren Träumereien gerissen, als hinter ihr ein Summen wie von einem wütenden Bienenschwarm ertönte. Sie öffnete die Augen und sah zu Andi hinüber, doch er schien nichts gehört zu haben und konzentrierte sich ganz aufs Fahren. Vielleicht hatte sie sich ja auch getäuscht. Doch da hörte sie es erneut. Sie drehte den Kopf, um nachzusehen, woher das Geräusch kam, erblickte jedoch nur eine Sperrholzwand, die die Fahrerkabine vom hinteren Teil des Busses trennte.

      »Was ist?«, fragte Andi und warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er seine Augen wieder auf die Straße richtete.

      »Ich … ich dachte, ich hätte etwas gehört. Von hinten.«

      »Was denn?«

      »So ein komisches Summen«, erklärte sie.

      »Ein Summen?«, wiederholte