Mord aus heiterem Himmel. Achim Kaul

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Название Mord aus heiterem Himmel
Автор произведения Achim Kaul
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748593393



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höher gestiegen und hatte den blassen Dunst, der stellenweise über dem Kurpark gelegen hatte, vertrieben. Es waren nur wenige Menschen unterwegs. Erst am frühen Nachmittag würde es hier wimmeln, von Tagesausflüglern, alten Kurgästen und jungen Familien mit quäkenden Kindern. Melzick genoss die Ruhe und das langsame Gehen neben diesem merkwürdigen Außerirdischen. Am Ausgang des Parks lenkte er zielstrebig seine Schritte Richtung Norden, wo der Weg zwischen weiträumigen Wiesen hin zum Waldrand führte, wie sie verdutzt bemerkte.

      »Sie wohnen doch nicht etwa im Wald?«, entfuhr es ihr. Er antwortete nicht, schob stattdessen, wie zum Trotz, die Hände noch tiefer in die Hosentaschen. »Ich bin bewaffnet«, sagte sie. Er drehte seinen Kopf kurz in ihre Richtung.

      »Ich nicht«, war seine Antwort. »Und außerdem bin ich ziemlich bescheuert«, dachte Melzick. Bevor sie die Sache wieder ausbügeln konnte, blieb er plötzlich stehen.

      »Haben Sie schon mal auf einen Menschen geschossen?« Sie antwortete nicht sofort, sondern schaute zum Waldrand hin, der in der Ferne vor ihnen lag. Ein schmaler Streifen Dunkelheit unter dem strahlenden Morgenlicht. Ein kleiner Rest der Nacht hatte sich dort unter einer dünnen Decke verkrochen.

      »Hab’ ich.«

      »Und?«

      »Hab’ ihn getroffen.«

      »Wo?«

      »Wo ich wollte, am rechten Bein.« Sie schaute ihn an. »Können wir weitergehen?« Alba folgte ihr, sichtlich beeindruckt. Während sie schweigend den Weg fortsetzten, dachte sie an den Mann. Dachte an seine Beine, die vor ihr weggerannt waren, die in einer schäbigen Jogginghose gesteckt hatten, die sie ins Visier genommen hatte, bis er sich nach ihr umdrehte, atemlos, schon sehr weit weg. Und wie sie dann geschossen hatte, mit ruhiger Hand. Sie war die Beste gewesen in ihrem Ausbildungsjahrgang. Mit Abstand. Ein Talent, für das sie keine Erklärung hatte. Als sie den Mann getroffen hatte, schrie er auf, griff mit beiden Händen an sein verwundetes Bein, machte noch zwei, drei Schritte, kam ins Stolpern und stürzte. Sie war unfähig gewesen, sich ihm zu nähern. Sie hatte die Waffe weggesteckt und war einfach stehen geblieben wo sie war, bis die anderen kamen. Dieser Mann hatte kurz zuvor in der Innenstadt wahllos um sich geschossen: Ein Amoklauf. Es war ihr erster Einsatz gewesen. Seither hatte sie nie wieder geschossen, und wenn es nach ihr ging, würde sie es auch nie wieder tun. Mit einer unwilligen Kopfbewegung verscheuchte sie den Gedanken daran. Ihr kam in den Sinn, weshalb sie hier mit Alba durch die Gegend lief.

      »Wie alt sind Sie eigentlich?«, fragte sie ihn.

      »Achtundzwanzig. Was passiert jetzt mit dem Professor?«

      »Er kommt in die Gerichtsmedizin. Wir wollen aus dem ungeklärten Todesfall einen aufgeklärten Todesfall machen.« Er nickte. Sie waren nun am Wald angelangt und folgten einem schmalen, kurvigen Weg. Struppiges Unterholz zu beiden Seiten. Hohes Gras. Brennnesseln, Brombeerbüsche, lange Schatten.

      »Er hat mir sehr geholfen. Es hat …«, er stockte und holte tief Luft. Sie waren wieder stehengeblieben. Er rang um Atem. Sie schaute ihn fragend an, hob die Hand. Er wehrte sie ab. »Geht schon wieder. Wir sind gleich da.«

      »Waren Sie befreundet?« Er schüttelte den Kopf. »Aber Sie kannten ihn schon länger.«

      »Seit ein paar Jahren.

      »Wie haben Sie …«, doch Melzick konnte ihre Frage nicht zu Ende formulieren. Sie starrte auf einen Punkt, etwas entfernt und in rund fünfzehn Metern Höhe. »Was ist denn das?«

      »Wir sind da«, sagte er.

      »Ist das denn erlaubt?«, fragte sie, den Kopf im Nacken.

      »Typisch deutsche Frage«, sagte Alba und ergriff mit einer Hand eine Strickleiter. »Denjenigen, auf den es ankommt, habe ich gefragt.«

      »Und wer ist das?« Er klopfte mit der anderen Hand auf den silbrig schimmernden mächtigen Stamm einer 250-jährigen Buche. Dann begann er, vorsichtig zu klettern.

