Schuld und Sühne. Fjodor M. Dostojewski

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Название Schuld und Sühne
Автор произведения Fjodor M. Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174456



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sondern in einer neuen, drohenden und ihm völlig unbekannten Gestalt ... und das kam ihm plötzlich zum Bewußtsein ... Er fühlte einen heftigen Schmerz im Kopf, und es wurde ihm finster vor den Augen.

      Er sah sich schnell um, er suchte etwas. Er wollte sich hinsetzen und suchte eine Bank; er ging aber gerade durch den K–schen Boulevard. Etwa hundert Schritte vor ihm stand eine Bank. Er ging, so schnell er konnte, auf sie zu; doch unterwegs hatte er ein kleines Erlebnis, das für einige Minuten seine ganze Aufmerksamkeit fesselte.

      Als er sich nach einer Bank umschaute, sah er etwa zwanzig Schritte vor sich ein weibliches Wesen gehen, schenkte ihm aber zuerst ebensowenig Beachtung wie allen Gegenständen, die an ihm vorbeihuschten. Es passierte ihm oft, daß er z.B. nach Hause ging und zuletzt gar nicht mehr wußte, welchen Weg er gegangen war; er war es schon gewöhnt. Doch an der Person, die vor ihm ging, war etwas so Seltsames, gleich auf den ersten Blick in die Augen Fallendes, daß er seine Aufmerksamkeit allmählich auf sie lenkte, – zuerst unwillkürlich und sogar ärgerlich, dann aber immer intensiver. Plötzlich kam ihm der Wunsch, sich klar zu machen, was an dieser Person so seltsam war? Erstens war sie wohl noch ein blutjunges Ding, sie ging in der Hitze mit bloßem Kopf, ohne Schirm und ohne Handschuhe und bewegte komisch die Hände. Sie hatte ein Kleidchen aus leichtem Seidenstoff an; es saß aber sehr merkwürdig, war kaum zugeknöpft und hinten an der Taille, wo der Rock anfängt, zerrissen; ein ganzer Fetzen hing herab. Ein kleines Tüchlein war um den bloßen Hals geworfen, doch es saß irgendwie schief. Außerdem ging das Mädchen mit unsicheren Schritten, stolpernd und sogar schwankend. Diese Begegnung erregte endlich die ganze Aufmerksamkeit Raskolnikows. Er holte das Mädchen vor der Bank ein; als sie aber die Bank erreichte, ließ sie sich sofort in eine Ecke fallen, warf den Kopf in die Lehne zurück und schloß die Augen, anscheinend in äußerster Erschöpfung. Als er sie näher betrachtete, sah er gleich, daß sie gänzlich betrunken war. Der Anblick war seltsam und erschütternd. Er glaubte sogar, daß er sich getäuscht habe. Er sah vor sich ein außerordentlich jugendliches Gesichtchen von sechzehn, vielleicht auch nur von fünfzehn Jahren, doch auffallend gerötet und gleichsam geschwollen. Das Mädchen schien nicht bei vollem Bewußtsein; es hatte ein Bein über das andere geschlagen und zeigte davon viel mehr, als anständig war; anscheinend wußte es kaum, daß es sich auf der Straße befand.

      Raskolnikow setzte sich nicht, wollte auch nicht weggehen, sondern stand ratlos vor ihr. Dieser Boulevard ist auch sonst immer menschenleer, doch jetzt um die zweite Nachmittagstunde und bei dieser Hitze war fast kein Mensch da. Aber etwas abseits, etwa fünfzehn Schritte von der Bank, am Rande des Boulevards, war ein Herr stehen geblieben, dem man es ansah, daß er sich dem Mädchen mit irgendwelchen Absichten nähern wollte. Auch er hatte sie wohl schon aus der Ferne erblickt und einzuholen versucht, aber Raskolnikow war ihm in den Weg gekommen. Er warf ihm boshafte Blicke zu, bemühte sich übrigens, daß er es nicht merke, und wartete ungeduldig, daß der zerlumpte Kerl weggehe, damit er an die Reihe komme. Der Sachverhalt war klar. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, feist, wohlbeleibt, frisch wie Milch und Blut, mit rosigen Lippen und kleinem Schnurrbart und sehr elegant gekleidet. Raskolnikow ärgerte sich furchtbar; er spürte plötzlich Lust, diesen dicken Gecken irgendwie zu beleidigen. Er verließ für eine Weile das Mädchen und ging auf den Herrn zu.

      »He, Sie, Swidrigailow! Was wollen Sie hier?« schrie er, die Fäuste ballend, während ein Lächeln seine Lippen verzerrte, auf die vor Wut Schaum getreten war.

      »Was soll das heißen?« fragte der Herr streng, mit hochmütigem Erstaunen, die Stirne runzelnd.

      »Packen Sie sich, heißt das!«

      »Wie unterstehst du dich, Kanaille! ...«

      Und er holte mit seiner Gerte aus. Raskolnikow stürzte sich mit den Fäusten auf ihn hin, ohne zu bedenken, daß der kräftige Herr auch mit zwei solchen, wie er, fertig werden könnte. Doch in diesem Augenblick packte ihn jemand fest von hinten, und zwischen ihnen erschien ein Schutzmann.

