ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR. Eberhard Weidner

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Название ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847636366



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die Sorge um ihren Sohn erwacht, der mit seinem besten Freund draußen beim Spielen war. Doch zu ihrer Erleichterung kam Kevin schon kurze Zeit später wohlbehalten nach Hause.

      »Nanu, was machst du denn schon hier, Kevin?«, fragte Rita. Einerseits war sie erleichtert, dass es ihrem Sohn gut ging. Andererseits kam er sonst nie vor dem vereinbarten Zeitpunkt nach Hause, sondern nutzte jede freie Minute, um mit Peter in der Umgebung herumzustromern und zu spielen.

      »Peter musste … Er ist nach Hause gegangen.«

      »Wieso das denn? Gab es etwa Ärger oder so?«

      »Keine Ahnung«, meinte Kevin und schenkte sich ein Glas Apfelsaftschorle ein.

      Erst anderthalb Stunden später, als die Polizei vor ihrer Tür stand, erfuhr sie, was an diesem Nachmittag tatsächlich geschehen war.

      Die beiden Jungen hatten trotz mehrfachen ausdrücklichen Verbots beider Elternpaare an der Bahnstrecke gespielt. Sie hatten Ein- und Zwei-Cent-Münzen auf die Schienen gelegt, damit die Räder der vorbeifahrenden Züge sie platt walzten. Und dabei war das schreckliche Unglück geschehen. Aufgrund bisher ungeklärter, höchst tragischer Umstände war der siebenjährige Peter von einem Interregio-Express erfasst und förmlich in Stücke gerissen worden.

      Kevin musste direkt danebengestanden und das Unglück mitangesehen haben, konnte sich allerdings an nichts erinnern. Vehement und nach Ritas Ansicht sehr überzeugend bestritt er, überhaupt in der Nähe der Bahnstrecke gewesen zu sein. Stattdessen erklärte er immer wieder, Peter sei nach Hause gegangen. Sie bedrängten den Jungen schließlich nicht weiter, da er standhaft bei seiner Geschichte blieb, sondern schickten ihn zu Bett.

      Nachdem die Kinder im Bett und die Polizisten wieder gegangen waren, brachte Rita noch rasch die Wäsche in den Keller, um sie in die Maschine zu stecken. Sie war noch zu aufgewühlt, um sich vor den Fernseher setzen und auf das Geschehen auf dem Bildschirm konzentrieren zu können. Stattdessen musste sie sich bewegen und etwas tun. Als sie die Wäschestücke sortierte, stellte sie voller Entsetzen fest, dass die Flecken auf Kevins T-Shirt und Jeans, die sie auf den ersten Blick für Dreckspritzer gehalten hatte, unzählige kleine Blutstropfen waren, die die Kleidungstücke an der Vorderseite von oben bis unten bedeckten. Peters Blut!, hatte sie angewidert gedacht. Sie hatte die Sachen gar nicht mehr gewaschen, sondern umgehend in die Mülltonne vor dem Haus gesteckt.

      »Vielleicht hätten wir ihn doch mit zur Beerdigung nehmen sollen«, meinte Rita nun.

      »Ich glaube immer noch, dass es so für ihn besser war«, widersprach ihr Mann. »Die Beisetzung seines besten Freundes hätte ihn vermutlich nur verwirrt und zu sehr aufgewühlt.«

      »Vermutlich hast du ja recht. Aber er hat sich heute Abend so merkwürdig benommen.«

      »Das legt sich mit der Zeit wieder. Wirst schon sehen.«

      Rita schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich hab schon die ganze Zeit so ein komisches Gefühl.« Sie straffte sich und erhob sich von der Couch. »Ich sehe besser noch mal nach dem Jungen. Vorher finde ich einfach keine Ruhe.«

      »Wenn es dich beruhigt, dann tu das. Wirst schon sehen, dass alles in Ordnung ist.«

      Rita verließ das Wohnzimmer und ging über den Flur zum hinteren Teil des Hauses, in dem die Schlafzimmer der Familie lagen. Vor dem Zimmer ihrer Tochter blieb sie stehen, öffnete die Tür und spähte hinein. Im Schein des Nachtlichts sah sie, dass Katharina im Bett lag, ihren Teddy fest umklammert hielt und schlief. Mit einem Lächeln um die Lippen schloss Rita wieder leise die Tür.

      Sie ging weiter, öffnete auch die nächste Tür möglichst lautlos und blickte ins Zimmer ihres Sohnes. Ihr Herz setzte aus, als sie das verwaiste Bett sah. Sie stieß die Tür ganz auf, machte Licht und stürmte hinein. Von Kevin war jedoch nichts zu entdecken. Stattdessen sah sie, dass der Vorhang zurückgezogen war und das Fenster ein kleines Stück offen stand.

