Schuld und Sühne. Fjodor M. Dostojewski

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Название Schuld und Sühne
Автор произведения Fjodor M. Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174456



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es keucht, schwankt und duckt sich unter den niederprasselnden Schlägen der drei Peitschen. Die Leute im Wagen und auf der Straße lachen wie toll. Mikolka gerät in Wut und schlägt immer wahnsinniger los, als wollte er wirklich das Pferd in Galopp bringen.

      »Brüder, laßt auch mich herauf!« ruft ein Bursche aus der Zuschauermenge, der gleichfalls Appetit bekommen hat.

      »Setzt euch nur! Setzt euch alle!« schreit Mikolka. »Sie wird euch alle ziehen. Ich peitsche sie tot!« Und es regnet wieder Peitschenhiebe; in seiner Raserei weiß er nicht mehr, womit er schlagen soll.

      »Papa, Papa!« schreit der Knabe. »Papa, was tun die Leute? Papa, sie schlagen das arme Pferdchen!«

      »Gehen wir, gehen wir,« sagt der Vater, »die Betrunkenen treiben ihre Possen. Sieh nicht hin!« Er will ihn wegführen, der Knabe reißt sich aber von ihm los und läuft ganz außer sich zum Pferd. Dem armen Tier geht es schon sehr schlecht: es ringt um Atem, bleibt stehen, zieht wieder an und fällt beinahe um.

      »Peitscht sie tot!« schreit Mikolka. »Jetzt ist mir alles gleich. Ich schlage sie tot!«

      »Bist du denn kein Christenmensch?« ruft ein alter Bauer. »Du Teufel!«

      »Hat man es denn schon je gesehen, daß ein solches Pferd eine solche Last schleppen soll?« sagt ein anderer.

      »Du wirst es noch umbringen!« schreit ein dritter.

      »Ruhig! Es ist mein Gut! Was ich will, das tu ich. Setzt euch noch herauf! Alle! Ich will, daß sie Galopp läuft!«

      Plötzlich ertönt schallendes Gelächter: die Stute hält es nicht länger aus und beginnt in ihrer Wehrlosigkeit auszuschlagen. Selbst der alte Bauer lacht mit; es ist in der Tat zu lächerlich: eine solche Schindmähre wagt es noch, auszuschlagen!

      Zwei Burschen nehmen je eine Peitsche und laufen zu dem Pferd, um es von den Seiten zu schlagen, der eine rechts, der andere links.

      »Schlagt sie auf die Schnauze, auf die Augen!« schreit Mikolka. »Auf die Augen!«

      »Singt doch, Brüder!« schreit jemand im Wagen, und sofort ertönt ein ausgelassenes Lied, Schellen rasseln, beim Refrain wird gepfiffen. Das junge Weib knackt Nüsse und grinst.

      ... Der Knabe läuft neben dem Pferde her, er sieht, wie es auf die Augen, mitten auf die Augen geschlagen wird! Er weint. Sein Herz zuckt zusammen. Tränen laufen ihm aus den Augen. Ein Peitschenhieb trifft sein Gesicht, doch er fühlt ihn nicht; er ringt die Hände, er schreit, er wendet sich zu dem alten Bauer, der den Kopf schüttelt und das Ganze zu verurteilen scheint. Eine Frau nimmt ihn bei der Hand, um ihn wegzuführen, aber er reißt sich los und rennt wieder zu dem Pferd. Dieses ist schon halbtot und schlägt wieder aus.

      »Daß dich der Teufel!« schreit Mikolka voller Wut; er wirft die Peitsche weg und holt aus dem Innern des Wagens eine lange dicke Deichselstange, er ergreift sie mit beiden Händen und schwingt sie über der Stute.

      »Er bringt sie um!« rufen die Zuschauer.

      »Er schlägt sie tot!«

      »Es ist mein Gut!« Mikolka läßt die schwere Stange mit aller Wucht auf das Pferd niedersausen. Ein dumpfer Schlag ertönt.

      »Peitscht sie, peitscht! Was steht ihr da?« klingt es aus der Menge.

      Mikolka holt zu einem neuen Schlage aus, und die Stange saust wieder auf den Rücken der unglücklichen Stute nieder. Sie setzt sich auf die Hinterbeine, erhebt sich wieder und macht den letzten Versuch, den Wagen vorwärts zu ziehen, doch die Hiebe der sechs Peitschen prasseln auf sie von neuem, und die Deichsel saust zum dritten-, dann zum viertenmal nieder. Mikolka ist ganz wild, weil es ihm nicht gelungen ist, die Stute gleich beim ersten Schlag zu töten.

      »Die ist zäh!« ertönt es in der Menge.

      »Gleich fällt sie um, Brüder, gleich ist sie hin!« sagt ein Kenner.

      »Nehmt doch eine Axt! Macht rascher ein Ende!« schlägt ein dritter vor.

