Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher

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Название Kleine Frau im Mond
Автор произведения Stefan Boucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174128



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Akten getragen hatte, und stiegen in den ersten Stock empor.

      * * *

      Die Stunden des Vormittags folgten einander in rascher Folge. Die Schnatterer war nur einmal Heil Hitler rufend reingestürmt und hatte dabei die Tür an die Wand geknallt, um die Abgabe einiger Listen bis heute 15 Uhr anzumahnen.

      »Türen müssen knallen für den Sieg«, hatte später eine der anderen Frauen gemurmelt. Die drei pflegten mit dem Mädchen keinen Kontakt. Sie kamen, schrieben, machten Pause und tippten weiter. Dann gingen sie – wohin und zu wem, niemand sprach jemals darüber. Mara hatte ihrerseits genug mit der Remington zu tun. Als sie gestern die ersten Schreibversuche unternehmen wollte, waren die Tasten zunächst nicht zu drücken, bis sie auf den Hebel an der Seite aufmerksam wurde. Wenn sie den zog, klappte es. Dies ließ sie über den Begriff »portable« nachdenken. Natürlich – transportabel. Das musste eine Reisesicherung sein, damit die Hämmerchen mit den Buchstaben sich unterwegs nicht verhakten. Mittlerweile ging es besser und auch das Band hatte sie bereits gewechselt, das Alte war eingetrocknet gewesen. Dabei hatte sie sich die Finger verschmiert und trotz Kernseife waren die dunkel geblieben.

      Der Zeiger der Uhr rückte auf die Mittagszeit zu, als laute Schritte auf dem Gang zu hören waren. Die Tür wurde aufgerissen und donnerte vernehmlich an die Wand: die Schnatterer! Ihr Blick flog durch den Raum. Alle tippten weiter, als sei nichts geschehen. Bis auf Mara. Die Büroleiterin hob ein eng beschriebenes Formular hoch.

      »Fräulein Prager, ganz wichtig. Eine Gefallenenliste der SS. Muss sofort übertragen werden und unbedingt noch heute raus. Eine Durchfertigung für den Reichsführer SS, eine ans OKW und eine geht nach Saalfeld in Thüringen.« Mit diesen Worten reichte sie ihr den Zettel, eine getippte Liste mit handschriftlichen Ergänzungen und Vermerken, die sie kaum lesen konnte, aber sie traute sich nicht zu fragen. Im Nu war die andere wieder verschwunden.

      Mara ging zu einem der Aktenschränke und zog sich das entsprechende Formblatt heraus sowie Durchschlagpapier.

      Dann setzte sie sich und war nach nur zehn Minuten fertig.

      »Entschuldigen Sie, gebe ich die Liste gleich in den Postausgang oder will Frau Schneiderer die sehen?«, fragte sie in die Runde.

      Zunächst antwortete niemand, dann erbarmte sich eine der drei Frauen, die ältere Frau Völker mit Pferdegebiss, ungefähr Mitte dreißig. Mara hatte sie vom Ansehen her eigentlich ganz nett gefunden. »Hat sie was darüber gesagt?«

      Das Mädchen runzelte die Stirn. Frau Schneiderer hatte doch laut genug gesprochen, dass es jeder gehört haben musste. »Nein, hat sie nicht«, erwiderte sie langsam und vorsichtig.

      »Eben«, kam von einer anderen Kollegin zurück und Frau Völker sekundierte: »Also.«

      Mara blieb der Mund offen. Was war das für eine Antwort? Damit konnte sie überhaupt nichts anfangen. Sollte sie Frau Schneiderer fragen? Das traute sie sich nicht. Sie verglich penibel die ursprüngliche Liste und ihre Abschrift. Alles schien zu stimmen. Auch die Schreibweise von Namen hatte sie geprüft.

      Daher stand sie auf und legte das Dokument in ein Ausgangskörbchen. Es war kurz nach zwölf, als Manfred die Tür öffnete und in die Runde frage: »Sind die Listen fertig? Der Bote kommt gleich und Frau Schneiderer will die Unterlagen sehen.«

      »Jetzt! ... Ist alles da«, sagte Frau Völker, zog ein Papier aus ihrer Maschine und hielt es dem jungen Mann hin, wobei sie ihm ein vieldeutiges Lächeln schenkte. Er nahm es, legte es in das Körbchen und griff den Stapel heraus.

      »Um 12.30 Uhr ist Pause. Hast du schon was vor?«, fragte er in Maras Richtung, linste aber auf die Maschine. Sie schüttelte den Kopf, bemerkte jedoch genau, dass die anderen drei sich gegenseitig ansahen. »Gut«, freute er sich. »Ich komme dann in zehn Minuten rüber.«

      Mara lehnte sich zurück. Sie fühlte sich hier nicht wohl. Die anderen arbeiteten nur für sich und wenn sie selber etwas fragte, reagierte niemand. Höchstens einen Blick schenkte man ihr. Doch es würde schon werden, beruhigte sie sich. Es war ja erst ihr zweiter Tag. Sie legte einen Bogen Papier ein und tippte ihren Namen. Mara. Mara Prager. Prager. Praharczyk, als abermals die Tür aufflog und die Schneiderer hereinstürmte.