      »Kevin! Nein!« Rita eilte zum Bett, als hoffte sie, ihren Sohn übersehen zu haben und doch noch irgendwo zwischen dem zerwühlten Bettzeug zu finden. Doch sie sah auf den ersten Blick, dass sich unter der zurückgeschlagenen Decke niemand verbergen konnte. In der Mitte der Matratze zeichnete sich sogar noch der Umriss des Kindes auf dem Laken ab. Und genau dort lag ein merkwürdiger kleiner Gegenstand, der nicht hierher gehörte und deshalb sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

      Sie beugte sich vor und nahm den weißen Gegenstand, der sie unwillkürlich an Elfenbein erinnerte, in die Hand, um ihn genauer anzusehen. Sie konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals in Kevins Händen gesehen zu haben. Es dauerte einen Moment, während sie das merkwürdige Ding von allen Seiten musterte, bis sie erkannte, um was es sich handelte.

      Augenblicklich ließ sie den menschlichen Fingerknochen angeekelt fallen und schrie gellend. Dann stürzte sie ans Fenster, riss es ganz auf und blickte in die Nacht.

      »Kevin!«, schrie sie den Namen ihres geliebten Sohnes in die Finsternis, immer wieder, doch sie erhielt keine Antwort und konnte keine Spur von ihm entdecken. Sie spürte einen stechenden Schmerz in der Brust, und ihr wurde instinktiv bewusst, dass Kevin zu einem schrecklichen Ort unterwegs war und sie soeben eines ihrer Kinder verloren hatte. Blicklos starrte sie in die finstere Nacht, die ihren Sohn verschlungen hatte und vermutlich nie mehr hergeben würde.

      MOVIETOWN

      WILLKOMMEN IN MOVIETOWN stand auf dem verwitterten Holzschild am Ortseingang der kleinen Stadt, die mitten im Nirgendwo des Südwestens der Vereinigten Staaten von Amerika lag. Und natürlich durften auch die obligatorischen Einschusslöcher – Günther machte sich die Mühe, sie zu zählen, und kam auf dreizehn – nicht fehlen.

      Silke und Günther Gerhards lachten noch immer darüber, als sie schon wieder in ihrem gemieteten Chrysler saßen und daran vorbeifuhren. So einen verrückten Namen konnten sich auch nur die Amerikaner ausdenken. Doch erst, als sie im Schritttempo die breite Main Street entlangrollten, realisierten sie, dass Movietown nicht nur so hieß, sondern tatsächlich wie eine kleine Filmstadt aussah. Die Häuser rechts und links der Straße bildeten eine knallbunte und total verrückte Mischung aus Westernkulisse, dem Chicago der dreißiger Jahre, einem modernen amerikanischen Vorort, wie man ihn aus zahllosen Filmen kannte, einer futuristischen Zukunftsvision und diversen anderen Stilarten, die sie auf die Schnelle gar nicht alle erfassen konnten.

      Das Ehepaar aus Bayern fuhr an einer Bank vorbei, die aussah, als wäre sie erst vor wenigen Augenblicken von Butch Cassidy und Sundance Kid überfallen worden. Daneben erhob sich ein zweistöckiges Gebäude, das aus dem letzten Star-Wars-Film zu stammen schien. Diesem wiederum schloss sich ein eindrucksvolles, fünfstöckiges Art-déco-Gebäude an, aus dem jeden Augenblick Eliot Ness und seine Untouchables kommen mochten, die Al Capone in Handschellen abführten.

      »Lass uns doch bitte hier anhalten«, schlug Silke begeistert vor. »Davon muss ich unbedingt ein paar Fotos machen.«

      »Okay«, stimmte Günther zu. »Aber erst müssen wir neue Filme kaufen.« Sie schworen noch immer auf ihre analoge Spiegelreflexkamera, eine Nikon F 6, und hielten nichts von neumodischen Digitalkameras.

      »Irgendwo werden wir schon welche kriegen. Aber das muss ich einfach fotografieren, denn es ist zu verrückt hier.«

      Günther lachte. »Nach anderthalb Wochen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten dürfte dir eigentlich nichts mehr verrückt vorkommen.«

      »Da hast du auch wieder recht. Aber nach allem, was wir in den letzten zehn Tagen schon gesehen und erlebt haben, kommt trotzdem immer wieder etwas Neues, wo ich mir dann denke: Mannomann, das ist ja noch abgefahrener als alles andere.«

      »Geht mir genauso.«

      »Lass uns doch da vorn anhalten.« Silke deutete mit dem Zeigefinger durch die Windschutzscheibe. »Vor diesem Saloon

      Günther grinste. »Gute Idee. Ich hab sowieso einen Riesendurst. Und außerdem muss ich mal für kleine Jungs.«

      »Ich auch, ganz dringend sogar, seit ungefähr zwei Stunden.«