Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt. Yvonne Tschipke

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Название Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt
Автор произведения Yvonne Tschipke
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783738006094



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beachtet, als sonst irgendein Fenster in der Wand. Nur mit dem Unterschied, dass sie niemals oder nur ganz selten geöffnet wurden. Und auch Tara hatte ihre Tür, seit sie hier hergekommen war, immer verschlossen gehalten. Vielleicht aus Angst, nie mehr zurückkehren zu können, wenn sie diese noch einmal durchschritt.

      Doch Taras Neugier, dem Geheimnis von Josias Portal auf die Spur zu kommen, wurde mit der Zeit immer größer. Sie wurde so groß, dass Tara an einem Nachmittag in sein Zimmer schlich. Josia war nicht da. Er war mit Yaris verabredet und würde ganz sicher erst später nach Hause zurückkehren.

      Vorsichtig öffnete Tara die Tür zum Zimmer ihres Bruders. Noch einmal schaute sie sich um, ob sie auch niemand beobachtete. Dann trat sie ein und drückte die Tür hinter sich wieder zu. Josias Zimmer sah ein wenig chaotisch aus. Naja, schließlich war er ein Junge. Auf dem Fußboden neben dem zerwühlten Bett stapelten sich Zeitschriften. Der Schreibtisch sah nicht viel besser aus. Und alle Klamotten, die Josia einmal getragen hatte und die danach für die Waschmaschine im Keller bestimmt waren, türmten sich wie ein expressionistisches Kunstobjekt neben der Tür auf. Mama würde toben, wenn sie es sehen würde, dachte Tara amüsiert. Vielleicht mochte er deshalb nicht, wenn jemand ungefragt sein Zimmer betrat. Nunja, jetzt verstand Tara das - absolut.

      Die dunkle blaue Jalousie an Josias Portal war herunter gelassen. Zögernd ging Tara auf die Tür zu. Einige Sekunden blieb sie unschlüssig davor stehen. Sollte sie wirklich? Doch dann siegte die Neugier, die das Mädchen schon seit Tagen gefangen hielt. Tara griff nach der Schnur und zog daran. Die Lamellen der Jalousie schoben sich langsam nach oben zusammen und gaben nach und nach den Blick auf Josias Portal frei.

      „Was soll das? Tara!“ Erschrocken fuhr das Mädchen herum. An der Zimmertür stand Josia und sah sie mit großen Augen an. Doch dann zog er die Augenbrauen fest zusammen. So wütend hatte Tara ihren Bruder noch nie erlebt. Blitzschnell kam er mit langen Schritten auf Tara zu und schlug ihr die Schnur aus der Hand. Die Jalousie, die Tara schon fast bis ganz nach oben gezogen hatte, sauste mit einem zischenden Geräusch wieder bis zum Boden.

      „Was machst du hier?“, fragte Josia ärgerlich. Taras Herz klopfte wie wild. Sie spürte, wie ihr die Hitze von den Fußzehen bis hinauf zu den Haarspitzen kroch. Sie wollte etwas sagen, doch der Schreck hatte ihr die Stimme geraubt.

      Josia sah, dass er Tara mit seiner Wut ziemlich erschrocken hatte. Es tat ihm augenblicklich leid. Deshalb atmete er ein paar Mal tief durch. „Tara, was soll das?“, fragte er dann noch einmal, und jetzt klang seine Stimme genau so nett wie sonst immer.

      „Ich ... ich ... wollte doch nur ... nur mal sehen, was ... was sich hinter deinem Portal versteckt“, erklärte Tara niedergeschlagen, als der Schreck ihre Stimme wieder los gelassen hatte. „Entschuldige bitte, Josia“, schob sie leise hinterher.

      Josia legte seiner kleinen Schwester einen Arm um die Schulter. „Warum hast du mich nicht einfach danach gefragt.“ „Weil du ständig und überall mit Yaris zusammen bist. Ich weiß doch nicht, ob er Bescheid weiß“, antwortete Tara. Josia sah sie fast ein wenig vorwurfsvoll an. „Tara, hast du es denn immer noch nicht kapiert? Jeder, wirklich jeder, der hier in Merveille du monde lebt, hat ein Portal. Du, ich, Mama, Papa, Yaris, deine Freundinnen und sogar unser Mathematiklehrer – alle, verstehst du?“ Er zog Tara zu der Couch, die neben seinem Schreibtisch stand und schob mit der Hand schnell einige Socken und Unterhosen zur Seite. Sie setzten sich.

      „Es gibt sogar Leute hier, die haben mehrere Portale“, erklärte Josia im ruhigen Tonfall.

