Schuld und Sühne. Fjodor M. Dostojewski

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Название Schuld und Sühne
Автор произведения Fjodor M. Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174456



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in ihre Schale, und selbst das Gesicht der Dienstmagd, die ihn zu bedienen hatte und zuweilen in sein Zimmer hineinschaute, reizte seine Galle und brachte ihn zu Krämpfen. So geht es manchen Monomanen, die sich allzu stark auf etwas konzentriert haben.

      Seine Wirtin hatte schon seit zwei Wochen aufgehört, ihm Essen zu geben, und es war ihm bisher noch gar nicht eingefallen, zu ihr zu gehen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, obwohl er ohne Mittagessen saß. Nastasja, die Köchin und einzige Dienstmagd der Wirtin, war über diese Gemütsverfassung des Zimmerherrn zum Teil sogar froh und hatte ganz aufgehört, bei ihm aufzuräumen und den Boden zu kehren; nur ab und zu, so einmal in der Woche, griff sie, wie aus Versehen, nach dem Besen. Sie war es auch, die ihn jetzt geweckt hatte.

      »Steh auf, was schläfst du!« schrie sie über seinem Kopfe, »es ist bald zehn. Ich habe dir Tee gebracht; willst du Tee? Bist wohl hungrig!?«

      Der Zimmerherr öffnete die Augen, fuhr zusammen und erkannte Nastasja.

      »Ist der Tee von der Wirtin, wie?« fragte er, indem er sich langsam und mit krankhaftem Ausdruck vom Sofa erhob.

      »Ach was, von der Wirtin!«

      Sie stellte vor ihn ihre eigene, gesprungene Teekanne mit dem schon einmal aufgebrühten Tee hin und legte zwei Stückchen gelben Zucker dazu.

      »Hier, Nastasja, nimm das, bitte«, sagte er, nachdem er in seiner Tasche gesucht (er hatte in den Kleidern geschlafen) und eine Handvoll Kupfergeld hervorgeholt hatte. »Geh und kaufe mir eine Semmel. Bring auch etwas Wurst aus dem Wurstladen mit, doch von der billigen.«

      »Die Semmel bringe ich dir sofort, willst du aber vielleicht statt der Wurst Kohlsuppe? Es ist eine gute Kohlsuppe von gestern. Ich hatte sie gestern für dich zurückgestellt, du kamst aber spät heim. Eine gute Kohlsuppe.«

      Als die Kohlsuppe vor ihm stand und er sie zu löffeln begann, setzte sich Nastasja neben ihn aufs Sofa und fing zu schwatzen an. Sie stammte vom Lande und war sehr geschwätzig.

      »Praskowja Pawlowna will sich über dich bei der Polizei beschweren«, sagte sie.

      Er verzog schmerzvoll das Gesicht.

      »Bei der Polizei? Was will sie denn?«

      »Du zahlst nichts und ziehst nicht aus. Kannst dir wohl denken, was sie will.«

      »Zum Teufel, das hat mir noch gefehlt«, murmelte er, mit den Zähnen knirschend. »Nein, das ist mir jetzt ... sehr ungelegen ... Eine dumme Gans ist sie«, fügte er laut hinzu. »Ich will heute zu ihr gehen und mit ihr reden.«

      »Sie ist wohl eine dumme Gans wie ich, aber warum liegst du, Kluger, wie ein Sack da, warum sieht man dich nichts tun? Früher, sagst du, hast du Kindern Stunden gegeben; warum tust du aber jetzt nichts?«

      »Ich tue ...« versetzte Raskolnikow unwillig und düster.

      »Was tust du denn?«

      »Eine Arbeit ...«

      »Was für eine Arbeit?«

      »Ich denke«, antwortete er nach einem Schweigen ernst.

      Nastasja schüttelte sich vor Lachen. Sie war von den Lachlustigen, und wenn man sie zum Lachen brachte, lachte sie lautlos, sich schüttelnd und am ganzen Leibe bebend, bis es ihr übel wurde.

      »Hast du dir schon viel Geld erdacht?« brachte sie endlich hervor.

      »Ohne Stiefel kann man keine Stunden geben. Ich spucke auch darauf.«

      »Spuck nicht in den Brunnen.«

      »Das Stundengeben bringt nur Kupfergeld ein. Was kann man mit den paar Kopeken anfangen?« fuhr er unwillig fort, als antwortete er seinen eigenen Gedanken.

      »Du willst aber wohl das ganze Kapital auf einmal haben?«

      Er sah sie sonderbar an.

      »Ja, das ganze Kapital«, antwortete er mit fester Stimme nach einer Pause.

