ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR. Eberhard Weidner

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Название ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847636366



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überlegte. Im Grunde war es für ihn überhaupt kein Problem, heimlich aus dem Fenster seines Zimmers in den Garten zu steigen, wenn seine Mutter ihn zu Bett gebracht hatte. Nachdem Peter ihm den geheimen Ort gezeigt hatte, konnte er dann ebenso problemlos wieder ins Haus zurück. Niemand würde bemerken, dass er überhaupt weg gewesen war. »Okay, ich bin dabei!«

      »Dann ist es abgemacht! Aber es gibt noch eine Regel.«

      »Welche?«

      »Du darfst keiner Menschenseele davon erzählen. Nicht einmal deiner Mama oder deinem Papa.«

      »Mach ich schon nicht. Was glaubst du denn? Es ist schließlich unser Geheimnis, Peter.«

      »Dann schwöre es!«

      Kevin hob die linke Hand und spreizte wie zuvor sein Freund drei Finger. Die andere Hand presste er gegen die Brust. »Ich schwöre, dass ich keiner Menschenseele, nicht einmal meiner Mama oder meinem Papa, ein Sterbenswörtchen von Peters Geheimnis erzählen werde!«

      Peter nickte zufrieden. »Okay.«

      »Erzählst du mir jetzt schon was über den geheimen Ort, Peter?«

      »Das geht nicht. Aber du wirst es ja heute Nacht selbst sehen.«

      Kevin wurde noch aufgeregter. Das musste ja ein super-obergeheimer Ort sein, wenn ihm sein Freund nicht mal ein klitzekleines bisschen darüber erzählen durfte. Er konnte es nicht lassen, eine weitere Frage zu stellen. »Aber sag mir wenigstens, wie es denn so an dem geheimen Ort ist?«

      Peter hob den Blick, lächelte versonnen und starrte verträumt ins Leere. »Da ist es voll … cool. Es wird dir dort bestimmt gefallen, Kev. Das verspreche ich dir.«

      Kevin grinste. »Super. Ich wünschte nur, es wäre schon so weit. Ich kann es kaum erwarten.«

      »Ach, bevor ich es vergesse, ich hab noch was für dich«, sagte Peter und griff in die Tasche seiner Jeans, an der noch Friedhofserde klebte. Er brachte einen kleinen, mattweiß schimmernden Gegenstand zum Vorschein und legte ihn in Kevins Handfläche. »Hier, das schenk ich dir.«

      »Was ist das denn?«, fragte Kevin und betrachtete das seltsame Ding aufmerksam von allen Seiten. So etwas hatte er noch nie gesehen.

      »Das stammt von dem geheimen Ort. Da gibt es noch viel mehr davon.«

      »Echt? Das ist ja voll endgeil!«, sagte Kevin begeistert. Vielleicht war das Ding sogar wertvoll, auch wenn es momentan nicht danach aussah. Unter Umständen war es Teil eines geheimen Schatzes. Kevin stellte sich vor, wie er nach Hause kam, mit Gold, Juwelen und jeder Menge toller Spielsachen beladen. Seine Eltern würden jubeln, ihm auf die Schulter klopfen und sagen: »Gut, dass du nachts heimlich aus dem Fenster geklettert und zu diesem geheimen Ort gegangen bist, Kevin! Jetzt sind wir endlich steinreich, und du musst nie wieder Spinat und Eukalyptusbonbons essen!«

      »Du darfst es aber niemandem zeigen«, ermahnte ihn Peter und riss ihn dadurch aus seinen Träumereien. »Das ist die dritte Regel. Nicht einmal der doofen Katharina

      Kevin schüttelte heftig den Kopf und schloss rasch die Hand um sein Souvenir von dem geheimen Ort. Seiner Schwester, Eingeweihten auch als doofe Katharina bekannt, würde er nie im Leben ein Geheimnis verraten oder diesen Gegenstand zeigen. Die würde nämlich nur zu den Eltern rennen und ihn verpetzen. Das machte sie immer! Er schob das Ding rasch in die Hosentasche, damit er es nicht verlor, und sah auf seine Uhr. Nachdem er an den Fingern abgezählt hatte, wie viele Stunden er noch warten musste, bis er den geheimen Ort sah, stöhnte er leise. Sie mussten unbedingt etwas tun, damit die Zeit schneller verstrich. »Lass uns Geheimagenten spielen, Peter!«, schlug er vor.

      »Einverstanden, Kev!«

      Als Kevin pünktlich um halb sechs nach Hause kam, bereitete seine Mutter in der Küche bereits das Abendessen vor.

      »Na, wo hast du dich denn heute wieder herumgetrieben?«, fragte sie.

