Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher

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Название Kleine Frau im Mond
Автор произведения Stefan Boucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174128



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wiederholte er.

      »Ich verzeihe dir«, antwortete sie. »Natürlich tue ich das. Und ich nehme ernst, was du geleistet hast, Paps. Und immer noch leistest. Und deine Sorgen um mich.«

      »Danke, Kind«, drang es aus dem Dunkel. »Ich weiß oft nicht weiter, Mara. Henni fehlt mir so.«

      Sie räusperte sich. »Mir fehlt Mama auch.« Einen Moment dachte sie nach, dann zog sie seine Tür zu. »Gute Nacht, Paps.«

      Sie löschte das Licht im Flur und hörte im Radio noch die Nachrichten. Die östlichen und südlichen Außenbezirke der Stadt waren getroffen worden, so wie sie es gleich heute Nachmittag in der Dienststelle erfahren hatte. Über Verluste lagen keine Informationen vor, aber die Zerstörungen sollten zahlreich sein. Außerdem meldetet der schwedische Rundfunk, dass seit Kriegsbeginn siebenundsechzig ausländische Kampfflugzeuge zur Landung gezwungen worden waren, da sie den Luftraum des Landes verletzt hatten, und in Wales waren Bergarbeiter in den Streik getreten. Teilnahmslos schaltete sie den Volksempfänger aus. Dann drehte sie das Buch von Hermann Oberth in den Händen. Auf der Rückseite, unten rechts, hatte es einen Schlag bekommen und dadurch war die Bindung ein wenig lädiert, aber ansonsten schien es intakt. Ein kleines Wunder, fand sie. Sie blätterte durch die Seiten und schloss immer wieder die Augen, bis sie merkte, dass sie einschlief. Den Band auf den Tisch legend ging sie Zähne putzen und dann zu Bett. Der Tag war ausgesprochen anstrengend gewesen und hatte leider turbulent geendet.

      Als sie schon schlief, schlich ein Schatten zu ihrer angelehnten Zimmertür und schob sie leicht auf.

      Ihr Vater beobachtete sie in dem spärlichen Licht, das durch einen Spalt in das Zimmer fiel, weil sie den Vorhang nicht richtig zugezogen hatte. Als er merkte, dass sie eingeschlafen war, ging auch er zu Bett. So hatte er es fast jede Nacht getan, seit Henni gestorben war.

      Donnerstag, 9. März 1944

      Manfred war ihr bereits aufgefallen, noch bevor er die Nachodstraße erreicht hatte. Er kam heute die Prager Straße herauf, obwohl das doch für ihn ein Umweg sein musste. Genoss er die Einsamkeit der Straßen zu dieser frühen Morgenstunde oder legte er es darauf an, sie länger zu begleiten? Mara winkte, er schien überrascht, aber irgendetwas ließ sie spüren, dass er seine Überraschung nur spielte. Lächelnd wartete er auf sie, der Tag war noch gar nicht richtig angebrochen und das Dämmerlicht warf Schatten unter seine dicken Brillengläser.

      »Guten Morgen«, grüßte sie ihn. Heute früh war sie mit leichten Bauchschmerzen aufgewacht. Spätfolgen der Aufregung gestern. Ihr Vater war da schon längst zur Frühschicht aufgebrochen.

      Manfred nickte freundlich.

      »Ich lese gerne die Weltraumromane von Otto Willi Gail«, sagte sie unvermittelt. »Und manchmal Hans Dominik. Früher habe ich Walther Kabel gelesen und mich sogar an Thea von Harbou versucht. Das war mir aber zu schräg. Gerade lese ich im Oberth.«

      Manfred blieb stehen. Sie sah ihn überrascht an. »Du wolltest doch gestern wissen, ob ich lese. Ich lese Gail …«

      »Das ist toll«, sagte er schnell, um die Wiederholung zu unterbrechen. »Ich hätte niemals geglaubt, dass du so etwas liest.«

      »Was dachtest du denn? Liebesromane?«

      Langsam schlenderten sie weiter und bogen in die Hohenstaufenstraße ein.

