Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher

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Название Kleine Frau im Mond
Автор произведения Stefan Boucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174128



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haben. Mara ging wieder hinein. Sie verstand davon nichts und es langweilte sie. Siebzehn, siebzig, siebenhundert … sie wollte mit ihrer Arbeit schnell fertig werden und dann nach Hause. So wie sie selber, machte ihr Vater sich sicher ordentlich Sorgen.

      * * *

      Sie war eine Stunde später nicht weit die Fasanenstraße hochgelaufen, als Blockwart Kämmerlin ihr entgegenkam. Sie grüßte höflich und er nickte bloß, anscheinend war er in Gedanken. Kaum hatte sie ihn passiert, sprach er sie doch an.

      »Fräulein Prager, ich suche den Heinz. Wissen Sie, wo ich ihn finde? Ich war schon gestern bei Butzkes aber er war nicht da.«

      Sie schüttelte den Kopf. Das genügte ihm, denn er ging weiter.

      Den restlichen Weg überlegte sie, ob sie ihm hätte sagen sollen, dass sie den Jungen heute gesehen hatte. Es würde schon nicht so wichtig sein. Gegen 19 Uhr war sie zuhause und fand die Wohnung leer. Sorge keimte hoch, Vater nicht da! Hektisch dachte sie nach, als endlich Tritte auf der Treppe erklangen, seine! Freudig eilte sie zur Tür und riss sie auf. Schwer atmend stieg Bruno Prager die letzten Stufen empor, aber etwas stimmte nicht.

      »Geh rein«, herrschte er sie an. Mara erschrak. Hatte er wieder getrunken? Sie roch nichts. Er wedelte wild mit seinen Händen und drängte sich vorbei, dann schloss sie hinter ihm die Tür.

      »Wo warst du? Wo hast du dich rumgetrieben?«, platzte es aus ihm heraus.

      »Ich, ich …« begann seine Tochter, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.

      »Ich bin bis zur Hohenstaufenstraße und zurückgelaufen. Dort warst Du nicht. Jetzt bist du hier. Wo treibst du dich rum? Ich habe auch mit Herbert telefoniert. Erzähl mir nicht, dass du am Bahnhof warst.« Ihr Vater war außer sich. Speicheltropfen spritzten vor Wut aus seinem Mund. Er hatte nicht einmal den Hut abgenommen oder den Mantel ausgezogen, sondern sofort losgeschrien.

      »Ich musste länger arbeiten. Es sind wichtige Dinge fertigzuschreiben. Berlin wurde angegriffen, falls du das nicht gemerkt hast«, nahm sie ihren Mut zusammen und keifte zurück. Der Tag war hart genug gewesen und jetzt das!

      »Täglich wird Berlin angegriffen und doch kommst du sonst nicht zu spät. Mit wem sprichst du und mit wem treibst du dich rum?«

      »Mit absolut niemandem!«, rief sie verletzt und ging in ihr Zimmer, doch ihr Vater war nicht fertig.

      »Die Stelle am Fahrkartenschalter ist ehrbar. Ohne mich hättest du sie nicht bekommen und so dankst du es mir. Bei der ersten Gelegenheit suchst du dir etwas anderes. Wenn Herbert und ich …«

      »Ich kenne die Geschichten von dir und Herrn Bommel. Nur ihr zwei gegen die Franzosen im Argonnerwald …«

      »Wage es ja nicht, Witze darüber zu machen. Was Vaterlandsliebe und Einsatz von Leib und Leben angeht, davon hast du ja noch gar nichts gelernt.«

      Drohend stand er in der Tür. Ihr Zimmer war klein, die Dachschrägen taten das Übrige. Sie fühlte sich nicht bedroht, aber bedrängt und konnte sich kaum bewegen. Beleidigt aufs Bett zu fallen war ihr zu nahe an kitschigen Heftromanen, die es überall gab und die sie bislang verabscheut hatte zu lesen.

      »Ich will etwas Sinnvolles tun, Vater. In der Fahrkartenstelle … Ich reiße Papier ab. Lass es mich in der Wehrmachtauskunftstelle versuchen. Herr Bommel sagt, ich könnte jederzeit wiederkommen. Dort tue ich etwas Sinnvolles.«

      Sie setzte sich auf ihr Bett und zog eines der Bücher heran, in denen sie las. Meistens schmökerte sie in mehreren gleichzeitig.

      »Sinnvoll? Sinnvoll wie das da?« Er zeigte auf den Einband. »Hör auf zu träumen, Mara. Komm mal im Leben an. Das ist ernster als deine Schundromane und Zukunftsgeschichten. Du und deine Phantastereien …« Ehe sie es näher an sich heranziehen konnte, sprang er darauf zu, griff es und hebelte mit einer Handbewegung ihr Fenster auf, um es im hohen Bogen auf die Straße hinunter zu werfen.

