Schuld und Sühne. Fjodor M. Dostojewski

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Название Schuld und Sühne
Автор произведения Fjodor M. Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174456



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nach Gottes Fügung zum Besten gewendet hat, und damit Du weißt, wie sehr Dich Dunja liebt und was für ein kostbares Herz sie hat. Herr Swidrigailow hatte sie zuerst wirklich sehr grob behandelt und sich ihr gegenüber allerlei Unhöflichkeiten und Sticheleien bei Tisch erlaubt ... Ich will mich aber auf diese traurigen Einzelheiten nicht einlassen, um Dich jetzt, wo alles vorbei ist, nicht aufzuregen. Kurz, trotz des gutmütigen und vornehmen Verhaltens Marfa Petrownas, der Gattin des Herrn Swidrigailow, wie auch der ganzen Familie, hatte es Dunjetschka sehr schwer, besonders wenn Herr Swidrigailow nach seiner alten Regimentsangewohnheit unter dem Einfluß des Gottes Bacchus stand. Aber was stellte sich später heraus? Denke Dir nur: dieser Wahnsinnige hatte schon früher eine Leidenschaft zu Dunja gefaßt, verbarg sie aber immer unter der Maske von Grobheit und Verachtung. Vielleicht schämte er sich auch und entsetzte sich, als er, der doch ein bejahrter Mann und Familienvater ist, sich auf solchen leichtsinnigen Hoffnungen ertappte, und ließ darum seine Wut unwillkürlich an Dunja aus. Vielleicht wollte er auch unter dem Deckmantel seines groben Benehmens und Spottes die Wahrheit vor den andern verbergen. Zuletzt hielt er es nicht mehr aus und erfrechte sich, Dunja einen offenen und gemeinen Antrag zu machen unter der Versprechung, sie reich zu belohnen und auch alles im Stich zu lassen und mit ihr auf ein anderes Gut oder sogar ins Ausland zu ziehen. Du kannst Dir wohl alle ihre Leiden vorstellen! Sie konnte aber ihre Stellung nicht sofort aufgeben, und zwar nicht nur wegen der Geldangelegenheit, sondern auch aus Rücksicht auf Marfa Petrowna, die dadurch Verdacht schöpfen könnte, was zu einem Zerwürfnis in der Familie hätte führen können. Und auch für Dunjetschka wäre es ein Skandal; ohne einen solchen wäre es doch nicht abgelaufen. Es waren auch noch viele andere Gründe da, so daß Dunja gar nicht rechnen durfte, früher als in sechs Wochen aus diesem schrecklichen Hause herauszukommen. Du kennst natürlich Dunja und weißt, wie klug und charakterfest sie ist. Dunjetschka kann vieles ertragen und im äußersten Falle noch soviel Mut aufbringen, um nicht ihre Kraft zu verlieren. Sie hat mir nichts darüber geschrieben, um mich nicht aufzuregen; wir tauschten aber oft Briefe. Die Lösung kam sehr unerwartet. Marfa Petrowna belauschte einmal zufällig ihren Mann, wie er Dunjetschka im Garten anflehte; sie faßte aber alles falsch auf, schob die ganze Schuld auf Dunja und glaubte, sie hätte angefangen. Es kam gleich im Garten zu einer fürchterlichen Szene: Marfa Petrowna schlug sogar Dunja, wollte auf nichts hören, schrie eine ganze Stunde und gab zuletzt den Befehl, Dunja sofort zu mir in die Stadt zu bringen, in einem einfachen Bauernwagen, in den man alle ihre Sachen – Wäsche und Kleider, alles, wie es gerade lag, unverpackt und nicht zusammengelegt – hineinwarf. Da kam aber gerade ein Guß, und Dunja mußte, beleidigt und geächtet, unter strömendem Regen ganze siebzehn Werst mit dem Bauer im offenen Wagen