      »Daß dich die Mücken fressen!« brüllt Mikolka. Dann wirft er die Deichsel fort und nimmt eine schwere eiserne Brechstange. »Vorsicht!« und er läßt das Eisen mit voller Wucht auf seine arme Stute niedersausen. Das Tier taumelt, duckt sich und macht Anstalten, wieder zu ziehen, aber die Brechstange prallt ihr wieder auf den Rücken. Das Pferd stürzt, als hätte man ihm zugleich alle vier Beine entzweigeschlagen.

      »Macht ein Ende!« schreit Mikolka und springt wie toll vom Wagen. Einige betrunkene Burschen mit roten Gesichtern ergreifen, was sie gerade finden – Peitschen, Stöcke und eine Deichsel – und eilen zu der verendenden Stute. Mikolka pflanzt sich an der Seite auf und bearbeitet mit seiner Eisenstange den Rücken. Die Stute reckt ihren Kopf, seufzt schwer auf und verendet.

      »Nun hat er ihr den Garaus gemacht!« sagt jemand.

      »Warum wollte sie auch nicht Galopp laufen!«

      »Es ist mein Gut!« schreit Mikolka. Er hat noch immer die Eisenstange in der Hand, seine Augen sind blutunterlaufen. Es scheint ihm leid zu tun, daß er nun nichts zum Schlagen hat.

      »Du bist wirklich kein Christenmensch!« tönt es in der Menge.

      Der arme Knabe ist ganz außer sich. Er bahnt sich schreiend den Weg zu der Stute, er umarmt ihren toten, blutigen Kopf, küßt ihre Augen und Nüstern ... Dann springt er auf und stürzt sich, seine schwachen Hände zu Fäusten ballend, auf Mikolka. Aber in diesem Augenblick erwischt ihn endlich der Vater, er nimmt ihn auf die Arme und trägt ihn fort.

      »Papa! Warum ... haben sie ... das arme Pferdchen getötet ...« Er schluchzt, und die Worte dringen wie Schreie aus seiner Brust.

      »Es sind Betrunkene ... die machen sich einen Spaß ... uns geht es ja nichts an ... gehen wir!« sagt der Vater. Er umarmt den Vater. Er spürt eine schwere Last auf der Brust ... er will Atem holen, aufschreien und – erwacht.

      Er ist in Schweiß gebadet, seine Haare triefen von Schweiß, er atmet schwer und richtet sich entsetzt auf.

      »Gott sei Dank! Es war nur ein Traum!« sprach er zu sich. Dann setzte er sich unter dem Baume hin und holte tief Atem. »Was ist das nun eigentlich? Fiebere ich? So ein gräßlicher Traum!«

      Sein Körper war wie zerschlagen. In seiner Seele war es dunkel und öde. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände.

      »Mein Gott!« rief er aus, »werde ich nun wirklich ein Beil nehmen, werde ihr den Schädel einschlagen ... werde im warmen klebrigen Blut herumtasten. Kästen aufbrechen, stehlen und zittern und mich dann, mit Blut besudelt, zu verbergen suchen ... mit dem Beile ... Mein Gott, wird es so kommen?«

      Er zitterte wie Espenlaub, als er dies sprach.

      »Was ist nur mit mir?« fuhr er mit Erstaunen fort. »Ich habe ja gewußt, daß ich es nicht ertragen kann; warum habe ich mich bis jetzt so gequält? Gestern, ja gestern, als ich zu ihr ging, um die ... Probezu machen, war es mir ja ganz klar, daß ich es nicht über mich bringe ... Was ist nur jetzt mit mir? Wie konnte ich noch zweifeln? Als ich gestern die Treppe hinunterging, hab' ich mir ja selbst gesagt, daß es häßlich, schlecht, gemein ist ... Mir wurde ja beim bloßen Gedanken im wachen Zustandso schlecht, und ich war wie gelähmt vor Angst.

      Nein, ich ertrage es nicht, ich ertrage es nicht! Wenn in meinen Berechnungen auch gar keine Fehler enthalten sind, wenn auch alles, was ich mir in den letzten vier Wochen zurechtgelegt habe, so klar wie die Sonne, so logisch wie die Mathematik ist ... Mein Gott! Ich werde mich doch nie entschließen können! Ich werde es nicht ertragen, ich werde es nicht ertragen ... Was habe ich mir nur bisher gedacht?! ...«

      Er erhob sich, blickte erstaunt um sich, als begreife er nicht, wie er hergeraten sei. Dann schlug er den Weg zu der T–schen Brücke ein. Er war blaß, seine Augen brannten, er fühlte eine große Müdigkeit in allen Gliedern, doch er atmete viel leichter als früher. Er fühlte, daß er die schwere Last, die ihn so lange bedrückte, von sich geworfen habe, und dies gab ihm tiefen Frieden und Erleichterung. »O Herr!« betete