Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher

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Название Kleine Frau im Mond
Автор произведения Stefan Boucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174128



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gewesen, da rummste es kurz in den östlichen Stadtbezirken.

      Gestern nach dem Dienst hatte Mara Herrn Darburg das Heft gebracht. Er war nett wie immer, aber wieder in ein Gespräch vertieft, mit einem Offizier von der SS. Der kaufte ein Magazin, das Herr Darburg von hinten geholt hatte. Schnell war es in einem Papierumschlag verschwunden und unsichtbar geblieben. Der alte Mann hatte ihr zugenickt. Sie klemmte die »Woche« bloß in den Ständer und ging nach Hause.

      Heute Morgen war sie viel zu früh auf den Beinen. Zur Hohenstaufenstraße konnte sie laufen, aber sie wollte sich Zeit lassen und wartete an der Bushaltestelle. Die Straßen waren nass von dem nächtlichen Regen, mittlerweile waren die Wolken weitergezogen.

      Eben im Hausflur hatte sie ein Gespräch angehört zwischen Frau Winkler und der jungen Bibliothekarin Lenore Carius. Die Schrapnelle war vorlaut gewesen wie immer. Der Kukill, das Schwein, sei am Ende, blaffte sie. Der Endsieg nahe. So habe es der Führer befohlen – und so müsse es also auch geschehen. Mara hatte überlegt, dass der englische Führer eigentlich Churchill hieß, aber sie sagte nichts, sondern eilte an den Nachbarinnen vorbei und zur Bushaltestelle. Sie fürchtete sich ein wenig vor der, ihr fühlte sie sich nicht gewachsen. Die Alte redete schnell und scharf und spitz drauflos und war meistens schon drei Ecken weiter, bis Mara eine logische Erwiderung auf irgendeine Anklage einfiel – und mit ebensolcher Münze wollte sie es ihr auch nicht zurückzahlen. Also kümmerte sie sich lieber erst gar nicht um sie. ›Halt dich raus, dann kommste nicht rein‹, sagte ihr Vater immer.

      Die Bibliothekarin hatte ebenso geschimpft. Sie mache sich Sorgen um Deutschland, aber Frau Winkler hatte nur gelacht. Der Führer habe doch wahrhaft fantastische Waffen zu entwickeln befohlen. Ingenieur Martens im Haus täte ja den ganzen Tag nichts anderes, als für den Endsieg zu arbeiten. Die Untermieterin solle nur beruhigt sein. Sie jedenfalls wüsste aus sicherer Quelle, dass bald Gefrierbomben zum Einsatz kommen würden. Diese brächten eine unglaubliche Zerstörungskraft über alle Feinde des Reiches.

      Als sie auf den Bus wartete, versuchte Mara sich das vorzustellen. Waren Frost und Kälte nicht das Gegenteil von Explosion und Verbrennen? Wie würde das funktionieren? Eine Gefrierbombe? Wenn sie ein Raketenluftschiff steuerte und eine solche Bombe abwürfe, was würde passieren? Während die Winklersche sich dabei in immer tollere Szenarien hineingesteigert hatte, sah Mara an ihrer Haltestelle vor dem inneren Auge bloß einen platzenden Eisblock. Dann kam der Bus in Sicht und trotzdem ging sie zu Fuß. Der wäre doch fast sofort dort. Außerdem musste sie nachdenken, was man sie in ihrem Vorstellungsgespräch fragen könnte und was sie antworten wollte.

      Sie lief die leere Straße entlang. Wie sich das Gesicht einer Stadt veränderte, wenn man sich ihr zu Fuß hingab. Die mehrstöckigen Wohnhäuser hatte sie zurückgelassen, hier gab es Geschäfte und Büros. Häuser aus dem letzten Jahrhundert und das Abwasserpumpwerk, das man schon von weitem wittern konnte. Hin und wieder fuhr ein Bus, sonst herrschte kein Verkehr. Sämtliche Fahrzeuge waren für kriegswichtige Aufgaben requiriert. Privatwagen gab es nicht mehr. Außer für Ärzte. Ansonsten war jedes Auto ein Dienstfahrzeug. Interessiert spähte sie in alles hinein, was an ihr vorbeifuhr, aber sie konnte wenig erkennen. Doch, es waren stets Männer. Kaum jemand in Uniform, man trug zivil oder Lederkleidung.

      Die Straßen waren fast wie ausgestorben. Die Erhöhung der persönlichen Arbeitsleistung hielt die Menschen an ihren Arbeitsplätzen fest. Jeder musste seinen Mann oder seine Frau stehen an einer der unzähligen Fronten: Der Arbeitsfront, der Versorgungsfront, der Abfallfront … Sie hatte ihre Arbeitskarte dabei und trotz allem ihre Reichsbahnuniform angezogen. Die Jacke konnte sie ja schnell ausziehen, drunter trug sie einen Wollpullover und eine weiße Bluse. Falls es bei der neuen Dienststelle doch nicht klappte, würde sie gleich weiter fahren zu ihrem Bahnhof. Fräulein Hanisch hin oder her. Aber dann sollte Vorsteher Bommel ihr trotzdem die Stunden auf der Karte abzeichnen.

