Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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finden. Alles wie im Film.

      Die Speditionsleute rauchten "Reval", und "Genußraucher" waren das wohl kaum. Der Fahrer fuhr noch kurz beim Krankenhaus vorbei, seine Frau, etwas Ernstes, soweit ich noch weiß; er fand die richtige Ausfahrt nicht und fuhr stundenlang durch ein Sperrgebiet. Er hätte Soltau nehmen müssen, so wie ich in zweieinhalb Wochen. Unsinn, ich nehme wie üblich Südstadt, das ist zum einen der kürzeste Weg, und zum andern, wen interessiert's?...

      - "In den Wendbergen": so stand's auf der Wanderkarte; den Wendenern aber war's unbekannt. Die gingen meist auf dem "Platz" in den "Busch", den Wald im militärischen Sperrgebiet auf dem Truppenübungsplatz Munster Nord.

      Am 1. Oktober, im Einzugschaos, drohte mir wegen eines Widerworts mein Vater die letzte Ohrfeige an. Das war gegenüber einem Dreizehnjährigen – und somit einem Jugendlichen – schon geradezu beleidigend.

      - Zum Schuhwerk: von "Salamander" meist; dort gab's beim Kauf ein "Lurchi"-Heft, und am liebsten Schuhe aus schwarzem Lack, möglichst mit hohem, "richtigem" Absatz und vorne so spitz, wie's nur ging; nicht diese mattbraunen Alltagsschuhe mit diesem fließenden Übergang, obgleich es wegen des hohen Spanns schon damals nicht so einfach war, einen Schuh zu finden, der mir gefiel und dann auch noch paßte und dann noch als Paar. – Die "Stanwell"-Werbung, ein Mann und zwei Frauen, und mir in den frühen sechziger Jahren so legitim wie wenige Jahre später die holländische Homoehe.

      - Der Lieferwagen einer Brotfabrik, der in einer Linkskurve nahe der Schule eines Morgens die halbe Ladung verlor, und die Schüler johlend die Brote sammelten; ich warf meines wieder fort und wußte nicht, was nun die größere Sünde war, das Wegwerfen oder der Diebstahl. – Die kinderreiche Familie im Hessischen, '63, '64; die hatten, ich denke, Entenküken, die fütterte ich mit Schafgarbe mal, die kannte aber der Vater nicht, genuschelt kann ich noch gar nicht haben, und dachte, ich hätte den Entenküken irgend etwas Scharfes gegeben und wußte nicht, wie er nun gucken sollte, was er jetzt fragen, sagen sollte; zum Glück stand noch genug herum, ich rupfte ein paar Stengel ab, zeigte sie vor, und dann war das geklärt; er hätte sich trotzdem entschuldigen können, und am besten mit einem Lob. – Ich hatte immer nur Sparschweine aus Plastik, weil man da das Geld wieder rausbekam, ohne das Sparschwein "schlachten" zu müssen. – Der Holländer mit dem Ami-Kombi, der in der Aula eine Indianer- und Tierschau präsentierte und uns seine Boa streicheln ließ. – Der Tischgrill, der eher garte als bräunte und folglich keinen Krebs erzeugte; meistens, nein, eigentlich immer nur Buletten mit Schinken- und Käsescheiben, und diese auch halbwegs kroß; keine Ahnung, wie das beim Parasol, und dann auch noch paniert, geriet, und ob dieser menschenfreundliche Grill der Ratschlag einer Glaubensschwester oder gar Bruder Mayens war.

      - Der Jahreswechsel 69/70; mindestens bis Mitternacht mit meiner einzigen Spielkameradin allein in unserer Wohnung. Irgendwann knipste sie das Licht aus, ich befürchtete Arges und knipste es nach ein paar Minuten wieder an, doch ob ich mit meiner Befürchtung... fragen kann ich sie heute leider nicht mehr; wir waren derselbe Jahrgang, und auch diese Frage muß hier und heute ohne eine Antwort bleiben, die Frage, warum sie, die Ehefrau und Mutter, und nicht ihr alter Spielkamerad...

      Frühsommer '70, ein Gruga-Ausflug des Ruhrstädter Schrebergartenvereins; nur die Männer, vielleicht eine Vatertagstour. Ein Kalbsschnitzel, groß wie ein Parasol, dazu sechs dicke Spargelstangen; acht Mark, gewiß, das war schon Geld, doch für solch einen Luxus noch preiswert, und ich liebte ja nun mal den Luxus, das, was selten und folglich edel war. Als am frühen Abend dann die Gärtner noch was zu besprechen, vielleicht auch nur zu "begießen" hatten (mein Vater hat in der Gartengemeinschaft vorzugsweise die Beete begossen; ich habe ihn weder dort noch sonst auch nur einmal richtig betrunken erlebt), lief ich die Tramschienen auf und ab, dort schon im Eisenbahn-Schotterbett. Das war nicht die übliche Sonntagsdepression. Das war etwas Fremdes, Undefinierbares, fremd und undefinierbar wie so vieles in diesem Schwellenjahr 1970.