fahren. Nun überlege Dir, was konnte ich Dir in meinem Antwortbrief auf den Deinigen, den ich vor zwei Monaten erhalten habe, schreiben? Ich war selbst verzweifelt; Dir die Wahrheit zu schreiben, wagte ich nicht, weil Du unglücklich, erbittert und empört geworden wärest; und was hättest Du auch in der Sache tun können? Du hättest Dich vielleicht zugrunderichten können, und auch Dunjetschka wollte es mir nicht erlauben; aber einen Brief mit Dummheiten füllen, wo ich im Herzen solchen Kummer hatte, das konnte ich nicht. Einen ganzen Monat lang erzählte man sich in unserer ganzen Stadt allerlei Klatsch über diese Geschichte, und es kam so weit, daß ich mit Dunja vor Tuscheln und verächtlichen Blicken nicht mal in die Kirche gehen konnte; die Leute sprachen sogar ganz laut in unsrer Gegenwart. Alle Bekannten sagten sich von uns los, alle hörten sogar auf, uns zu grüßen, und ich erfuhr aus sicherer Quelle, daß die Ladenkommis und einige Kanzlisten uns eine gemeine Beleidigung durch das Beschmieren unseres Haustores mit Teer antun wollten, so daß die Wirtsleute verlangten, daß wir die Wohnung räumen. Schuld an alledem hatte Marfa Petrowna, die es fertigbrachte, Dunja in allen Häusern zu verleumden und anzuschwärzen. Sie kennt hier alle Leute und kam in diesem Monat jeden Augenblick in die Stadt; und da sie ein wenig geschwätzig ist und gern über ihre Familienangelegenheiten spricht, mit besonderer Vorliebe aber jedem, der es hören will, über ihren Mann klagt, was doch sehr häßlich ist, so hat sie diese Geschichte in kürzester Zeit nicht nur in der Stadt, sondern auch im ganzen Landkreise ausposaunt. Ich wurde ganz krank, Dunjetschka war aber fester als ich, und Du hättest nur sehen sollen, wie sie alles trug und auch mich noch tröstete und mir Mut zusprach! Sie ist ein Engel! Doch dank der Barmherzigkeit Gottes wurden unsere Qualen abgekürzt: Herr Swidrigailow besann sich, bereute und legte, wohl aus Mitleid mit Dunja, Marfa Petrowna volle und überzeugende Beweise für die Unschuld Dunjetschkas vor, und zwar einen Brief, den Dunja, noch bevor Marfa Petrowna sie im Garten überraschte, ihm zu schreiben und einzuhändigen gezwungen war, um alle persönlichen Erklärungen und geheimen Zusammenkünfte, die er von ihr verlangte, abzulehnen, – und dieser Brief war nach Dunjetschkas Abreise in den Händen des Herrn Swidrigailow geblieben. In diesem Briefe warf sie ihm mit der glühendsten und tiefsten Entrüstung sein gemeines Benehmen gegen Marfa Petrowna vor – und erklärte ihm, wie niedrig es von ihm, einem Vater und Gatten sei, ein ohnehin schon unglückliches, wehrloses Mädchen so zu quälen und noch unglücklicher zu machen. Mit einem Wort, lieber Rodja, der Brief war so edel und rührend geschrieben, daß ich beim Lesen weinte und ihn auch jetzt nicht ohne Tränen lesen kann. Zur Rechtfertigung Dunjas kamen jetzt auch noch die Aussagen der Dienstboten hinzu, die viel mehr gesehen hatten und wußten, als es Herr Swidrigailow annahm, wie es auch immer zu gehen pflegt. Marfa Petrowna war ganz bestürzt und ›von neuem erschlagen‹, wie sie uns selbst gestand, aber völlig von der Unschuld Dunjetschkas überzeugt. Gleich am nächsten Tag, einem Sonntag, fuhr sie direkt in die Domkirche und erflehte sich von der Mutter Gottes kniefällig und unter Tränen die Kraft, diese neue Prüfung zu