      »Och, ich war nur spielen.«

      »So? Warst du etwa ganz allein unterwegs?«

      »Nö, natürlich nicht! Ich war doch mit Peter zusammen.«

      Seine Mutter sah ihn mit traurigem Blick an und schüttelte sorgenvoll den Kopf. »O Kevin!«, seufzte sie. Dann bemühte sie sich jedoch wieder um ein Lächeln. »Jetzt aber ab ins Badezimmer mit dir! Wasch dir bitte die Hände, gleich gibt es Abendessen.«

      Hinterher durften Kevin und seine Schwester noch ein bisschen fernsehen. Nach dem Sandmännchen wurde Katharina ins Bett gebracht, die zwei Jahre jünger als Kevin war. Sie protestierte und schrie, als würde man sie zum Schafott führen, so wie sie es jeden Abend tat, fügte sich dann aber, nachdem ihr Vater ihr einen tadelnden Blick zugeworfen hatte. Schmollend und mit zornesfinsterer Miene zog sie ab und ging ins Bad, um sich zu waschen und Zähne zu putzen.

      Kevin genoss das Privileg, länger als seine Schwester aufbleiben zu dürfen, doch dann war auch seine Zeit abgelaufen. Obwohl auch er sonst heftig, wenngleich chancenlos um ein paar zusätzliche Minuten feilschte, ließ er es für heute bleiben. Der Vater warf der Mutter einen fragenden Blick zu, als Kevin anstandslos aufstand und davonstapfte, doch diese hob nur ratlos die Schultern.

      Als Kevin im Bett lag, kämpfte er gegen die Müdigkeit, die ihn zu überwältigen drohte. Aber er durfte nicht einschlafen. Er hörte, wie seine Mutter zurück ins Wohnzimmer ging. Nun musste er nur noch warten, bis etwas Ruhe eingekehrt war. Da der Fernseher lief, würden seine Eltern nicht hören, wie er das Fenster öffnete und hinauskletterte. Und die doofe Katharina, deren Zimmer nebenan lag, schlief sicher schon tief und fest.

      Kevin hatte den Gegenstand, den Peter ihm gegeben hatte, vor dem Ausziehen heimlich unter sein Kopfkissen gesteckt. Nun holte er ihn hervor und rieb unter der Bettdecke mit den Fingern daran herum, als wäre es Aladins Wunderlampe und könnte Wünsche erfüllen.

      Er hörte, dass sich seine Eltern im Wohnzimmer unterhielten. Er konnte allerdings nichts verstehen, und es interessierte ihn auch nicht, worüber sie sprachen. Erwachsenensachen wahrscheinlich. Er ließ den geheimnisvollen Gegenstand durch seine Finger gleiten, ertastete seine merkwürdige, aber dennoch irgendwie vertraut wirkende Form und fuhr über die dicken Rundungen an beiden Enden und den dünnen, glatten Mittelteil.

      Bald würde es so weit sein. Er lächelte voller Vorfreude, als er sich vorstellte, dass er noch in dieser Nacht Peters Geheimnis kennenlernen würde.

      »Sag mal, was ist eigentlich mit Kevin los?«, fragte Stephan Bauer, als seine Frau ins Wohnzimmer zurückkam. »Kein Theater, kein Gejammer. Ist der Junge etwa krank?«

      Rita Bauer ließ sich seufzend auf die Couch sinken. »Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist.«

      Durch den Tonfall seiner Frau alarmiert, wandte er den Blick von der Mattscheibe und sah sie fragend an. »Was ist passiert? Hat es wieder etwas mit … mit seinem Freund zu tun?«

      »Du meinst Peter?«, fragte Rita und zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte schon.«

      »Er kommt wohl immer noch nicht darüber hinweg, oder?«

      »Ich glaube eher, dass er noch gar nicht realisiert hat, was geschehen ist«, widersprach sie.

      »Wie kommst du denn darauf?«

      »Als ich ihn fragte, wo er heute war, sagte er vollkommen überzeugt, er sei spielen gewesen. Aber nicht allein, sondern natürlich mit … mit Peter.« Sie wischte sich rasch eine Träne weg, die ihr aus dem rechten Auge und übers Gesicht gelaufen war. »O Gott, was ist bloß mit unserem Jungen los?«

      Stephan rückte näher und legte ihr mitfühlend und Trost spendend einen Arm um die Schultern. »Ich glaube, seine Reaktion ist in diesem Alter ganz normal. Er verdrängt einfach, was passiert ist. So ist es für ihn leichter zu ertragen.«

      »Aber er war doch selbst dabei, als es passierte!«, wandte Rita schluchzend ein. »Er hat doch alles mit eigenen Augen gesehen …!«

      In grausamer Deutlichkeit konnte sich Rita Bauer noch immer an den exakten Ablauf der