      Vor sich erkannte sie das hohe Backsteingebäude der Hausnummer 47/48 mit den kleinen Türmchen an den Seiten. Das musste die Wehrmachtauskunftstelle sein. Aufmerksam musterte sie die Umgebung. Vor der Tür standen zwei Soldaten in Uniform und rauchten. Ein dritter kam mit Akten aus dem Eingang am Fuße eines der Türmchen und lud sie in einen Wagen, einen Horch 830. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern und schien etwas älter zu sein als die anderen beiden. Einer der Raucher sprang hinzu und hielt ihm die Tür auf.

      Als Mara den Bau erreicht hatte, blieb sie unschlüssig stehen, denn sie erkannte zwei Eingänge – diesen hier und etwa zwanzig Meter entfernt einen weiteren, neben einer hohen Durchfahrt. Wo musste sie hin?

      »Guten Morgen, werte Dame«, sagte ein hübscher blonder Kerl. Ein Gefreiter, wie sie unschwer an den Schulterklappen erkennen konnte. Er schnippte die Zigarette weg. »Kann ich behilflich sein?« Er wechselte belustigte Blicke mit den anderen: Ein wunderhübsches junges rothaariges Ding in Reichsbahnuniform … hier?! Man würde ihr schon zu helfen wissen, wenn sie sich verlaufen hatte.

      »Ich will zu Kriegsverwaltungsrat Schülke. Wo finde ich ihn?«, bemühte sie sich um einen dienstbeflissenen und neutralen Ton.

      »So lobe ich mir die Bahn, wa?«, lachte der Türaufhalter und trat zu ihnen. »Räder müssen rollen für den Sieg! Und wenn keine Gleise da sind, kommt die Bahn höchstpersönlich, wa?«

      Der Dritte blieb stehen, jetzt mit leeren Händen.

      Mara zog die Stirn in Falten. Sie verstand nicht.

      »Vielleicht hat sie die Elektrische verpasst?«, lästerte der Blonde, eher belustigt als zynisch.

      »Ah«, dämmerte es ihr. »Ja, die Uniform. Bei der Bahn arbeite ich normalerweise, aber ich soll hier aushelfen.«

      »Bei uns? Hier? Ist das auch richtig?«, wunderte sich der ältere Soldat mit den dicken Brillengläsern, er sah die anderen an und die zuckten die Schultern. Ein Obergefreiter! Er hatte hohe Wangenknochen. Mara fand, er sah irgendwie indianisch aus.

      »Kriegsverwaltungsrat Schülke … wo finde ich ihn?«, wollte sie das Gespräch beenden. »Muss ich hier rein oder«, sie zeigte die Straße entlang, »da hinten rein?«

      »Eigentlich da hinten«, meinte der Brillenträger. »Durch den Durchgang über den Hof. Aber wir können auch die Abkürzung nehmen.« Mit diesen Worten ließ er sie vorausgehen. Sie stieg auf den Absatz hinauf, um das Gebäude zu betreten. Sie spürte, dass die beiden anderen ihr nachsahen.

      »Warten Sie, ich gehe vor«, überholte der Soldat mit der Brille sie. »Ich bin Obergefreiter Halber, Manfred. Ich arbeite hier. Die anderen beiden transportieren nur Akten.«

      Transportiert haben Sie die selbst, Herr Obergefreiter, dachte sie bei sich, aber ließ es ungesagt.

      Er führte sie auf einen langen und schmucklosen Gang im Erdgeschoss, zu dessen Seiten nackte Holztüren abgingen, hinter denen Büros lagen. Gedämpft drang das Geklapper von Schreibmaschinen zu ihnen.

      »Ich glaube aber, das muss ein Missverständnis gewesen sein«, sagte der junge Mann. »Kriegsverwaltungsrat Schülke ist gar nicht hier. Sind Sie sicher, dass Sie zu ihm wollen?«

      Es war still in dem Gebäude, bis auf das Tippen bimmelte nur hin und wieder ein Telefon.

      »Mein Chef, Stationsvorsteher Herbert Bommel, hat mir gesagt, dass ich hierherkommen soll. Und ich soll mich bei ihm melden.«

      »Hmm«, machte Manfred nur. Dann nochmal: »Hmmm.« Er bedeutete ihr, zu warten. Alleine lief er ein paar Meter weiter und betrat ein Büro, aus dem er nach wenigen Augenblicken wieder herauskam und zog die Schultern in die Höhe. Als er den überraschten Gesichtsausdruck des Mädchens sah, erklärte er ihr die Situation.

      »Hauptmann Parzinger hat gesagt, er wäre informiert. Mit ihm wird Ihr Chef wohl gesprochen haben. Sie sollen zu uns in die Schreibstube kommen und sich dort erst einmal einarbeiten. Hier geht’s entlang.«

      »Oh? Ab sofort?« Sie muss entgeistert ausgesehen haben, denn der andere lachte und zog die Schultern hoch. Er ging vor und nahm den nächsten Treppenaufgang.

      Oben wartete er, bis sie nachgekommen war. »Unsere Dienststelle befindet sich schon seit Ende August in Thüringen. Wir