      »Lassen Sie es, meine Herren, Sie dürfen sich an einem öffentlichen Platze nicht herumschlagen. Was wollen Sie? Wer bist du?« wandte er sich streng an Raskolnikow, als er seine zerlumpte Kleidung bemerkte.

      Raskolnikow betrachtete ihn aufmerksam. Es war ein braves Soldatengesicht mit grauem Schnurrbart und Backenbart und einem klugen Blick.

      »Sie brauche ich eben«, rief er, ihn bei der Hand packend. »Ich bin ehemaliger Student, Raskolnikow ... Das dürfen Sie auch erfahren«, wandte er sich an den Herrn. »Kommen Sie mal mit, ich will Ihnen etwas zeigen ...«

      Er packte den Schutzmann bei der Hand und schleppte ihn zur Bank ...

      »Hier, schauen Sie, ganz betrunken ist sie, soeben ging sie durch den Boulevard; wer weiß, was sie ist, sie sieht aber nicht so aus, als ob es ihr Gewerbe wäre. Wahrscheinlich hat man sie irgendwo betrunken gemacht und verführt ... zum erstenmal ... verstehen Sie? ... und hat sie dann laufen lassen. Schauen Sie nur, wie ihr Kleid zerrissen ist und wie es sitzt; man hat es ihr angezogen, nicht sie selbst, ungeschickte Männerhände haben es ihr angezogen. Das sieht man. Jetzt aber schauen Sie bitte her: dieser Geck, den ich eben schlagen wollte, – ich kenne ihn nicht und sehe ihn zum erstenmal; er hat sie auch soeben bemerkt, wie sie betrunken und bewußtlos ging, und hat furchtbar große Lust, sich an sie heranzumachen, sie abzufangen und, da sie in diesem Zustande ist, – irgendwohin zu verschleppen ... Es ist sicher so; verlassen Sie sich darauf, daß ich mich nicht täusche. Ich habe selbst gesehen, wie er sie beobachtete und verfolgte, ich kam ihm aber zuvor, und er wartete immer, daß ich weggehe. Da ist er eben ein wenig zurückgegangen, steht da und tut, als wolle er sich eine Zigarette drehen ... Wie machen wir es bloß, daß er sie nicht kriegt? Wie bringen wir sie nur nach Hause, – denken Sie mal nach!«

      Der Schutzmann hatte sofort alles begriffen. Was der dicke Herr wollte, war ihm klar; nun blieb noch das Mädchen. Der alte Soldat beugte sich über sie, um sie genauer zu betrachten, und seine Züge nahmen den Ausdruck aufrichtigen Mitleides an.

      »Ach, wie die einem leid tut!« sagte er kopfschüttelnd. »Sie ist ja noch ein Kind. Man hat sie verführt, das ist mal sicher. Hören Sie, Fräulein,« begann er sie zu rufen, »wo wohnen Sie denn?«

      Das Mädchen öffnete die müden, verschlafenen Augen, blickte die Fragenden stumpf an und machte eine abwehrende Handbewegung.

      »Hören Sie mal,« sagte Raskolnikow, »hier, nehmen Sie dies ... (er suchte in der Tasche und holte zwanzig Kopeken hervor; soviel hatte er noch), nehmen Sie eine Droschke und sagen Sie dem Kutscher, daß er sie nach Hause bringt. Wenn wir nur ihre Adresse erfahren könnten!«

      »Fräulein, Sie, Fräulein!« begann der Schutzmann von neuem, nachdem er das Geld eingesteckt hatte. »Ich will gleich eine Droschke nehmen und Sie selbst nach Hause bringen. Wohin befehlen Sie? Wie? Wo geruhen Sie zu wohnen?«

      »Fort! ... Die lassen einen nicht in Ruhe!« murmelte das Mädchen und winkte wieder mit der Hand ab.

      »Ach, ach, wie häßlich! Sie sollten sich doch schämen, Fräulein! Diese Schande!« Er schüttelte wieder mißbilligend, mitleidig und entrüstet den Kopf. »Eine schwierige Sache!« wandte er sich an Raskolnikow und musterte ihn wieder vom Kopf bis zu den Füßen. Er kam ihm wohl merkwürdig vor: ist so zerlumpt, hat aber Geld hergegeben!

      »Haben Sie das Fräulein weit von hier gefunden?« fragte er ihn.

      »Ich sage Ihnen ja: sie ging schwankend vor mir her, hier auf diesem Boulevard. Wie sie die Bank erreichte, da fiel sie auch gleich hin.«

      »Ach, welch eine Schande macht sich jetzt in der Welt breit, mein Gott! Ein so unerfahrenes Ding und schon betrunken! Man hat sie verführt, das steht fest! Auch das Kleidchen ist zerrissen ... Wie liederlich und zuchtlos sind jetzt die Leute! Vielleicht ist sie auch aus anständiger Familie, die aber verarmt ist ... Heute gibt es viele von dieser Art. Dem Aussehen nach ist sie was Besseres, ganz wie ein Fräulein ...« Und er beugte sich wieder über sie.

      Vielleicht hatte er auch selbst solche heranwachsenden Töchter, »ganz wie Fräuleins, wie was Besseres«, mit Gewohnheiten von wohlerzogenen jungen Mädchen und nachgeäfften modischen Manieren ...

      »Die Hauptsache