Schuld und Sühne. Fjodor M. Dostojewski

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Название Schuld und Sühne
Автор произведения Fjodor M. Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174456



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und betrachtete ruhig und friedevoll die Newa und das leuchtende Abendrot. Trotz seiner Schwäche spürte er nichts von Müdigkeit. Es war, als sei das Geschwür auf seinem Herzen, das während der letzten Woche reif geworden war, plötzlich geplatzt ... Freiheit ... Freiheit! Er fühlte sich frei von jenem Zauber, von Verführung und Versuchung.

      Als er später an diese Tage und Ereignisse zurückdachte und sie Minute für Minute, Punkt für Punkt durchnahm, wunderte er sich jedesmal über einen Umstand, der zwar an sich durchaus nicht merkwürdig war, den er aber als einen Fingerzeig des Schicksals auffaßte.

      Er fragte sich nämlich, warum er damals, trotz seiner Müdigkeit und Abspannung nicht den kürzesten Weg nach Hause genommen, sondern einen völlig überflüssigen Umweg über den Heumarkt gemacht hatte. Der Umweg war allerdings nicht groß, aber doch ganz sinnlos und unnötig. Es passierte ihm zwar oft, daß er heimging, ohne auf den Weg zu achten. Er fragte sich aber, warum die wichtige, entscheidende und höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte gerade mit jener Stimmung, mit jenen Umständen und mit jenem Augenblick seines Lebens zusammenfiel, in denen diese Begegnung einen entscheidenden Einfluß auf sein ganzes Schicksal haben mußte? Als hätte dieser Augenblick auf ihn gelauert ...

      Es war gegen neun Uhr, als er über den Platz ging. Alle Händler, die in Läden, auf Tischen und im Herumziehen ihre Geschäfte betrieben, machten Feierabend, räumten ihre Waren fort und gingen, ebenso wie die Käufer, nach Hause. In der Nähe der Garküchen, in den schmutzigen und stinkenden Höfen und besonders bei den Schenken drängten sich noch viele Händler und Trödler. Raskolnikow bevorzugte bei seinen Spaziergängen gerade diese Gegend und die anstoßenden Gassen. Seine schäbige Kleidung fiel hier niemand auf, und hier konnte er in jedem Aufzug erscheinen, ohne Anstoß zu erregen. An der Ecke der K–Gasse trieb ein Kleinbürgerpaar an zwei Tischen Handel mit Garn, Bändern, billigen Tüchern und ähnlichem Kram. Sie waren gleichfalls im Begriff, Feierabend zu machen, da kam aber zu ihrem Verkaufsstand eine Bekannte und hielt sie auf. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna, oder kurzweg Lisaweta, wie sie von allen genannt wurde, eine jüngere Schwester der alten Aljona Iwanowna, der Kollegienregistratorswitwe und Wucherin, bei der Raskolnikow gestern gewesen war, um ihr eine Uhr zum Pfand anzubieten und dabei seine Probezu machen ... Er kannte Lisaweta seit längerer Zeit sehr genau, und auch sie kannte ihn flüchtig. Es war eine lange, plumpe, schüchterne alte Jungfer, beinahe eine Idiotin; sie war etwa fünfunddreißig und wurde von ihrer Schwester wie eine Sklavin behandelt; sie arbeitete für sie Tag und Nacht, hatte vor ihr den größten Respekt und bekam von ihr zuweilen Schläge. Sie stand nachdenklich mit einem Bündel in der Hand vor dem Händlerehepaar und hörte aufmerksam zu. Diese redeten auf sie mit besonderem Eifer ein. Als Raskolnikow sie erkannte, bemächtigte sich seiner ein tiefes Erstaunen, obwohl an der Begegnung eigentlich nichts Wunderbares war.

      »Entscheiden Sie, Lisaweta Iwanowna, doch selbst über die Sache«, sprach der Kleinbürger. »Kommen Sie morgen so gegen sieben, und dann treffen Sie auch die Leute.«

      »Morgen?« fragte nachdenklich und gedehnt Lisaweta. Sie konnte sich wohl nicht entschließen.

      »Wie Sie die Aljona Iwanowna eingeschüchtert hat!« sagte die Frau, ein geriebenes Weib. »Wenn ich Sie so anschaue, kommen Sie mir wie ein kleines Kind vor. Sie ist nicht einmal eine richtige Schwester von Ihnen, nur eine Stiefschwester, und doch hat sie Sie so unter dem Pantoffel.«

      »Sagen Sie doch der Aljona Iwanowna diesmal überhaupt nichts!« unterbrach der Händler seine Frau. »So rate ich Ihnen. Kommen Sie einfach her, ohne ihr ein Wort zu sagen. Das Geschäft ist doch glänzend. Ihre Schwester wird es hinterdrein schon selbst einsehen.«

      »Soll ich wirklich kommen?«

      »Morgen um sieben. Dann kommen auch die Leute her. Sie können dann alles persönlich abschließen.«

      »Es wird auch Tee geben«, bemerkte die Frau.

      »Gut. Ich werde kommen«, sagte endlich Lisaweta. Sie war noch immer unschlüssig und verließ zögernd den Verkaufsstand.

