Die Brücke zur Sonne. Regan Holdridge

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Название Die Brücke zur Sonne
Автор произведения Regan Holdridge
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170441



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zog Patty die Stirn kraus. „Tut mir leid für dich, dass du keine Freundinnen hast!“

      „Patty!“, zischte Jean entsetzt und spürte, wie sie peinlich berührt rot anlief. Wie konnte ihr Schwester nur?!

      „Doch, doch, die habe ich schon!“, versicherte Amy schnell und noch immer lächelnd. „Nur wohnen die alle in Silvertown oder bis in Summersdale und haben natürlich nicht die Möglichkeit, andauernd den weiten Weg bis zu mir herauszukommen.“

      „Ach so?“ Schnippisch warf Patty die Haare zurück.

      Amy schaute sie aus ihren großen, braunen Augen nachdenklich an. „Kommt, ich zeige euch noch schnell unseren Stall und die Pferde, bevor es richtig losgeht!“, schlug sie nach einer langen Minute vor und riss die Haustüre auf. „Na, kommt schon!“

      „Also, ihr entschuldigt mich bitte!“ Patty strich sich durch das Haar und schielte im Augenwinkel nach dem nächsten Spiegel. „Ich habe nun wirklich nicht vor, mein Kleid zu ruinieren.“ Sie grinste ihre Schwester herausfordernd an. „Aber geh du ruhig mit! Du wolltest doch sowieso reiten lernen!“

      Jean fiel keine passende Erwiderung ein und sie verspürte auch keine Lust, sich jetzt schon wieder und dazu noch vor fremden Menschen mit ihrer Schwester zu streiten. So lächelte sie Amy höflich an und folgte ihr hinaus ins Freie. Obwohl Jean eine zum Cocktailkleid passende Jacke trug, fröstelte ihr in der kalten, zugigen Nachtluft. Neugierig und aufgeregt folgte sie der kleinen Rancherstochter, die angefangen hatte, unaufhörlich zu reden und wie ein junges Fohlen neben ihr her zu hüpfen.

      „Was ist das denn eigentlich?“ Mit ihrem Kinn deutete Jean hinüber zu dem einstöckigen Holzgebäude, aus dem noch Licht aus den Fenstern fiel und an dem sie vorhin schon vorbei gekommen waren.

      „Das ist das Bunkhouse“, erklärte Amy. „Dort sind die Männer untergebracht.“

      „Die Männer?“, wiederholte Jean verständnislos.

      Amy stieß ein kurzes, vergnügtes Lachen aus. „Na klar, die Männer!“

      „In Ordnung und was tun sie da – die Männer in diesem Bunkhouse?“

      „Na, wohnen natürlich! Im Sommer haben wir meistens acht bis zehn, die für uns arbeiten, im Winter weniger, je nachdem, wie das Jahr verlaufen ist. Aber seitdem in der ganzen Welt Westernfilme geschaut werden, ist der Tourismus eine echte Goldgrube, sagt Daddy immer! Vielleicht kommt dieses Jahr zum Stadtfest sogar Robert Mitchum als Stargast! Ist das nicht aufregend?“

      „Robert Mitchum“, wiederholte Jean und Rachels Gesicht erschien vor ihren Augen. „Das erzählst du besser nicht meiner Mutter!“

      „Wieso? Mag deine Mutter keine Schauspieler?“

      „Doch, schon, aber keine, die in Westernfilmen spielen.“ Bedauernd hob Jean die Achseln. Sie kam sich auf seltsame Art und Weise völlig zweitklassig vor. Das hier, das waren Menschen, die hart für ihr Brot arbeiteten und sie? Was taten sie schon? Gut, ihr Vater war Arzt, aber ansonsten? Womit waren all der Luxus, in dem sie lebten, denn gerechtfertigt? Das Geld hatte ihr Großvater verdient und ihre Mutter gab es aus, mehr nicht. Sie brauchten nichts zu leisten, um sich alles gönnen zu können, was ihr Herz begehrte. Schnelle Schritte, die sie von hinten einholten, riss sie aus den Überlegungen.

      „Ihr sollt euch beeilen!“ Patty schnitt ihrer älteren Schwester den Weg ab. „Mom schickt mich, dich zu holen, das Fest geht gleich los!“

      „Wir schauen nur noch schnell die Pferde an!“ Jean scheuchte sie mit einer Handbewegung zur Seite. „Sag ihr, wir sind gleich da!“

      „Komm doch kurz mit!“ Amy strahlte auf ihre natürliche Art zu Patty hinüber, bekam jedoch lediglich ein verächtliches Stirnrunzeln als Antwort.

      „Weißt du schon, dass im Sommer Robert Mitchum in die Stadt kommt?“ Etwas Besseres fiel Jean spontan nicht ein, um die Situation zu retten, die Patty begonnen hatte, mit ihrer Überheblichkeit kaputtzumachen.

