Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt. Yvonne Tschipke

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Название Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt
Автор произведения Yvonne Tschipke
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783738006094



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einmal. Als sie wieder keine Antwort bekam, drückte sie vorsichtig die Klinke herunter und öffnete die Tür. Das Mädchen sah sich um, doch sie konnte Josia nirgends entdecken. Tara schaute hinter die Tür, ob er sich vielleicht dort versteckt hielt, weil er seiner Schwester einen Streich spielen wollte. Das würde ihm ähnlich sehen. Doch Josia steckte auch nicht hinter der Tür.

      Komisch, dachte Tara, sie hätte schwören können, dass er vorhin ganz sicher geradewegs in sein Zimmer gegangen war. Er konnte sich doch unmöglich in Luft aufgelöst haben. Oder war er etwa ...?

      Tara hatte diesen Gedanken noch gar nicht zu Ende gedacht, da wusste sie bereits, dass sie mit ihrer vagen Vermutung richtig gelegen hatte. Denn genau in diesem Augenblick öffnete sich Josias Portal und der Junge stand in seinem Zimmer.

      Ja, klar – dass das Tara nicht sofort aufgefallen war – die Jalousie war nach oben gezogen.

      Josia putzte sich gedankenverloren Staub von den Händen und der Hose, als er plötzlich in seiner Bewegung erstarrte, als hätte ein Eissturm über ihm getobt.

      „TARA!“, schrie er. Es klang wie eine Mischung aus Erschrecken und Wut. Genau so sah er seine Schwester auch an. Seine freundlichen Kastanienaugen wirkten plötzlich so kalt wie Eiswürfel aus Cola. Tara kroch ein unangenehmer Schauer über den Rücken. So hatte sie Josia noch nie erlebt.

      Er sprang auf Tara zu, packte sie grob am Handgelenk und drängte sie durch die noch immer geöffnete Tür aus seinem Zimmer hinaus auf den Flur.

      „Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst mein Zimmer nicht betreten, wenn ich dich nicht darum bitte oder es dir erlaube!“, zischte er wütend.

      „Aber ... ich ... habe ... doch ... geklopft. Zweimal“, stotterte Tara völlig durcheinander. „Ich wusste doch, dass du in dein Zimmer gegangen bist.“

      „Aber ich habe dich nicht herein gebeten – ist das so?!“ Josias Stimme klang unverändert hart.

      Tara nickte zögernd. „Ich konnte doch nicht ahnen, dass ...“, flüsterte sie, doch dann riss sie sich los, drehte sich um und stürzte in ihr Zimmer. Das heftige Knallen der Tür war höchstwahrscheinlich noch in der übernächsten Stadt deutlich zu hören.

      Wutschnaubend stand Josia im Flur, doch als er sich ein paar Minuten später etwas beruhigt hatte, tat es ihm schrecklich leid, dass er seine Schwester so angeschrien hatte. Sicher hatte sie es nicht böse gemeint, überlegte er.

      Vorsichtig öffnete Josia die Tür zu Taras Zimmer. Er sah, dass seine Schwester bäuchlings auf ihrem Bett lag. Ihre Schultern zuckten im Rhythmus der leisen gedämpften Schluchzer, die er hören konnte.

      Auf Zehenspitzen schlich Josia zum Bett, setzte sich auf die Kante und legte Tara zögerlich die Hand auf den Rücken. Tara zuckte leicht zusammen; sie hatte nicht gehört, dass jemand ins Zimmer gekommen war. Doch sie drehte sich nicht um, sie wusste auch so, dass es nur ihr Bruder sein konnte.

      „Alles in Ordnung bei euch da oben?“, schallte Maries Stimme durch das Haus. Sie hatte das Knallen der Tür bis hinunter in den Garten gehört.

      „Ja, alles okay, Mama“, erwiderte Josia. Ihre Mutter musste von dem Streit nichts wissen – und von dem Grund dafür erst recht nicht.

      „Tara“, flüsterte er. „Tara, es tut mir leid. Bitte hör auf zu weinen.“ Er streichelte ihr über das dichte Haar. „Bitte, bitte Tara. Es tut mir wirklich leid.“

      Langsam drehte sich Tara um. Sie schniefte ein wenig und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Was ist denn eigentlich los mit dir? Warum bist du so wütend auf mich?“, fragte sie, noch immer ein wenig schluchzend, während sie sich mit dem Haargummi, das sie ums Handgelenk trug, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen band.

      Josia starrte auf den bunten Flickenteppich, der vor Taras Bett lag und sagte leise: „Mama und Papa dürfen nicht wissen, dass ich jeden Tag nach draußen gehe.“ Tara wusste genau, was er mit „nach draußen gehen“ meinte.

