Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher

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Название Kleine Frau im Mond
Автор произведения Stefan Boucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174128



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      »Personalveränderungsmitteilungen«, sagte Mara gedehnt mit einer Mischung aus Bewunderung und unterbewusster Ablehnung.

      Frau Schneiderer öffnete die Tür und dahinterstehend, als hätte er gewartet, erschien Stabsfeldwebel Sauerland. Er grüßte zackig und stellte sich vor. Er war schlank. Größer als sie selber, und Mara war nicht klein, 1.72 Meter. Er mochte Mitte bis Ende dreißig sein und hatte eine leicht schiefe Nase, als sei er einst Boxer gewesen. Sie machte einen Knicks.

      »Gefällt es Ihnen hier?«, fragte er unvermittelt.

      »Ehm ...«, brachte sie nur hervor.

      »Sie erleben uns in Auflösung. Dieser Standort hier ist längst an zwei Orte in Thüringen verlegt. Prinz-Louis-Kaserne in Saalfeld und Drachenburg-Kaserne in Meiningen. Dort befindet sich die Verwaltungsspitze mit den Referatsleitungen. Wir sind das Nachkommando. Wir räumen hier nur noch auf und empfangen, was fehlgeleitet wurde an Akten oder Personenstandsmappen oder verspätet aufgefunden eintrudelt. Im Herbst werden wir aber auch umgezogen sein.« Er lachte. »Oder der Endsieg kommt früher.«

      »Und ich soll hier Schreibarbeiten erledigen?«

      »Richtig aufgefasst«, nickte der Abteilungsleiter. »Meldungen empfangen, aufnehmen, Listen führen, Listen weiterleiten und in dringenden Fällen auch mal einen Brief schreiben. Vielleicht nicht schwierig, aber wichtig. Hinter jeder Liste und jedem Brief stecken Menschen. Das dürfen Sie nicht vergessen.«

      »Sie fangen sofort an. Die Arbeitszeiten und Pausen erfahren Sie von den Bürokolleginnen.« Frau Schneiderer nickte und Mara verstand. Damit konnte sie fertig werden.

      * * *

      Müdigkeit und Erregung spielten ineinander und sie wusste nicht, wohin in ihrer Aufregung, als sie um 19 Uhr endlich die Dienststelle verließ. Vater würde schon zuhause sein, aber sie wollte Isolde zuerst davon erzählen. Was für eine Nachricht, die sie zu berichten hatte, wo sonst nie etwas in ihrem Leben passierte! Und die Freundin wohnte in der Regensburger Straße, ein Katzensprung von hier aus! Bloß zweimal ums Eck. Sie lief wieder heimwärts. Nicht die Nachodstraße entlang, sondern nordwärts, die Münchener Straße hoch. Dann an der nächsten Kreuzung links und bald stünde sie bei ihr vor der Tür.

      Die Luft ließ einen kühlen Abend erwarten, einige Leute waren unterwegs und sogar ein paar Autos, alles schien normal. In den Wohnungen brannte Licht. Die meisten saßen wohl beim Abendbrot oder waren auf dem Weg dorthin. Umso merkwürdiger erschien ihr der Mann mittleren Alters, der ihr kurz vor der Kreuzung Münchener / Regensburger Straße hastigen Schrittes entgegeneilte und sich sogar den Hut festhielt, als würde es jeden Moment beginnen zu stürmen. Den Blick fest auf die kommende Hausecke gerichtet lief sie weiter und dachte sich nichts dabei, bis die elegante Dame mit dem Kinderwagen auftauchte. Ein klobiger weißer Wagen aus Korb, sicherlich schwer. Sie kannte das Modell von Familienbildern. Die Eltern hatten sie mit einem solchen Wägelchen einst spazieren gefahren. Diese Mutter aber rannte! Die Achsen quietschten, als die Frau mit starrem Blick an ihr vorbei nach Süden jagte.

      Das Mädchen sah ihr einen Moment hinterher. Dann bog sie um die Ecke und machte die ersten Schritte in die Regensburger Straße hinein. Nun wurde sie langsamer. Eine Irritation bemächtigte sich ihrer, eine Unsicherheit, ein äußerst ungewöhnliches Gefühl. Eigentlich war alles wie immer. Isolde wohnte schräg gegenüber und so trat sie auf die Straße hinaus. Es kam kein Auto, so musste sie nicht vorsichtig sein. Doch sie sah auch keinen Menschen. Gar niemanden. Weder straßauf noch straßab. Und sollten nicht wenigstens manche Fenster erleuchtet sein? Aber nichts, als wäre nicht einer zuhause, nirgendwo. Nur ein Auto parkte in einiger Entfernung. Unbelebt, ohne Licht. Eine Szene wie in einer dieser phantastischen Geschichten, wo alle Erdlinge vom Antlitz der Welt verschwunden sind.