      „Wen interessiert das schon? Der sieht ja noch nicht mal gut aus!“

      „Zu uns in die Stadt kommen immer Hollywood-Stars!“, rief die Rancherstochter, als müsste sie Silvertown verteidigen. Zufrieden stellte Patty fest, dass Amys Stimme nun endlich ein wenig verärgert klang. Mitleidig legte sie den Kopf schief.

      „Mach’ dich doch nicht lächerlich! Wir verkehren im vornehmsten Kino Londons! Da hat sogar die Queen eine Lounge reserviert und da darf bei Gott nicht jeder beliebige Knilch von der Straße hinein!“

      „Eure Königin ist mir völlig gleich“, ereiferte sich das andere Mädchen. Ihre anfängliche Begeisterung für die Neuankömmlinge wich allmählich Verärgerung.

      Bevor die beiden noch weiter in Zank geraten konnten, mischte Jean sich müde ein: „Lass uns doch bitte noch kurz die Pferde ansehen, ja?“

      „Pff!“, machte ihre jüngere Schwester abfällig und warf den Kopf zurück. „Ich gehe wieder rein.“

      „Tu’ das“, seufzte Jean und schloss für eine Sekunde die Augen. Wie peinlich! Weshalb musste ihre Schwester nur ständig so tun, als wäre sie etwas Außergewöhnliches? Konnte sie sich nicht einmal so benehmen, wie normale Menschen auch?! Amy erwiderte nichts mehr, sondern hastete davon. Jean lief ihr nach.

      Das Tor zur Stallgasse war verschlossen und Amy drückte es gerade so weit auf, dass sie hineinschlüpfen konnte. Im Stall war die Luft wärmer als im Freien. Der intensive Geruch von Pferdefell, Leder, Mist und Heu schlug ihnen entgegen. Die kleine Amerikanerin knipste das elektrische Deckenlicht an und für eine Sekunde hörte das regelmäßige Malmen der Pferdezähne auf, als die Köpfe der Tiere sich aufmerksam hoben. Die Stallgasse war gut vierzig Meter lang und an beiden Seiten befanden sich halbhohe, große Holzverschläge, fünfzehn an jeder Seite, in denen je ein Pferd untergebracht war.

      Gleich links, in den ersten beiden Boxen standen eine große, kräftige Stute und daneben ein noch höherer Braunschecke. Mit sichtlichem Stolz trat Amy zu dem Schimmel, deren Fell mit unzähligen, winzigen, braunen Punkten übersät war.

      „Das ist Kitty. Sie gehört mir ganz allein. Mein Vater hat sie mir zum zwölften Geburtstag geschenkt. Sie ist große Klasse! Wann hast du eigentlich Geburtstag?“

      „Am fünfzehnten März“, antwortete Jean gedankenverloren – sie grübelte noch immer über das Benehmen ihrer Schwester. Sie schämte sich fürchterlich vor dem anderen Mädchen. Sie musste ihr irgendwie beweisen, dass sie anders war und anders dachte als Patty.

      „Was?“, rief Amy da schon und es klang begeistert. „Ich habe am vierundzwanzigsten! So ein Zufall! Dann sind wir ja fast gleich alt!“ Aufgeregt hüpfte sie zu Jean hinüber, die noch immer dicht hinter dem Tor stand. „Dann gehen wir in dieselbe Schulklasse! Ab wann musst du hin?“

      „Wir haben noch Schonfrist bis Anfang nächsten Monats und dann…“ Das aufschwingende Tor neben ihr unterbrach ihren Satz. Ein kräftiger Mann, gut an die zwei Meter groß, erschien in der Stallgasse. Auch er trug einen Anzug, wie es scheinbar alle heute Abend taten.

      „Habe ich mir doch gedacht!“ Gespielt tadelnd schüttelte er den Kopf. „Kaum komme ich aus dem Haus, sehe ich Licht im Stall! Wer könnte das wohl noch sein, zu so später Stunde? Hoffentlich ruiniert dir nicht noch ein hungriges Maul dein Kleid!“ Er grinste.

      Munter deutete Amy auf Jean. „Das ist Dan, unser Vormann. Und das ist Jean van Haren. Du weißt schon, die Tochter von…“

      „Ja, ja, richtig!“ Der grauhaarige Mann Mitte fünfzig tippte sich grüßend mit zwei Fingern an den breitkrempigen, braunen Hut. „Angenehm, Miss van Haren. Ich hoffe, es wird Ihnen und Ihrer Familie bei uns gefallen.“

      Schmunzelnd betrachtete er ihr Kleid. Diese Mode heutzutage! Ein halbes Kind, wie diese Engländerin offenscheinlich noch war, in solch einen Fetzen zu stecken, der kaum ihre Knie bedeckte! Na, die verwöhnten Großstädter eben. Ja, als er jung gewesen war, da hatten die Mädchen noch herrlich lange, wallende Kleider mit drei Unterröcken zu tragen gehabt! Aber