      „Sie denken, es ist zu gefährlich für mich“, sprach Josia weiter. „Und sie haben Recht damit“, schob er nach einer kurzen Pause hinterher.

      „Warum?“, wollte Tara wissen. Wo, um alles in der Welt, kam er her? Welches Geheimnis umgab ihn? „Wo warst du vorhin?“, wisperte sie leise.

      Statt einer Antwort nahm Josia Tara an der Hand, zog sie von ihrem Bett hoch und nahm sie mit hinüber in sein Zimmer. „Warte“, sagte er, schaute noch einmal in den Flur hinaus, drückte die Tür dann leise zu und kam zu Tara zurück. Er griff nach ihrer Hand und zog sie bis zur Glastür. Die Jalousie war noch immer oben. Josia sah Tara ernst an. Dann fragte er flüsternd: „Willst du wirklich wissen, wo ich war?“ Tara nickte zögernd. Was hatte ihr Bruder vor?

      Josia öffnete die Tür. „Halt mich ganz fest an den Händen. Und lass bloß nicht los“, sagte er. Tara tat, was er sagte. Sie fasste nach seinen Händen. Nach einigen Sekunden war es, als wären die Hände der Kinder miteinander verschmolzen. „Denk daran, egal was passiert, wir müssen zusammen bleiben“, meinte Josia noch einmal mit Nachdruck in der Stimme, dann bewegten sie sich gemeinsam einen Schritt auf das Portal zu. Tara konnte das Rauschen hören, das sie auch vor der Hütte schon gehört hatte. Nur war es hier bei Josias Portal noch viel stärker; es kam Tara eher vor wie ein starker Wind der langsam zum Sturm anschwellen würde.

      Kapitel 13

      Tara konnte kaum atmen, so stark schien das Rauschen zu werden. Sie und Josia bewegten sich, während sie sich fest an den Händen hielten, durch die Tür, den hellen Tunnel entlang, der mit jedem ihrer Schritte dunkler und dunkler wurde. Dann standen sie plötzlich im Freien.

      Es war auch hier dunkel. Und kalt. Tara sah sich fröstelnd um.

      „Wo sind wir?“, fragte sie.

      „In meiner anderen Welt“, antwortete Josia tonlos.

      So nach und nach gewöhnten sich Taras Augen an die dunkle Umgebung und sie erkannte, wo genau sie sich befanden. „Ein Friedhof? Warum sind wir auf einem Friedhof gelandet?“, fragte sie.

      „Portale nach Merveille befinden sich am Lieblingsort des jeweiligen Menschen“, erklärte Josia geduldig. Er wusste, dass er seiner Schwester sicher noch so einiges mehr erklären müsste.

      Tara dachte nach. „Ist das der Grund, weshalb sich mein Portal bei den Drachenfelsen befindet?“ „Wenn das dein Lieblingsplatz in der anderen Welt war, dann schon“, antwortete Josia. Das leuchtete Tara ein. „Aber warum sind wir durch dein Portal auf einem Friedhof gelandet? Das kann doch nicht im Ernst dein Lieblingsort gewesen sein“, meinte sie zweifelnd und zeichnete mit der Hand einen weiten Bogen.

      „Meine Mutter aus dieser Welt ist hier begraben. Sie starb als ich acht war“, erzählte Josia leise und Tara spürte die Traurigkeit, die seine Worte begleitete.

      Langsam gingen sie nebeneinander her über den Friedhof. Josia schien ein bestimmtes Ziel zu haben, Tara folgte ihm. Vor einem Grab mit einem weißen Marmorkreuz blieben sie stehen. Der Mond, der in dieser Nacht voll und rund am Himmel stand, hatte sich mühsam durch die Wolkendecke gekämpft und ließ sein silbernes Licht genau dorthin fallen, wo die beiden Kinder standen. Tara las, was in schlichten schwarzen Buchstaben auf dem Kreuz geschrieben stand: „Seraphine“.

      „Sie war eine gute Mutter. Ich weiß, sie hat mich sehr geliebt.“ Josia schluckte. Tara wusste nicht, was sie sagen sollte. Deshalb schwieg sie lieber. Vor dem Kreuz stand eine kleine Glasvase. Taras Blick blieb daran hängen. Jemand hatte frische rote Rosen hinein gestellt. Sie sah Josia fragend an. „Hier warst du vorhin?“ Ihr Bruder nickte. „Ich komme jeden Tag her. Sie hat sich hier in dieser Welt immer gut um mich gekümmert. Das ist das einzige, was ich jetzt noch für sie tun kann“, sagte er leise.

      Schweigend standen die beiden Kinder noch eine Weile am Grab. Doch nach ein paar Minuten fasste Josia Taras Hand und meinte: „Wir müssen zurück. Komm.“

      Sie sprachen nicht viel auf dem Weg zu Josias Portal,