      - Und sei es das tägliche Taschengeld von immerhin 50 Pfennigen jetzt. Am Schalter der Ruhrstädter Stadtsparkasse 50 kanadische Silbercent und ein druckfrisches britisches Pfund gekauft; das stand damals bei über neun Mark.

      - Dampflokrauch, Drehkrümelseife, 4711: der klassische Sechziger-Schnellzug-Duft, noch heute ab und an zu finden im badischen Regional-Express, vom einstigen Paradepferd, der 110, gezogen. Urlaubsreise für Urlaubsreise zerrte ich im Zug meinen Vater vom vordersten zum hintersten Faltenbalg und hoffte, daß keine Abschlußblende die Sicht auf Lok oder Strecke versperrt. – Immer "vorwärts Fensterplatz" und trotzdem der Blick zurück. Mal erschienen mir Kriminelle ganz grundsätzlich geisteskrank, mal entsetzte ich meine Mutter mit der amoralischen These, man dürfe (nur?) deshalb kein Verbrecher werden, weil man ja schließlich erwischt werden könnte.

      - Die Schule des Lebens: Eine Frau aus der weiteren Nachbarschaft mit einem – weißen? – Karmann Ghia, das nur für kurze Zeit produzierte kantige, feminine Modell – , sprach von einer "Elite", was meine Mutter daheim in Rage brachte. "Elite" – das mußte sie mir erst mal erklären, auch wenn ich mich nicht mehr erinnern kann, wie sie es mir erklärte dann, war's doch in diesem meinem Fall problematischer noch als die "Wollust", zumal in diesem meinem Fall das eine doch das andere... – Die Frau aus der weiteren Nachbarschaft meinte freilich die lüsternen Oberschüler. – Was ging die das überhaupt an? Ihr Karmann gefiel mir sehr.

      - Panierte Parasolpilze, köstlich wie Kalbsschnitzel... Letztes Jahr fand ich oben am Schafberg, meinem Hausberg quasi direkt vor der Tür, zwei ausgesprochen schöne. Roh waren sie frisch und nussig und fest, paniert gebraten aber waren sie zäh, und es blieb ein bitterer Nachgeschmack. – Zumal beim Parasolpilzschnitzel der eigentliche Wohlgeschmack ja eh nur die Panade ist, ein Wort, das nach Bratfett und Bierhumpen klingt, nach "Ich will das mit dem Adolf nicht schönreden, aber...", nach Frauen, die sämige Sättigungssoßen erst klumpig und dann pampig rührn, nach "das macht man so" und "das darf man nicht", nach Männern, denen "Geschlechtsverkehr" wohl niemals etwas Besseres war als die allgemein übliche Bürgermelange aus Notdurft und Gewalt.

      - Als ob nicht auch ich mein Bier aus Humpen, und jetzt zum Kaffee ein Stück Quark mit Sahne... das kam ja erst Ende der Siebziger auf; mir war's anfangs zu bourgeois. Doch längst schon gehört die Sahne zum Quark wie früher nur zum Obstblechkuchen, nur fehlt mir für eine entsprechende Torte hier schlichtweg die passende Form. – C & A hat seine Feinrippslips aus dem Leibwäschesortiment genommen; mein Altbestand ist schon löchrig und mürbe wie ein historischer Faltenbalg, ich brauche jetzt wirklich dringend neue und denke nicht im Traum daran, diese Boxershorts mir zuzulegen; da wollen die Betreiber dieses Modehauses für jedermann praktizierende Katholiken sein, und verkaufen statt Feinripp Lederstrings für die Hauslederfrau und den Hausledermann...

      Nach 35 Jahren die erste Wiederholung von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Ich wußte noch die Namen der Hauptdarsteller, und daß Tom ein Mädchen namens Becky liebte und Becky dunkelhaarig war; von der Handlung hingegen fast alles vergessen, und freilich auch Mark Twains Kritik an der US-amerikanischen Frömmigkeit. Und trotzdem, elf hin, Präferenzen her: wieso war mir Huck bei weitem zu männlich – und Tom ganz fraglos mein Favorit, und das nun bei Verhaltensweisen, die mir schon damals gänzlich fremd und auch keinesfalls erstrebenswert?...

      Schräg gegenüber das Brahmshaus. "Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt": so spielte es schon die Spieluhr ab im Spielzeugherz meiner Nichte. Was aber, wenn Gott nicht? Gut, ich weiß, daß beides unlogisch ist, der Willkürgott wie die Frage. Und doch, ob nun Baden-Baden, Maximilianstraße 85 oder Baden-Baden, Maximilianstraße 81: "Wir haben hie keine bleibende Statt". Und Kalb ist mir schlichtweg zu teuer.

      4. Gesang: Open country joy. Laissez tous les enfants boogie. Dr. HuK & his Medicine Show.

      Niemals hatte ich einen "feuchten Traum". Jan hatte gar die Behauptung aufgestellt, niemals masturbiert zu haben; das hätte er (der Schwarm aller Frauen) schlichtweg niemals nötig gehabt. Vielleicht hatte er sogar recht.

      - Und der