      »Achten Sie auf die sechste und die siebte Sprosse«, rief er ihr über die Schulter zu.

      »Warum?«, rief sie zurück.

      »Die sind präpariert. Ich mag keine ungebetenen Besucher.« Melzick schaute sich um, spähte zwischen den hohen, mächtigen Buchen, die sich an diesem Ort versammelt hatten, umher. Stille im Wald, von Bienen eingefangen. Sie schaute nach oben. Alba war schon verschwunden. Sie seufzte. Dann kletterte sie ihm nach in sein Baumhaus.

      3. Kapitel

      Zur gleichen Zeit stand Zweifel vor der smaragdgrünen, extra breiten Eingangstür des südlichen Victoria-Palais. Das auf Hochglanz polierte Messingschild wies nur vier Namen auf. Der oberste, leicht abgesetzt von den übrigen, lautete Marie-Theres Mindelburg. Professor Mindelburgs Schwester wohnte nicht einfach nur, sie residierte. Dafür eignete sich das Victoria-Palais allerdings vorzüglich. Er drückte auf den matt und edel schimmernden Klingelknopf. Das Auge der Überwachungskamera, schwarz, klein und böse, links von ihm,

      ignorierte er. Zwei, drei, vier Minuten tat sich überhaupt nichts. Zweifel hatte das erwartet. Audienzen verlangen Geduld. Er trat ein paar Schritte zurück und ließ den Blick nach oben schweifen. Die eindrucksvolle Fassade leuchtete blassgelb im Morgenlicht. Die Balustraden und Pfeiler der oberen Balkone waren von majestätischer Ruhe umgeben. Er schlenderte noch ein paar Schritte nach rechts in Richtung des parkähnlichen Gartens, der sich hinter dem Wohnpalast erstreckte. Sein Blick strich über den perfekt gepflegten Rasen, auf dem, fast unbemerkt, lautlos und pflichtbewusst ein Mähroboter seinen Dienst versah. Vereinzelt standen prachtvolle Bäume, gelassen und stolz. Sein Blick verlor sich in ihrem flirrenden Blättermeer. Er hörte die sonore Stimme nicht sofort.

      »Hast Du es?«, fragte Serafina Moor Anna Eichhorn. Diese schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. Sie waren an der Villa Fontenay angelangt. Das Blatt Papier, das sie dem toten Professor aus der Brusttasche hätte entwenden sollen, war nicht zu finden gewesen.

      »Jemand muss schneller gewesen sein«, sagte Anna Eichhorn mit einem Seitenblick auf ihre Freundin. Diese runzelte die Stirn und sagte mit vor Ärger zischender Stimme:

      »Das ist einfach unglaublich. Hast Du auch wirklich genau nachgesehen?« Eichhorn nickte verdrossen.

      »Die Tasche war leer.«

      »Na dann«, sagte Moor mit Ingrimm, »kommt dafür nur unser lieber Dr. Wollmaus in Frage.«

      »Ein wundervoller Garten, nicht wahr, Sir?« Zweifel fuhr herum. In respektvollem Abstand verharrte ein ganz in schwarz gekleideter, silberhaariger Mann von unbestimmbarem Alter. Er hielt sich sehr gerade und ließ sich nicht anmerken, dass er diesen Satz zum zweiten Mal äußerte. Der Kommissar war immer noch vertieft in den Anblick des Parks.

      »Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?« Der hauchfeine Oxfordakzent war nur für geübte Ohren erkennbar. Doch Körpersprache und Wortwahl waren unverkennbar: Dies war ein Butler bester englischer Schule, wie man ihn bestenfalls in einer Dokumentation der BBC zu sehen bekam. Der Kommissar räusperte sich.

      »Adam Zweifel. Ich möchte mit Frau Mindelburg sprechen.« Der Butler legte den Kopf etwas schief.

      »Zweifel, Sir?«

      »Ja – Kriminalpolizei.« Er zeigte seinen Dienstausweis. Sein Gegenüber stutzte für einen winzigen Moment. Dann verbeugte er sich leicht.

      »In diesem Falle wird es am besten sein, wenn Sie mir folgen wollen, Sir«, sagte er mit einer einladenden Geste seiner behandschuhten Rechten.

      »Nur, wenn Sie mir vorher verraten, wer Sie sind«, sagte Zweifel.

      »Ich bitte um Verzeihung, Sir. Mein Name ist Willoughby.«

      »Nun, Willoughby, dann wollen wir mal.« Der Butler ging voraus und verblüfft registrierte Zweifel, dass sie sich offensichtlich auf den Weg in die Tiefgarage machten. Zwischen den beiden identischen Gebäudekomplexen des Victoria-Palais führte, verborgen hinter einer dichten Hecke, eine gewundene Marmortreppe in die Tiefe. Eine dunkelblau schimmernde, schwere Metalltür kam