Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt. Yvonne Tschipke

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Название Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt
Автор произведения Yvonne Tschipke
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783738006094



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Und doch fragte sie sich in dem Moment, als sie die Küche betrat, was wohl Nina jetzt tat.

      „Da bist du ja. Warst wohl wieder den ganzen Tag drüben bei den Drachenfelsen? Bei dem Wetter!“, meinte die Frau lächelnd und goss Tee in eine Tasse. Tara setzte sich auf den einzigen freien Stuhl. Ihr gegenüber saß ein Junge, er war etwa in ihrem Alter. Seine halblangen braunen Haare, die ihm irgendwie ständig wieder ins Gesicht fielen, verdeckten seine Augen. Doch als er sie mit den Fingern zur Seite strich – was er so ungefähr aller zwei Minuten tat – kamen lustige kastanienbraune Augen zum Vorschein. Er sah hübsch aus, bemerkte Tara und sie beschlich ein eigenartig vertrautes Gefühl, was den Jungen betraf. So, als würde sie ihn schon ihr ganzes Leben lang kennen.

      „Möchtest du Tee, Josia?“, fragte die Frau. Der Junge nickte und hielt der Frau seine Tasse entgegen.

      „Verbrenn dir nicht den Mund, Bruderherz“, meinte Tara – und wunderte sich schon im nächsten Augenblick darüber. Doch Josia schien ihr wirklich vertraut zu sein. Es war, als würden in Taras Brust zwei Herzen schlagen. Erklären konnte sich das das Mädchen im Moment allerdings nicht.

      Auf dem Stuhl neben Tara saß ein Mann. Er war etwa in dem gleichen Alter wie die Frau. Seine kurzen braunen Haare waren an manchen Stellen schon von feinen silbernen Fäden durchzogen. „Wie war es in der Schule?“, fragte er die beiden Kinder, während er sich sein Brot dick mit Käse belegte. Er blickte auf und sah die beiden Kinder abwechselnd mit seinen wunderschönen blauen Augen, die Tara an einen hellen Sommertag am Meer erinnerten. Josia und Tara sahen ihn grinsend an und antworteten gleichzeitig: „Wie immer, Papa!“

      Später am Abend, als Tara in dem gemütlichen Zimmer - ihrem Zimmer - war, kam Stück für Stück die Erinnerung an das was vor der Hütte war zurück. Sie saß auf ihrem Bett und starrte auf die gläserne Tür.

      Was war eigentlich passiert? Wieso kam es ihr so vor, als würde sie schon ihr ganzes Leben lang hier in diesem Haus, mit diesen Eltern, mit diesem Bruder leben?

      Und wieso war sie für ihre Eltern und Josia nur einen einzigen Nachmittag lang weg gewesen, obwohl sie doch anscheinend schon seit 13 Jahren „da draußen“ gelebt hatte - zusammen mit anderen Eltern, zusammen mit anderen Menschen? Und weshalb erinnerte sie sich gerade jetzt hier in ihrem Zimmer an das alte Leben da draußen? Langsam stand sie auf und schlich zur Tür. Ihre Nasenspitze stieß an das kühle Glas, als sie nach draußen in die Dunkelheit starrte und versuchte, etwas zu erkennen. Aber alles, was sie sah, waren die schwarzen Umrisse der Bäume.

      „Es ist kein Traum, glaube mir. Alles, was du denkst, fühlst und siehst, ist wirklich. Wichtig ist nur, dass du deinem Herzen folgst.“

      Tara hatte nicht bemerkt, dass ihre Mutter ins Zimmer gekommen war. Marie stand hinter ihr und legte ihre Arme um Taras Schultern. „Aber wie ist das möglich?“, fragte das Mädchen.

      Marie drehte Tara zu sich herum, legte ihr die rechte Hand auf das Herz und antwortete: „Es ist dein Herz. Und all die Wünsche, die du da drin mit dir herum trägst. Nur deshalb konntest du zurückkehren.“ „Und warum kann ich mich nur hier oben in meinem Zimmer an mein anderes Leben da draußen erinnern?“, wollte Tara wissen. „Ganz einfach. Die Tür ist ein Portal in eine – in deine – andere Welt. Du hast nur einen Ausflug dorthin unternommen“, antwortete Marie. Tara sah sie verwundert an. „Nur einen Ausflug? Es kommt mir so vor, als wäre ich mein ganzes Leben lang weg gewesen.“ Tara schüttelte verwirrt den Kopf. „Oder auch nicht“, fügte sie leise hinzu. Sie wusste im Moment selbst nicht mehr, was Wirklichkeit und was Traum war.

      Marie nahm Tara bei der Hand und zog sie mit sich nach draußen auf den Flur. Sie gingen an zwei Türen vorbei. Eine gehörte zum Badezimmer, das wusste Tara. Die daneben war der Eingang zu Josias Zimmer, auch das wusste Tara. Ganz hinten, am Ende des langen Flures, war noch eine Tür. Das Zimmer der Eltern. Marie öffnete sie und schob Tara sanft hinein.