      »Was habe ich gesagt, Fräulein Prager? Ich will eine saubere Liste bis heute um 15 Uhr?!«

      Sie blieb vor dem Mädchen stehen und hielt die Vordruckbögen in der Hand. Mara wusste nicht, was sie wollte.

      »Ich habe … die Liste ist doch fertig. Hier …«, sie zog die Originalliste heran, die auf ihrem Tisch lag. »Alles übertragen und korrekt.«

      »Wissen Sie eigentlich was die SS ist?«, fragte die Büroleiterin zischend.

      Mara blinzelte. Es verschlug ihr den Atem. »Habe ich was falsch …«

      »Ob Sie was falsch gemacht haben? Menschenskind? Sehen Sie sich die Liste mal an!«

      Sie las. Namen, Ränge, SS-Truppenteile, Daten. Sie verglich ihre Abschrift mit dem Original. Was sollte denn nicht stimmen?

      »Sie merken es nicht, oder? Schreibt man so ›SS‹? Soooo?«, wütend tippte die Frau immer wieder auf den Doppelbuchstaben ›SS‹ auf ihrer Kopie. Mara wusste sich nicht zu helfen und sagte gar nichts.

      »Sie wissen es also nicht. Auch gut, dann sehen Sie mal zu, wie Sie das rauskriegen. Bis 15 Uhr ist ja noch Zeit … Vielleicht fällt es Ihnen ja ein, während alle anderen Pause machen.« Frau Schneiderer warf ihr die Durchschläge auf den Tisch und verschwand.

      Es war 12.28 Uhr. Die Tür öffnete sich und Manfred merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Mara saß stocksteif, als starre sie auf eine Schlange, die Bürokolleginnen arbeiteten übereifrig wie Menschen, die gerade mit einer Sache nichts zu tun haben wollen. Langsam kam er näher.

      »Du musst die Runen benutzen, Kindchen!«, sagte eine der Frauen, doch Punkt 12.30 Uhr hörten die anderen auf und verließen das Büro.

      »Du musst noch arbeiten?«

      Mara nickte, den Tränen nahe.

      »Soll ich dir wenigstens eine Bulette holen? Mit Senf?«

      Das Mädchen senkte tonlos den Kopf und hob ihn wieder. Lebensmittelmarken hatte sie ja dabei. Manfred stellte sich hinter sie und sah auf die Tastatur. Sein Arm reichte an ihr vorbei und sie roch einen leichten Seifengeruch.

      »Siehst du? Da sind die Sig-Runen.« Er zeigte auf die Taste ›3‹. »Ich habe eine Triumph Norm, da liegen sie auf der 5, aber hier auf dieser amerikanischen Maschine … ich habe noch nie gesehen, dass sie auf der 3 liegen. Aber sei‘s drum. Wie du das schreibst weißt du? Wenn du die hier gedrückt hältst, dann …«. Er presste eine Taste nach unten und Mara ihrerseits die ›3‹ und plötzlich erschienen die gesuchten SS-Runen auf dem Papier. Ihre Finger berührten sich.

      Sie nickte stumm und stierte vor sich hin. Sie war wütend. Ärgerlich und außerdem traurig. Ein wilder emotionaler Sturm tobte durch sie. Am schlimmsten war, dass man sie behandelte wie ein dummes Kind. Hätte man sie nicht in normalem Ton darauf hinweisen können? Und ihr zeigen, wie das funktioniert? Dann wäre sie längst fertig und könnte mit Manfred eine Bulette essen. Sie hatte solchen Hunger.

      Er ging zur Tür und drehte sich um. Sagte und fragte nichts, aber Mara quälte sich ein Lächeln ab.

      Dann bearbeitete sie die Liste und war um kurz nach 13 Uhr fertig. Die anderen kamen langsam zurück, die Pause war vorbei. Mit der letzten der drei Schreiberinnen betrat auch Manfred die Stube, in der Hand eine Papiertüte. Mit einem entschuldigenden Blick in Richtung der Kolleginnen reichte er sie ihr. Als Mara zu ihrem Täschchen greifen wollte, schüttelte er den Kopf. Sollte sie ihre Bezugsscheine mal behalten. Dann ging er selber ins Nachbarbüro und schloss die Tür hinter sich.

      Schnell tippten die Frauen vor sich hin, während sie ihre Bulette aß und aufpasste, dass sie ja nicht die Unterlage oder ein Dokument beschmutzte.

      »Sie essen ganz schön laut«, murmelte eine vor sich hin und ein Kloß legte sich in