      »Nein, weiß ich nicht. Ich hätte mit allem gerechnet, aber … Na, und ganz bestimmt nicht mit Oberth. Gail schon eher.«

      »Weil Gail für das Volk schreibt?«

      »Ja«, rief Manfred aus. »Natürlich. Das ist wichtig. Gerade die Weltraumbücher. Der Breslauer Raketenverein hat soviel getan dafür, dass man die Raketenluftfahrt ernst nimmt. Nicht nur die Visionäre.«

      »Finde ich auch.«

      »Aber du bist noch so jung. Wie …«

      »Mein Vater. Er liest auch so etwas!«

      »Dein Vater? Erstaunlich. Ist er in der Rüstung?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Nein, bei der Bahn. So wie ich vorher. Er führt ein kleines Stellwerk in Lichterfelde, oder eher außerhalb. Auf dem platten Land. Ganz hübsch, umgeben von Birken. Und …«, sie hob wichtig ihren Zeigefinger, wie ihr Vater das gerne tat, »… seit ´42 mit einem Schutzraum unterkellert!«

      »Oho«, sagte Manfred und warf seine Stirn in Falten. Mara konnte sich gut vorstellen, was dahinter vor sich ging. Wie kam ein kleiner Bahnbeamter dazu, über Weltraumphysik zu lesen? »Und deine Mutter?«

      Maras Miene trübte sich ein. »Sie ist tot. Schon lange. Seit sieben Jahren.«

      Er schwieg betroffen. Eigentlich wollte er mehr fragen, aber sie waren an der Dienststelle angelangt und er mochte ein solches Thema nicht anreißen und dann unvollendet lassen. Daher holte er Luft.

      »Ich mag Jan Mayen. Die Geschichten des deutschen Abenteurers, der auf der ganzen Welt das Böse bekämpft.«

      »Die Serie kenne ich auch. Aber die gibt es doch gar nicht mehr?!«, war sie verwundert.

      »Stimmt, aber ich kenne einen Trödler am Schlesischen Bahnhof, der hat manchmal welche. Wenn man weiß, wie.« Er lachte.

      Mara lachte zurück. »Ach, und du weißt wohl wie

      Er grinste. »Er haust in einem der Kellerläden. Weißt du, einer von denen, zu denen man über enge Treppen hinabsteigen muss wie in ein Verlies.«

      »Kenne ich. Also, nicht diesen Laden. Aber Läden wie diesen.«

      »Ja, man muss immer warten, bis wenig los ist und dann bekommt man was man will. Oder man gibt eine Bestellung auf. Das mache ich seit ich ein Kind bin.«

      »Das ist aber teuer, auf Bestellung. Oder?«

      »Früher, als ich jung war, habe ich mit einem Hufeisenmagneten Münzen aus Lüftungsschächten gesammelt. Und wenn kein Magnet zur Hand war dann mit einer Stange, an die ich einen Löffel gebunden hatte.« Beide lachten.

      Mara stellte sich das vor und hielt sich den Bauch. Die Leibschmerzen waren verschwunden, die Spannung hatte sich gelöst.

      »Besonders gut sind auch die alten Hefte der Kolonial- oder der Erlebnisbücherei. Die sind seltener. Aber er tauscht sie im Verhältnis von 1:3 gegen Hefte aus der Kriegsbücherei der deutschen Jugend.«

      »Ja, die sind doof«, pflichtete sie ihm bei, obwohl sie nur zwei Ausgaben davon gelesen hatte. Aber die waren weder spannend und erst recht nicht phantasievoll. Da boten die Kolonialgeschichten schon mehr Exotik.

      Mittlerweile stiegen sie die enge Turmtreppe hinauf und kamen an ihren Büros an.

      »Halt dich tapfer«, raunte er ihr zu und seine Augen zwinkerten freundlich hinter den Brillengläsern. »Und wenn du nicht weiter weißt, denke dir einen Vorwand aus, um rüberzukommen. Dann kannst du mich fragen. Die drei Grazien bei dir … ich werde nicht warm mit denen.«

      »Ach wirklich. Man glaubt es kaum«, sagte Mara nur und spürte einen leichten Anflug von schlechter Laune bei dem Gedanken an ihre Bürogemeinschaft. Bis eben war es ihr gut gegangen.

      Sie verabschiedeten sich und betraten ihre Büros.

      Mara hängte ihren Mantel auf und setzte sich an ihre Remington. Auf ihrem Tisch lagen Dutzende von Listen, darauf ein handschriftlicher Vermerk: ›Heute!‹ Innerlich seufzte sie, aber der Blick auf die Remington heiterte sie fast wieder auf. Sie ging zu dem Formularschrank und zog die notwendigen Vorlagen heraus. Dann begann sie zu tippen. Mit der ersten Berührung der runden Tasten und dem mittlerweile vertrauten Druck des Randes gegen ihre Fingerkuppen wuchs das Gefühl, die Dinge bewältigen zu können und eigenverantwortlich zu sein.

      Mara hatte den ganzen Vormittag über mit ihren Listen zu tun und keine Gelegenheit gehabt, überhaupt an eine Unterbrechung zu denken. Die drei Kolleginnen waren wortkarg wie immer und als sie wie auf ein