      Kaum ein Dutzend Meter und sie stünde bei Isolde vor der Tür. Aber dieses Gefühl der Einsamkeit war besonders, so außerweltlich. Wurde intensiv wie dichter Nebel – die Füße setzten sich immer langsamer voreinander, mitten auf der Straße. Etwas kratzte auf der gegenüberliegenden Seite und ein Mann bewegte sich im Schatten der Häuser. Anscheinend normal, gemessenen Schrittes, aber irgendwie leicht geduckt, als folge er der Silhouette der Gebäude, deren Umrisse sich auf das Straßenpflaster malten. Auf der Höhe einer Litfaßsäule verharrte er und betrat dann entschlossen die Straße. Etwas klirrte in seiner Hand. Ein Hausschlüssel. Es existierte also doch noch jemand außer ihr und das Gefühl des besonderen Momentes schmolz wie Zuckerwatte auf der Zunge. Zögerlich ging sie weiter. Sie fühlte schon den Treppenabsatz unter ihren Füßen und den Klingelknopf von Isoldes Familienwohnung, als nahezu zeitgleich Autotüren schlugen, Männerstimmen riefen und Schuhsohlen auf die Pflastersteine trampelten.

      »Zugriff. Stehenbleiben. Halt!« Mehrere Stimmen bellten durcheinander und plötzlich schrie jemand um Hilfe. Einmal, zweimal. Bis Mara sich umgedreht hatte, war alles vorbei. Zwei groß gewachsene Männer nahmen einen älteren Herrn in ihre Mitte, der ein wenig zappelte und sich wand, dann aber erschlaffte wie eine führerlose Marionette. Als wenn nichts wäre, schleppten sie ihn mit. Er verlor einen Schuh dabei, niemand kehrte um, den zu holen. Es war egal. Erst jetzt begann ihr Herz zu rasen, der Atem ging schneller, als man den zusammengesackten Herrn widerstandslos auf die Rückbank verfrachtete. Als das Auto an ihr vorüberfuhr, weiter geradeaus in Richtung Mitte und ohne jede Eile, waren kaum drei Minuten vergangen. Regungslos blickte sie den Schuh an. Er schien elegant, wenn auch sicher nicht neu. Sie spürte nicht, wie ihre Hand den rauen Putz der Hauswand rauf und runter glitt. Sie dachte nur an diesen einzelnen Schuh. Ein persönlicher Gegenstand, vielleicht einmal freudig ausgesucht und gekauft. Heute früh angezogen und niemand würde wohl vermutet haben, dass er am Abend des gleichen Tages alleine auf der Regensburger Straße liegen bliebe. Ohne das Gegenstück.

      Ein Licht ging an in dem Haus gegenüber. Wenige Sekunden später ein weiteres in der Wohnung darüber. Dann hier und dort.

      Beinahe gleichzeitig senkte sich eine Hand auf ihre linke Schulter und schmale, lange Finger legten sich über ihre Augen.

      »Wer bin ich?«, flüsterte eine Stimme dunkel und Mara erschrak. Hastig sah sie sich um. Vor ihr stand Isolde, in einem bequemen Hauskleid. Sie lächelte neugierig. »Was treibt dich denn hierher? Das ist ja ne Wolke.«

      Das Mädchen quietschte verschreckt und atmete schwer. Dann löste sie sich aus dem Hauseingang und rannte nach Hause. Isolde sah ihr irritiert hinterher.

      Mittwoch, 8. März 1944

      Aufgerissene Augen starrten in die tiefe Schwärze der Nacht. Vor lauter Aufregung hatte sie schon kaum in den Schlaf gefunden, permanent dachte sie an die Ereignisse des Tages. Die Dienststelle, viele neue Personen, letztlich die Verhaftung und wie peinlich es war, einfach abgehauen zu sein. Was musste Isolde nun denken? Ein Gedanke rief den nächsten hervor, als ein langsam anschwellender Alarmton die hauchzarten Wolken ersten Schlummers verscheuchte und gut einstudierte Verhaltensweisen hervorrief. Hastig griff sie im Dunkeln nach ihrem Uniformmantel und einem stets gepackten kleinen Koffer. Dann lief Mara auf den Flur und rüttelte an der Schlafzimmertür ihres Vaters. Von drinnen hörte sie nur undeutliches Gemaule.

      »Paps, aufwachen. Es ist Alarm!«, rief sie und stand schon neben seinem Bett. »Los, wir müssen runter.«

      Langsam rappelte er sich hoch. Er hatte wieder getrunken, das war deutlich zu riechen. Unablässig zerrte sie an seinem rechten Arm.

      »Jetzt lass mich schon«, schnauzte er sie urplötzlich an. »Ich bin nicht taub und aufstehen kann ich alleine!« Erschrocken wich sie zurück. Licht zu machen war verboten, die Vorhänge aufziehen? Das wollte sie lieber nicht. Sie wartete, während Vater raschelte und nestelte.

      »Hörst Du?«, fragte er im Dunkeln mit schwerer Stimme. Der Heulton sägte durch die Nacht.

      »Den Alarm? Natürlich«, sie verstand nicht.

      »Das ist eine Luftwarnung, kein Alarm. Sonst würden wir doch längst was hören.«

      Sie konzentrierte sich. Nein, ein Brummen der schweren Motoren von Bomberverbänden war da