Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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ja, beglückwünschend fragen, ob das meine Freundin sei. Das alles war nicht meine Idee, doch wie konnte es überhaupt so weit und wir uns derart nahe kommen und somit zu dieser "Heimsuchung" jetzt? Und dann zog sie in der Wohnung ihre Schuhe aus, die ist asozial, die baden doch nicht, die waschen sich nicht, die wechseln auch ihre Wäsche nicht; nun, meine Furcht war unbegründet, und doch, allein die Möglichkeit, und dann noch bei einem Mädchen...

      In den Heidetaler Ferienhäusern endlich mal ein Junge in meinem Alter; der hatte sich auf der Liegewiese sein kleines Einmannzelt aufgebaut. Da schaute ich ab und an mal vorbei, wenn ich nicht gerade Pilze suchte oder oben in der Kiesgrube Steine. Nun wollte er mit mir Doktor spielen, und freilich, ich ahnte es: Frauenarzt, und legte sich auf die Luftmatratze, meiner Untersuchung harrend. Zum Glück, wie ich damals der Meinung war, schaute just in diesem Moment sein Vater bei diesem Zelt vorbei, dem ich sogleich berichten mußte, und freilich entsprechend moralisch entrüstet, was denn sein Sohn da vorhatte nun. Wie dieser sich dann gerechtfertigt hat, ist mir komplett entfallen. Und sicher, gewiß, der Vater verbot's, aber so, wie man, sagen wir, Süßes verbietet, und selbst das erst nach längerem Zögern.

      - War die Ferienfreundschaft damit beendet, sein Einmannzelt tabu? – Nein, so heftig dann auch wieder nicht, doch bleibt die Erinnerung vage. Überall Hundertfünfundsiebziger. Das wußt ich ja nun, was das heißt...

      Ebenfalls in diesem Sommer eine seltsame psychosomatische Störung, die auch heute noch auftreten kann: man sieht nur einen Ausschnitt scharf; das Drumherum bleibt schemenhaft. Hängt vielleicht mit der "richtigen", der organischen Fehlsichtigkeit zusammen. In der Karlsruher Sauna sagte mal einer, ich hätt schöne blaue Augen. In Berlin meinte einer, ich hätte schöne... nun, auch das ein Kompliment.

      - Nadelbänder um die Oberarme. Die sollten ihre Lektion schon lernen, die Strolche, wie meine Mutter sagte, daß man sich nicht an Schwächeren vergreift. Ein Vertreter konnte meine Eltern überreden, mich für einen Judo-Kurs anzumelden, damit ich mich endlich wehren kann. Ich wurde in letzter Minute zur Bodenturn-Gruppe umgemeldet, ich kann mich an die Kerzenübung erinnern und an einen Mitturner, der Roger hieß und deutsch ausgesprochen wurde und daß ich mit ihm nicht sonderlich klarkam und er wohl auch nicht mit mir.

      - Februar/März '68; für eine Woche nach Kamp-Lintfort ins Schullandheim auf dem Dachsberg. Mit dem Herbergsvater hämmerten wir Aschenbecher aus einer kleinen Aluminiumscheibe. Nicht wenige Jungen nutzten die Tage, im Schnellkurs das Verliebtsein zu üben. Einige waren schon älter, "Sitzenbleiber", wie man sagte; die rochen unangenehm erwachsen, hatten schon Haare untenrum und wußten bestimmt, was "Ficken" bedeutet, das Wort, das man immer häufiger jetzt, etwa an Bushäuschen, finden konnte. Ich verguckte mich, wenn auch nicht allzu heftig, in eine mit Haaren so kurz wie ein Bub und fragte, ob sie nicht meine Freundin... – Nicht wegen mangelnder Sympathie; ich war ihr einfach "zu dick".

      Am Bahndamm ein Discountgeschäft, ein "Großhandel", wie man sagte; ein ehemaliger Luftschutzbunker, steile Treppen, schmale Geländer, fahles Neonröhrenlicht, das leckere Lakritzkonfekt und die nicht minder leckeren "Katzenpfötchen", vielleicht sogar ein "Mars" oder "Nuts" oder wenigstens doch ein "Milky Way". Und zitierte ich bei Tisch Tick, Trick und Track – "Lobe immer den Koch, ganz gleich, wie's geschmeckt hat" - , so war's freilich nur ein Scherz.

      Im Schullandheim Etagenbetten. Einmal fand ich tatsächlich den Mut, auf ein freies Bett nach oben zu klettern, mit diesem Klaus aus der Nachbarschaft zu tun, was wir abends in meinem Bett dann nur allzugern wiederholten; keine Ahnung, was die anderen...