      »Raaagh. Was tust du da«, schrie sie wie von Sinnen. Jetzt fühlte sie sich verletzt, zutiefst angegriffen in ihrer Seele und ihrer Leidenschaft. Das war eines ihrer wichtigsten Bücher, ihrer liebsten Bücher. Eines, das sie geistig beflügelte und beruhigte.

      Vor Wut stockte die Stimme, Tränen schossen über ihr Gesicht und sie gurgelte mehr, als dass sie sprach.

      »Das war …«, schrie sie und stürmte an ihm vorbei in den Flur und auf die Haustür zu. »Das war dein Buch. Dein Buch!!!!! Das Oberth-Buch!« Sie riss die Wohnungstür auf und rannte die Treppe herunter, vorüber an Frau Winkler, deren faltiges Gesicht sich hastig zwischen ihre Türpfosten zurückzog, so dass Mara sie nicht bemerkte.

      Eilig übersprang sie mehrere Stufen bis nach unten, vorbei an der dunkel liegenden Wohnung der Butzkes, in den Hausflur und durch die Haustür ins Freie. Die große hölzerne Jugendstiltür schlug gegen die Wand und der Glaseinsatz erzitterte, aber brach nicht. Ihre Augen waren voller Tränen, sie weinte nicht und schrie nicht, jedoch von allem. Vor allem durchwühlte sie das Gefühl, tief beschämt worden zu sein, in ihrem eigenen Zimmer durch den eigenen Vater, der zerstören wollte, was ihr Halt gab.

      Sie lief auf die im Dunkeln liegende Fasanenstraße hinaus, was durch die hohen Bäume verschlimmert wurde. Wenige Straßenlaternen spendeten spärliches Licht. Die Verdunkelung galt ab Einbruch der Dunkelheit oder auf jeden Fall bei zu befürchtendem Alarm. Die Laternen konnten ohne Vorwarnung jederzeit abgeschaltet werden. Leise wimmernd wischte sie sich die Tränen aus den Augen und versuchte, das Buch zu finden. Fest richtete sie ihre Blicke auf den Boden und bemerkt den Mann nicht, der neben ihr herlief.

      »Suchen Sie das, junge Dame?«

      Als die Anwesenheit einer anderen Person endlich in ihr Bewusstsein drang, erschrak sie. Sie atmete schwer und hustete zwischendurch. Inmitten des Schleiers aus Tränen bemerkte sie eine Hand, die einen schwarzen Einband hielt, der nahezu vollständig von weißer Schrift bedeckt war. Sie rieb sich das Gesicht trocken. Die Rakete zu den Planetenräumen.

      »Das ist meines!«, stammelte sie. Dann wanderte ihr Blick an der Gestalt hoch. Ein Mann in hellbrauner Lederjacke stand vor ihr. Um den Hals ein karierter Schal, das Gesicht spitz mit einer langen und leicht knolligen Nase. Eng stehende Augen unter einer von wuscheligen Haaren verdeckten Stirn. Er war nicht rasiert, aber er sah sie freundlich an.

      »Da, habe ich gefunden.«

      Ohne ein Wort zu sagen, entriss sie ihm das Buch und wandte sich um, zurück zum Haus. Sie presste es vor ihren Oberkörper, als sie langsam die Treppe hinauflief und sich dabei Schritt für Schritt beruhigte. In der vierten Etage fiel ihr hinter dem Milchglaseinsatz der Wohnungstür der Winklers ein Schatten auf, doch sie ignorierte die Alte.

      Oben angekommen verweilte sie für einen Moment vor ihrer eigenen Tür. Die Beine zitterten und ihr Hals tat weh. Sie fühlte sich schwach. So viel wütende Emotion auf einmal hatte sie selten gespürt. Sie nahm sich ein Herz und betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Eigentlich wollte sie in ihr Zimmer gehen und dort den Rest des Abends bleiben, aber die vollkommene Stille wunderte sie. Zunächst sah sie in die Küche rechts, dann ins Wohnzimmer. Das Schlafzimmer ihres Vaters war dunkel. Langsam öffnete sie die Tür und hörte schwache Atemzüge.

      »Paps?«, fragte sie leise. Und als sie keine Antwort bekam etwas lauter: »Paaps?«

      »Es tut mir leid, Mara. Es tut mir so leid.«

      Sie sagte nichts. Für einige lange Augenblicke hörten sich Vater und Tochter nur gegenseitig atmen.

      »Ich liebe das Buch von Hermann Oberth!«, kam es leise aus dem Dunkeln. »Als ich jung war, wollte ich auch die Sternenräume bereisen, Mara. Ich habe es gekauft gleich als es herauskam. 1923.«

      »Ich weiß, Paps.« Dann fügte sie hinzu: »Du hast mir auch aus dem Buch von Otto Willi Gail vorgelesen, als ich klein war.«

      Im Dunkeln kicherte es leise. »Du hast das Raketenauto von Max Valier geliebt, Mara. Und den Raumschiffstart, der im Buch beschrieben wird. Den musste ich immer mit Geräuschen nachspielen.«

      »Kommodore