Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher

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Название Kleine Frau im Mond
Автор произведения Stefan Boucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174128



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er vielleicht missbilligte?

      Sie zog den Formularbogen aus der Walze und passte auf, dass ihr die Durchschläge nicht verrutschten. Wegen dieses Malheurs hatte sie heute schon zweimal eine Liste neu abtippen müssen.

      »Heil Hitler«, flog die Tür auf und die Schnatterer kam rein. Ein schneller Blick ging nach links und rechts, bemerkend, dass Mara arbeitete, während die anderen sich verdünnisiert hatten.

      »Noch keine Pause, Fräulein Prager? Wenn Sie so gut wären, heute …«. Der Rest des Satzes blieb ungesagt und ging unter in dem anschwellenden Heulen der Luftschutzsirenen. Es war 12.45 Uhr. Sie rollte mit den Augen und winkte Mara nur aus dem Zimmer. Das Mädchen lief den Gang entlang und sah, dass Frau Schneiderer hinterherkam und jede Zimmertür öffnete, als könnten nicht alle die Sirene hören.

      Wie schon gestern fand sich die Belegschaft im Keller zusammen und nahm schweigend Platz. Das Dröhnen der Bombermotoren wurde zunehmend lauter. Menschen tuschelten. Sie konnte mithören, dass man sich fragte, welche Stadtteile es diesmal treffen würde. Ein immer neues Ratespiel begann. Sie reckte den Hals, aber nirgends entdeckte sie Manfred. Die dumpfen Schläge aus Richtung der Flaktürme verdeutlichten, dass die Bomberpulks jetzt schon gefährlich nahe waren. Langsam erstarben die Gespräche. Frau Schneiderer saß schräg rechts von ihr, sie war als eine der Letzten reingekommen. Stabsfeldwebel Sauerland weiter links. Vielleicht war Manfred im Haus unterwegs und woanders untergekommen?

      »Wissen Sie, wo Manfred ist?«

      Ihre Nachbarin sah sie bloß an und zuckte die Schultern. »Obergefreiter Halber«, präzisierte Mara. »Verwaltung.«

      »Natürlich kenne ich Manfred, aber ich habe keine Ahnung«, flüsterte die andere. Dann legte sie den Zeigefinger auf die Lippen und wies auf den Schriftzug an der gegenüberliegenden Wand: ›Nicht sprechen‹.

      Sie nickte tonlos und folgte ihren Gedanken.

      Ähnlich wie gestern grummelten die Motoren anhaltend über ihnen, aber diesmal hob ein dumpfes Grollen an, weit entfernt. Die Einschläge!

      »Sie zielen nicht auf Mitte«, flüsterte ihre Nachbarin. Erneut nickte Mara. Da es sonst nichts zu tun gab, blickte sie die Reihen entlang. Kein Manfred. Nach einer langen Zeit verebbte das Dröhnen und fünfundzwanzig Minuten später, um 14.34 Uhr, gab es Entwarnung. Wieder ereignete sich das gleiche Spiel wie am Vortag. Überall im Haus schellten die Telefonapparate und Frau Schneiderer gab für ihren Gang abermals die Parole aus: »Nur dienstliche Telefonate!« Doch nicht jeder hielt sich daran. Verwandte riefen an und erfragten, ob die Hohenstaufenstraße getroffen sei, und Mitarbeiter erkundigten sich nach dem Verbleib ihrer Lieben.

      Frau Schneiderer passte Mara vor ihrem Büro ab. »Was ich eben wollte, Fräulein Prager … ab Montag möchte ich Sie für die Benachrichtigung von Angehörigen einsetzen. Die Listen bleiben ihre Hauptaufgabe. Aber es gibt traurige Fälle, wo Angehörige von Volksgenossen keine ausführliche Würdigung des Kommandeurs des Gefallenen bekommen. In solchen Fällen schreiben wir einige Zeilen, die trösten sollen. Ich sage Ihnen dann noch einmal Bescheid. Aber bis dahin müssen Sie die Maschine gut beherrschen. Diese Briefe haben fehlerfrei zu sein und sie müssen trotzdem schnell erledigt werden. Alles klar? Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an die Kolleginnen oder den Obergefreiten Halber.« Sie betraten gemeinsam das Büro, die anderen nahmen keine Notiz, sondern taten beschäftigt.

      Mara nickte. »Den habe ich eben während des Alarms nicht gesehen.« Fragend sah sie die Büroleiterin an. Die schritt zu dem Nachbarbüro, öffnete die Tür und sah hinein.

      »Weiß jemand, wo Obergefreiter Halber ist?«

      Mara hörte die Antwort nicht, aber erkannte Ratlosigkeit, als die Schnatterer die Tür wieder schloss. »Nein, er ist gleich zu Beginn der Mittagspause weg und seitdem nicht aufgetaucht. Er soll es eilig gehabt haben.« Schnellen Schrittes verließ sie das Büro.

      »Was ist denn jetzt mit Manfred?«, lief sie ihr hinterher.