      »Platz doch nicht gleich damit heraus, sonst machst du einem Angst; es ist gar zu schrecklich. Soll ich dir die Semmel holen oder nicht?«

      »Wie du willst.«

      »Ja, ich hab's vergessen! Gestern, als du fort warst, kam ein Brief für dich.«

      »Ein Brief?! Für mich?! Von wem?!«

      »Von wem, das weiß ich nicht. Drei Kopeken habe ich dem Briefträger aus eigenem Geld geben müssen. Wirst du sie mir zurückgeben?«

      »Bring ihn doch um Gottes willen her!« schrie Raskolnikow ganz aufgeregt. »Mein Gott!«

      Nach einer Minute erschien der Brief. »Also wirklich von der Mutter aus dem R-schen Gouvernement.« Er erbleichte sogar, als er ihn in die Hand nahm. Lange schon hatte er keine Briefe erhalten, und jetzt preßte ihm auch noch etwas anderes das Herz zusammen.

      »Nastasja, geh fort, um Gottes willen; da hast du deine drei Kopeken, geh aber um Gottes willen schnell fort!«

      Der Brief zitterte in seinen Händen; er wollte ihn nicht in ihrer Anwesenheit öffnen: er wollte mit dem Briefe alleinbleiben. Als Nastasja gegangen war, führte er den Brief schnell an seine Lippen und küßte ihn; dann studierte er lange die Handschrift der Adresse, die ihm so gut bekannte und liebe, feine, schräge Schrift der Mutter, die ihn einst im Lesen und Schreiben unterrichtet hatte. Er zögerte; er schien sogar etwas zu fürchten. Endlich öffnete er ihn: der Brief war lang, ganze zwei Lot schwer; zwei große Briefbogen waren eng beschrieben.

      »Mein lieber Rodja,« schrieb die Mutter, »es sind schon über zwei Monate her, daß ich mit Dir nicht mehr brieflich gesprochen habe; darunter habe ich selbst gelitten und konnte manche Nacht vor lauter Denken nicht einschlafen. Du wirst mir sicher aus diesem ungewollten Schweigen einen Vorwurf machen. Du weißt doch, wie ich Dich liebe; Du bist unser Einziger, Du bist für mich und Dunja unser alles, unsere ganze Hoffnung und Zuversicht. Was habe ich nicht alles gelitten, als ich erfuhr, daß Du schon vor einigen Monaten die Universität aus Mangel an Mitteln verlassen hast und daß das Stundengeben und die übrigen Einkünfte aufgehört haben! Wie hätte ich Dir auch bei meiner Pension von hundertzwanzig Rubeln im Jahre helfen können? Die fünfzehn Rubel, die ich Dir vor vier Monaten schickte, habe ich, wie Du selbst weißt, von unserem Kaufmann Wasilij Iwanowitsch Wachruschin auf meine Pension hin geliehen. Er ist ein guter Mensch und war einst mit Deinem Vater befreundet. Indem ich ihn aber ermächtigte, die Pension für mich zu empfangen, mußte ich warten, bis die ganze Schuld gedeckt war; dies ist soeben erst eingetreten, und darum konnte ich Dir die ganze Zeit nichts schicken. Aber jetzt, Gott sei Dank, kann ich Dir wohl wieder schicken; wir können uns jetzt überhaupt mit einer Besserung unserer Finanzen rühmen, und das beeile ich mich, Dir mitzuteilen. Erstens – wirst Du es wohl erraten, lieber Rodja, – daß Deine Schwester schon seit anderthalb Monaten mit mir wohnt und daß wir uns auch in Zukunft nicht mehr trennen werden? Gott sei Dank, ihre Martern haben ein Ende genommen, ich will es Dir aber alles der Reihe nach erzählen, damit Du weißt, wie sich alles zutrug und was wir vor Dir bisher verheimlicht haben. Als Du mir vor zwei Monaten schriebst, Du hättest gehört, daß Dunja im Hause der Herrschaften Swidrigailow viele Grobheiten zu leiden habe, und von mir genaue Erklärungen verlangtest, was konnte ich Dir damals antworten? Hätte ich Dir die ganze Wahrheit geschrieben, so wärest Du imstande, alles liegen zu lassen und, sei es auch zu Fuß, zu uns zu kommen, denn ich kenne Deinen Charakter und Deine Gefühle, und Du würdest die Beleidigung Deiner Schwester nicht dulden. Ich war auch selbst verzweifelt, aber was konnte ich tun? Ich kannte damals auch selbst nicht die ganze Wahrheit. Die größte Schwierigkeit bestand aber darin, daß Dunjetschka, als sie im vorigen Jahre die Gouvernantenstelle annahm, sich ganze hundert Rubel als Vorschuß auszahlen ließ, unter der Bedingung, daß das Geld ihr monatlich vom Gehalt abgezogen werde; sie konnte also die Stelle nicht aufgeben, bevor die ganze Schuld abgetragen war. Diese Summe aber (jetzt kann ich Dir alles erklären, teurer Rodja) hatte sie hauptsächlich darum genommen, um Dir die sechzig Rubel schicken zu können, die Du damals so dringend gebraucht und die Du von uns im vorigen Jahre auch wirklich erhalten hast. Wir haben Dich damals betrogen, wir schrieben