      - Waren die alle vom Lessingplatz? Mag sein, aber was hieß das schon groß, höchstens, daß man nicht verprügelt wurde. Mit einem von denen hatte ich trotzdem mitunter nicht geringe Probleme, der wohnte da, wo die Heißmangel war, seine Mutter litt an Tetanus; die Leute sagten, sie habe sich beim Kartoffelschälen infiziert, ein winziger Schnitt, noch nicht mal geblutet, und gerade ja das ihr Verhängnis. Ich war mal mit meiner Mutter bei ihr wegen irgend so einer Rauferei und bewunderte ihren Palisanderschrank, obgleich Palisander doch eher Protz als wirklich Stil verkörpern tat, im Gegensatz zu unserem praktischen und damals modernen Wohnkleiderschrank von '67 mit Sapeli-Furnier, das sieht so wie Mahagoni aus und muß, wenn ich's so von der Seite betrachte, dringend mal wieder gereinigt werden, vor allem vom Nikotin, das gute, treue Stück, das im Gegensatz zu seinem heutigen Besitzer... – Eines Nachmittags fielen sie über mich her und drückten mich auf mein Bett, zogen mir die Hosen runter und fummelten dann da rum. Das war unangenehm und ungehörig, doch längst nicht so schlimm wie die Sache mit dem Zahn. Warum nun aber auch dieser Klaus, der doch eigentlich mein Freund sein wollte... – und trotzdem, das war nun nicht etwa das Ende unsrer erotischen Zweisamkeit, jedenfalls nicht im Schullandheim. Außerdem wußte ich nur zu gut, daß ich hier nicht so ganz unschuldig war, daß es zu diesem Übergriff kam. Wer vor Unbeteiligten Dinge tut, die vor solchen eher unüblich sind, der sollte sich nicht wundern, wenn diese das dann mißverstehn; in der Sauna sind die Regeln weit klarer. Doch solange nur alle die Klappe halten... – und nochmals: es gab Schlimmeres.

      Auf der Ruhr, vielleicht war's auch bloß ein Kanal, trieben Industrieabwässer wie der Fichtennadelschaum im Samstagsbad. Der Alltag hätte also wieder beginnen können, wenn nicht... ja, wenn nicht einer vom Zimmer, einer der "Täter" noch zudem, der Wahnidee verfallen wäre, die ganze Geschichte seinen Eltern zu beichten, ohne nun freilich sich selbst zu belasten.

      - Die ganze, also samt Vorgeschichte? Darüber wurde nie ein Wort verloren. Leute aus der weiteren Nachbarschaft; seine Mutter erzählte es meiner Mutter beim Samstagseinkauf am Lessingplatz. Schon im Flur wurde ich zur Rede gestellt. Ich senkte den Blick und fühlte mich... schuldig? Mein Vater schwieg bis zum Mittagessen, dann wurde er, wie ich's nicht kannte, laut, und schlug mit der Faust auf den Küchentisch, als wollte er sagen, nun ist's aber gut, das sind doch schließlich nur Jungs. Ich aber spielte das Opfer jetzt und zitierte und mit gebotener Abscheu einen Witz, den dieser Verräter erzählte, mit Stock und Wischmop irgendwas, und sie lachten, bevor dann auch sie sich empörten, meiner Empörung recht zu geben. Dieser Klaus aber, das war der Schlimmste von allen, doch hatten sie's mir ja schon immer gesagt, halte dich besser fern von dem, das ist kein guter Umgang für dich, schon gar nicht in den Tagen von Kolle und Dutschke und Bartsch und wie sie alle heißen mochten...

      - Keine Schulprügel, keine Sanktionen. Episödchen, Anekdötchen, und ich stand dumm in der Gegend herum mitsamt meiner Mineraliensammlung, wenn einer fragte, was willst du mal werden. Nun... wäre das Corpus delicti so groß wie mein Gedächtnis – ich hätte die besten Chancen auf einen Dauerplatz im Guiness-Buch. Träfe hingegen die Umkehrung zu... – das wäre ja fast schon Alzheimer dann...

      - Egal, verwirrt war ich so oder so; ich glaubte dem Opel Kadett meines Schwagers die angezeigten 160 Stundenkilometer. Ich mochte die Schweiz, und weil ich sie mochte, mußte sie sozialistisch sein. Die Kurzwellenspalte in der "Hör Zu" wies auf einen Wettbewerb der kubanischen Regierung hin; ein Aufsatz mit maximal 500 Wörtern zur Bedeutung der kubanischen Revolution für die Völker Lateinamerikas. Erster Preis war eine Reise nach Kuba. Ich schrieb mit annähernd 500 Wörtern, daß die kubanische Revolution den Völkern Lateinamerikas das Glück des Sozialismus gebracht. Wie konnte ich nur den mir wohlbekannten brasilianischen Faschismus vergessen? Die folterten, wie ich inzwischen wußte, ihre Opfer sogar an den Geschlechtsorganen.

      - "Der weiß doch gar nicht, wo die Glocken hängen": eine dort übliche Redensart, die meine Mutter übernommen hatte, wenn sie in meiner Gegenwart mit meiner Schwester über intime Dinge sprach. Erst als deren wachsende Rundung nicht mehr zu übersehen war, klärten sie mich über diese auf (und freilich nur über den Sachverhalt), und waren erleichtert, daß sie's nicht mußten, weil ich's natürlich längst wußte.

      Die Endstufe der schulischen Sexualaufklärung ein paar Tage vor Kamp-Lintfort: Zündschlüssel rein, doch nicht rum. Warten, bis es rieselt? – Noch '70 ging ich davon aus, daß Sperma etwas Körniges sei, so ähnlich wie Gemüsesamen; da wollte ich am Anfang der schulischen Aufklärung meinem Vater bei einer Gemüseaussaat mein Schulwissen nicht verschweigen, daß auch die Tiere Samen haben. Er ging nicht weiter