      »Ich muss Meldung machen. Und Sie gehen zurück an Ihren Arbeitsplatz. Sofort!«

      Sie fügte sich, das war keine Bitte gewesen. Manfred war Soldat der Wehrmachtsverwaltung. Wenn so jemand aus einer Pause nicht zurückkam, konnte das vieles bedeuten, insbesondere nach einem Luftangriff: Desertion, Sabotage, Unfall, Fahnenflucht, Tod …

      Mit wachsender Unruhe setzte sie sich wieder hin und tippte weiter Listen ab, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Mit hochrotem Kopf und schweißnassen Haaren stand Manfred draußen und winkte sie zu sich. Unfreundlich sahen die anderen Frauen ihn an, aber sagten nichts. »Ist dienstlich«, nuschelte er in deren Richtung und Mara begab sich zu ihm auf den Gang. Vorsichtig schloss er die Tür.

      »Hier«, reichte er ihr einen Umschlag. »Das habe ich dir mitgebracht.«

      Überrascht und ein wenig argwöhnisch griff sie zu und zog ein Heft heraus.

      »Jan Mayen, Nummer 96 Der grüne Tod«, las sie halblaut vor. »Manfred … wie …«

      Doch er schüttelte den Kopf. »Erzähl ich dir später. Ich bin kurz nach Hause gelaufen, aber als ich zurück wollte begann der Alarm und dann saß ich fest.«

      »Aber jetzt bist du hier!«, stieß Mara hervor. Und seine nassen Haare … er musste gerannt sein. Für sie?!

      »Ja, jetzt bin ich hier. Aber noch was. Der Luftangriff war schwer, sehr schwer. Ich habe es von einem Luftschutzwart erfahren. Getroffen wurden Lichtenberg, Zehlendorf und … Lichterfelde. Lichterfelde besonders.« Maras Herz krampfte sich zusammen. Er holte tief Luft. »Lichterfelde, Mara. Ist da nicht das Stellwerk deines Vaters?«

      »Ich … ich … glaube schon …«, ihre Gedanken rasten. Natürlich war Lichterfelde nicht gerade klein. Es wird ja nicht unbedingt ... In dieser Situation hätte sie kaum ihr Geburtsdatum aufsagen können. »Etwas außerhalb, aber wo genau …«

      »Arbeite weiter. Alles wird gut werden. Ich versuche etwas in Erfahrung zu bringen, denn es sollen ganz besonders Transportwege angegriffen worden sein. Und Wohngebiete.«

      »Nein«, hauchte sie und mit aufkeimender Panik dachte sie an gestern. Sollte ausgerechnet ein solcher Streit ihr letzter gemeinsamer Abend gewesen sein?

      Manfred erkannte ihre bebende Unterlippe und rieb beschwichtigend ihren Oberarm. Sie schaute auf seine Finger auf dem dünnen Stoff ihrer Bluse. Sie waren warm und schlank.

      »Ich muss weg!« Er löste sich.

      Sie nickte und ging ebenfalls zurück in ihr Büro.

      Zaghaft legte sie den Umschlag links neben die Schreibmaschine.

      »Pausen sind für die Pausen da«, sagte eine der Kolleginnen zu den anderen, so spitz und ironisch, dass klar war, wen sie meinte.

      Mara schluckte ihre Wut und ihre Angst herunter. Sie konnte sich vor Furcht um ihren Vater ohnehin nicht konzentrieren. Diese Ironie, diese unterschwellige Geringschätzung. Mara war so aufgewühlt, am liebsten hätte sie ihre Schreibmaschine nach denen geworfen, aber dafür war die gute Remington dann doch zu schade. Der Gedanke ließ sie sogar fast lächeln. Bis zum Dienstende hatte die Angst wieder vollends überhandgenommen. Manfred schien vor der Tür zu warten, sie rannte trotzdem, so schnell sie konnte, nach Hause. Die Nacht brach herein, als sie die Fasanenstraße erreichte. Es verblieben etwa einhundert Meter bis zur Hausnummer 59. Sie war immer schon flink, aber heute flog sie nahezu die Stufen des Treppenhauses hinauf, ihre Finger zitterten, als sie den Schlüssel in die Wohnungstür steckte und drehte und die kühle und dunkle Wohnung betrat.

      »Papa?«, vorsichtig ging sie durch die Räume. Sie war alleine. »Paps?«, fragte sie trotzdem immer wieder. Die Wanduhr zeigte 18.19 Uhr. Mara fühlte sich verwirrt. Vater war schon fort gewesen heute früh, er hätte also um 14 Uhr Feierabend haben müssen, wenn er nicht länger arbeitete. Eigentlich machte er das nicht, ohne ihr vorher was zu sagen. Ihre Finger zitterten. Sie warf ihre Tasche auf ihr Bett und kehrte zurück ins Treppenhaus. Es war still, sie hörte nur ihren hektischen Atem. Dann lief sie ein Stockwerk tiefer und klingelte bei den Winklers. Trotzdem sie einen Schatten hinter der Tür schnell