      Dieses Zimmer kam Tara genauso bekannt und vertraut vor, wie der Rest des Hauses. Marie ging zielsicher auf die Wand zu, die über die gesamte Breite mit einer roten langen Gardine verhangen war. Mit einem kräftigen Schwung zog sie diese zurück und es kamen zwei gläserne Türen zum Vorschein. Tara ging auf die Türen zu und drückte auch hier ihre Nase gegen das kühle Glas. Doch sie konnte nichts weiter erkennen als schwarze Schatten von irgendetwas, das da draußen stand. „Ihr auch? Ihr habt auch solche Portale?“ Tara sah ihre Mutter mit großen Augen an.

      Marie nickte. „Ja, wir auch.“

      Sie nahm Tara bei der Hand und führte sie aus dem Zimmer, den Gang entlang bis zu Josias Zimmer. Sie klopfte leise. „Kommt rein“, rief der Junge. Marie öffnete die Tür. Josia saß auf seinem Bett und schmökerte in einem Buch. Verlegen sah Tara sich um. Ja, auch das Zimmer war ihr vertraut. Aber warum eigentlich? Tausend Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum, wie beim Schleudergang in der Waschmaschine. Marie fragte: „Josia, zeigst du Tara deine Tür?“ „Klar, doch“, antwortete der Junge, schob sich vom Bett und lief zur Wand gegenüber. Er zog die Jalousie nach oben und zum Vorschein kam ebenfalls eine gläserne Tür. „Et voilà – ma porte“, meinte er mit einer theatralischen Verbeugung und grinste das Mädchen spitzbübisch an. Tara musste unwillkürlich lächeln. Josia war echt ein Kasper. Aber genau das mochte sie an ihm.

      „Okay“, meinte sie trotzdem, „das war alles ein bisschen viel heute. Ich würde jetzt gerne schlafen gehen. Ich bin etwas müde und – verwirrt.“

      Marie lächelte. „Schon gut, Tara. Das ging uns allen nicht anders, als wir zum ersten Mal nach einer für uns sehr langen Zeit wieder hier waren. Morgen sieht es schon anders aus, glaube mir.“

      Kapitel 9

      Marie hatte Recht.

      Am anderen Morgen, als Tara erwachte, sah sie zwar gleich zur Portaltür, doch das eigenartige Gefühl, das sie noch am vorhergehenden Abend dabei beschlichen hatte, war verschwunden. Obwohl die Erinnerung an das Leben da draußen noch immer in ihrem Kopf steckte.

      Aber sie fühlte sich ausgeruht – so gut wie in der vergangenen Nacht hatte sie schon lange nicht mehr geschlafen. Die friedliche Stille, die sich über das ganze Haus gelegt hatte, bereitete Tara ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit, das im Augenblick ihr Herz ganz und gar ausfüllte.

      Tara schob sich aus dem Bett. Noch einmal, wie schon so oft am vergangenen Abend, schnupperte sie an der kunterbunten Bettwäsche. Der frische saubere Blütenduft ließ ihr Herz ein Stück höher hüpfen. Kein Traum, so viel stand fest.

      Sie ging hinüber zum Kleiderschrank. Langsam öffnete sie die Tür und ließ ihre Augen über die ordentlichen bunten Stapel von frisch gewaschener Wäsche gleiten. Wie lange hatte sie sich genau das gewünscht – oder hatte sie es einfach nur vermisst?

      Es dauert einige Zeit, bis Tara sich für ein Outfit entschieden hatte. Immer wieder drehte sie sich vor dem großen Spiegel hin und her, und besah sich von allen Seiten. So viele verschiedene Sachen – die ihr noch dazu wie angegossen passten - hatte sie in ihrem anderen Leben nicht besessen. Ihre Mitschüler da draußen würden staunen, wenn sie sie so sehen könnten, dachte sie lächelnd vor Glück. Schließlich entschied sie sich für eine enge dunkle Jeans und ein lilafarbenes T-Shirt.

      Als Tara einige Zeit später vor der Küchentür stand, hörte sie, wie ihre Mutter zu irgendeinem Lied, das gerade im Radio lief, mitsang. Maries klare helle Stimme verzauberte sie auf der Stelle. Und ihr wurde mit einem Mal klar, von wem sie ihr eigenes Gesangstalent eigentlich „geerbt“ hatte.

      Tara wagte nicht, die Tür zu öffnen, so schön fand sie das Lied und Maries Gesang. Das tat Josia für sie, der plötzlich hinter ihr stand. „Tara, was ist los, ich habe Hunger“, sagte er, schob Tara zur Seite und stürmte in die Küche. „Morgen, Mama“, meinte er, während er sich schon an den Tisch setzte und sich dabei schon mal ein Brötchen aus dem Korb angelte. Tara kam langsam hinterher. Sie staunte wie ein Kind am Heiligen Abend beim Betreten des Weihnachtszimmers, als sie den liebevoll gedeckten Tisch erblickte. Es gab frische Brötchen und Kakao, Erdbeermarmelade, Apfelgelee und Nougatcreme. In der Mitte brannte eine Kerze. In einer Vase