      Dies war alles, was Raskolnikow im Vorbeigehen hörte. Er ging leise und unbemerkt vorbei und gab sich Mühe, jedes Wort aufzufangen. Sein Erstaunen von vorhin ging allmählich in Grauen über; es überlief ihn kalt: er hatte ja soeben erfahren, daß Lisaweta, die Schwester und einzige Hausgenossin der alten Wucherin, morgen um sieben Uhr abends fortgehen und daß die Alte um diese Zeit ganz allein bleiben werde.

      Er hatte nur noch wenige Schritte bis zu seiner Wohnung. Er betrat sein Zimmer in der Stimmung eines zum Tode Verurteilten. Er überlegte sich nichts mehr und war dazu auch nicht imstande. Aber mit seinem ganzen Wesen fühlte er, daß er von nun an weder über die Freiheit seiner Vernunft noch über seinen Willen verfügte und daß nun alles endgültig besiegelt sei.

      Wenn er auch viele Jahre auf eine geeignete Gelegenheit gelauert hätte, so hätte er selbst bei einem endgültig gefaßten Entschluß kaum einen größeren Erfolg auf dem Wege zur Ausführung seines Entschlusses erzielen können als diesen, den er soeben erreicht hatte. Jedenfalls wäre es sehr schwierig gewesen, am Vorabend des entscheidenden Tages mit größerer Sicherheit und mit geringerem Risiko, ganz ohne alle gefährlichen Umfragen, festzustellen, daß die Alte, gegen die er ein Attentat plante, zur betreffenden Stunde ganz mutterseelenallein zu Hause sein würde.

      Raskolnikow erfuhr später durch Zufall, wozu die Händler Lisaweta zu sich bestellt hatten. Es war eine ganz gewöhnliche Angelegenheit. Eine zugereiste verarmte Familie wollte verschiedene Kleidungsstücke verkaufen. Da der Verkauf auf offenem Markt unvorteilhaft gewesen wäre, so suchte man eine Trödlerin. Lisaweta Iwanowna betrieb gerade solche Geschäfte und Kommissionen. Sie hatte eine große Kundschaft, denn sie war ehrlich und pflegte immer feste Preise zu machen. Sonst war sie ja sehr wortkarg und, wie schon gesagt, schüchtern und scheu.

      Raskolnikow war in der letzten Zeit abergläubisch. Spuren von Aberglauben bewahrte er auch in seinem späteren Leben. Und die ganze Sache erschien ihm sehr seltsam und geheimnisvoll, als hätte das Schicksal selbst diese Zufälligkeiten angeordnet. Im letzten Winter hatte ihm ein Student namens Pokorew vor seiner Abreise nach Charkow die Adresse der alten Aljona Iwanowna gegeben, für den Fall, wenn er etwas versetzen wolle. Lange Zeit machte er keinen Gebrauch von dieser Adresse, denn er konnte mit Stundengeben einigermaßen auskommen. Vor etwa sechs Wochen war ihm die Adresse wieder eingefallen, er hatte zwei Gegenstände zum Versetzen: eine alte silberne Uhr von seinem Vater und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten Steinchen – ein Abschiedsgeschenk von seiner Schwester. Er entschloß sich, den Ring zu versetzen; er ging zu der Alten, die ihm gleich beim ersten Blick einen unüberwindbaren Ekel einflößte, bekam von ihr zwei »Banknoten« und kehrte auf dem Heimwege in ein billiges Restaurant ein. Er bestellte sich Tee und versank in Gedanken. Aus seinem Gehirne schälte sich, wie ein Küchlein aus einem Ei, eine seltsame Idee aus, die ihn vollkommen fesselte.

      Am Nebentisch saßen ein Student, den er nicht kannte, und ein junger Offizier. Sie hatten soeben Billard gespielt und tranken Tee. Plötzlich hörte er, wie der Student dem Offizier die Adresse der alten Wucherin und Kollegienregistratorswitwe Aljona Iwanowna mitteilte. Dies fiel Raskolnikow sofort auf: er kam ja soeben von der Alten, und da hörte er gleich von ihr sprechen. Es war ja selbstverständlich reiner Zufall, aber er stand noch ganz unter dem sehr ungewöhnlichen Eindruck, den die Alte auf ihn gemacht hatte; der Student schien aber diesen Eindruck absichtlich verstärken zu wollen, denn er erzählte seinem Freund auch allerlei Details über Aljona Iwanowna.

      »Sie ist ja sehr nett,« erzählte der Student, »man bekommt von ihr immer Geld; sie ist reich wie ein Jude und kann jederzeit selbst fünftausend Rubel beschaffen, und dabei lehnt sie auch ein Pfand von einem Rubel nie ab. Viele von den Kollegen haben mit ihr zu tun. Sie ist aber ein Luder.«

      Und dann erzählte er, wie böse und eigensinnig sie sei; wenn man nur einen Tag im Verzug wäre, sei das Pfand unrettbar verloren. Sie beleihe die Gegenstände nur mit einem Viertel ihres Wertes, nehme aber fünf bis sieben Prozent Monatszinsen. Der Student erzählte noch vieles, und unter anderem auch von der Schwester der Alten; die Alte sei zwar klein und schwächlich, und doch schlage sie die Lisaweta jeden Augenblick,