ertragen und ihre Pflicht zu erfüllen. Direkt aus der Kirche, ohne jemand anderen zu besuchen, kam sie zu uns, erzählte uns alles, weinte bitterlich, umarmte Dunja voller Reue und bat sie um Verzeihung. Am selben Morgen begab sie sich unverzüglich, direkt von uns in alle Häuser der Stadt und stellte überall in den schmeichelhaftesten Ausdrücken, unter Tränen, Dunjetschkas Unschuld fest und sprach vom Adel ihrer Gefühle und ihres Betragens. Und noch mehr als das: sie zeigte allen den eigenhändigen Brief Dunjetschkas an Herrn Swidrigailow, las ihn vor und ließ von ihm sogar Abschriften anfertigen (was ich sogar für überflüssig halte). So mußte sie einige Tage hintereinander alle Menschen in der Stadt aufsuchen, so daß manche sich sogar gekränkt fühlten, weil sie erst nach den anderen kamen; auf diese Weise wurde eine Reihenfolge festgesetzt, so daß man sie in jedem Hause schon im voraus erwartete, und alle Menschen wußten, daß Marfa Petrowna an dem und dem Tage dort und dort den Brief vorlesen würde; zu jeder Vorlesung versammelten sich immer neue Leute, und auch solche, die den Brief schon einige Male wie bei sich, so auch bei ihren Bekannten gehört hatten. Ich meine, daß hierbei vieles, sehr vieles überflüssig war. Aber Marfa Petrowna ist einmal so. Jedenfalls stellte sie die Ehre Dunjetschkas vollkommen wieder her, und die ganze Gemeinheit dieser Sache fiel als unverwischbare Schmach auf ihren Mann, als den Hauptschuldigen, so daß er mir sogar leid tut; man hat diesen Wahnsinnigen doch zu streng bestraft. Dunja bekam sofort mehrere Aufforderungen, in verschiedenen Häusern Unterricht zu geben, doch sie schlug es ab. Alle begannen ihr überhaupt eine besondere Achtung zu zeigen. Dies alles trug hauptsächlich zu dem unerwarteten Ereignis bei, durch das sich jetzt unser ganzes Schicksal sozusagen wendet. Wisse nun, lieber Rodja, daß ein Freier um Dunja angehalten und daß sie ihm bereits ihr Jawort gegeben hat: dies beeile ich mich, Dir mitzuteilen. Obwohl diese Sache auch ohne Deinen Ratschlag zustande gekommen ist, wirst Du wohl weder mir noch Deiner Schwester Vorwürfe machen, denn Du kannst aus der Sache selbst ersehen, daß es uns unmöglich war, zu warten und die Entscheidung bis zum Eintreffen Deiner Antwort hinauszuschieben. Auch hättest Du das alles von Petersburg aus gar nicht beurteilen können. Es kam aber so. Er ist schon Hofrat, heißt Pjotr Petrowitsch Luschin und ist ein entfernter Verwandter von Marfa Petrowna, die die ganze Sache lebhaft gefördert hat. Es fing damit an, daß er durch sie den Wunsch äußerte, unsere Bekanntschaft zu machen; dann wurde er, wie es sich ziemt, empfangen, trank bei uns Kaffee und schickte schon am nächsten Tag einen Brief, in dem er sehr höflich seinen Antrag darlegte und um eine schnelle und bestimmte Antwort ersuchte. Er ist ein vielbeschäftigter Mensch und hat die Absicht, so fort nach Petersburg zu reisen, und will keinen Augenblick verlieren. Natürlich waren wir zuerst sehr bestürzt, denn es war allzu schnell und unerwartet gekommen. Wir überlegten uns die Sache gemeinsam den ganzen Tag. Er ist ein zuverlässiger, gut versorgter Mann, bekleidet zwei Stellungen und besitzt schon ein eigenes Kapital. Allerdings ist er schon fünfundvierzig Jahre alt, aber von recht angenehmem Außern und kann noch Frauen gefallen; er