      „Echt? Mehrere?“ Tara dachte kurz nach. „Aber das heißt ja, sie leben auch mehrere verschiedene Leben.“ Ihr Bruder nickte. „Deine Freundin Mila zum Beispiel. Warst du schon mal in ihrem Zimmer?“

      „Ja, warum?“

      „Ist dir an ihrem Zimmer irgendetwas aufgefallen?“ Tara überlegte, was Josia wohl meinen könnte. Aber Milas Zimmer sah aus, wie jedes andere auch. Da gab es nichts Besonderes. Abgesehen von dem Chaos, das dort ständig herrschte. Und das war Tara nur deshalb aufgefallen, weil sie selbst furchtbar ordentlich war. „Nein, was soll mir denn an Milas Zimmer aufgefallen sein, außer dass dort immer alles Mögliche auf dem Boden herum liegt.“ Tara ließ ihre Augen vielsagend über Josias Chaos schweifen. Der tat so, als bemerkte er die leise Anspielung auf seine eigene Unordnung nicht und sah seine Schwester verwundert an. „Dir sind echt noch nie die vielen Türen in Milas Zimmer aufgefallen?“

      Naja, jetzt wo ihr Bruder es erwähnte, fielen ihr die bodenlangen Vorhänge ein – vier an der Zahl, an jeder Wand einer. Dass sich dahinter Portale befinden könnten, war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen. Doch nun ergab sogar das Chaos in Milas Zimmer einen Sinn, denn wo sollte sie denn Schränke und Regale hinstellen, wenn sich an jeder Wand Türen befanden.

      „Woher weißt d u eigentlich von den Türen in Milas Zimmer?“, fragte Tara neugierig. Josia wurde ein wenig rot. Das reichte Tara als Antwort. Sie grinste ihren Bruder frech an.

      „Wechselt sie oft?“, fragte sie dann aber schnell, um Josia nicht weiter in Verlegenheit zu bringen. Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Frag sie doch selbst.“ Das werde ich, dachte Tara, erhob sich und ging zur Tür. Bevor sie Josias Zimmer verließ, drehte sie sich noch einmal um und fragte: „Aber warum merken wir nicht, wenn jemand fehlt?“

      „Ganz einfach: Weil ein Aufenthalt in einer der anderen Welten, egal ob er eine Woche oder ein halbes Leben dauert, für die Menschen hier in Merveille du monde nur ein einziger Augenblick ist. Das nennen wir den Zeitensprung.“

      „Heißt das, wenn ich durch das Portal gehe und ein ganzes Jahr weg bleibe, dass ich hier annähernd zur selben Zeit wieder ankomme?“ Josia lächelte und nickte.

      Tara war schon fast wieder in ihrem Zimmer, als ihr einfiel, weshalb sie eigentlich in Josias Zimmer gewesen war. Sie lief noch einmal hinüber. Ihr Bruder saß vor dem Computer. Fragend sah er Tara an, als sie schon wieder in seinem Zimmer stand.

      „Ich wollte dich nur fragen, ob du mir erzählst, wie dein anderes Leben war“, sagte Tara. „Ja, mach ich, aber nicht mehr heute. Das dauert nämlich etwas länger“, versprach Josia. Aber irgendwie wurde Tara das Gefühl nicht los, dass er das nicht wirklich ernst gemeint hatte. Es war die Art und Weise, wie es diesen Satz gesagt hatte. Vielleicht dachte er, dass es Tara nichts anging. Wenn sie es sich so recht überlegte, sprach hier in Merveille eigentlich kaum jemand davon, wie er auf der anderen Seite des Portals gelebt hatte. Aber vielleicht wollte Josia auch einfach nicht darüber sprechen, weil es ihn zu sehr belastete. Was war das Geheimnis seines anderen Lebens?

      Kapitel 11

      Tara kam am anderen Nachmittag etwas später als gewöhnlich nach Hause. Sofort machte sie sich auf die Suche nach Josia, den sie auf der Terrasse hinter dem Haus fand. Er saß mit geschlossenen Augen auf der kleinen grünen Bank und hielt sein Gesicht in die Sonne. Tara stand ein paar Augenblicke reglos vor ihm und betrachtete ihn in aller Ruhe. Es sah fast so aus, als würde er schlafen. Seine Haare, die ihm sonst – zu Maries Ärger - ständig im Gesicht herum hingen, waren zurück gefallen. Sie gaben den Blick auf die dichten dunklen Wimpern, die sich über seine Augen gelegt hatten, frei. Und auf die kleinen lustigen Grübchen in der Wangengegend. Tara entdeckte verwundert auch eine etwa drei Zentimeter lange Narbe auf seiner Stirn, die sonst von den braunen Haarsträhnen verdeckt wurde.

      Josia merkte am Schatten, der sich zwischen ihn und das wärmende Licht der Sonne geschoben hatte, dass jemand gekommen war. Er öffnete die Augen einen Spalt weit.

      „Hi, Tara. Wo warst du solange?“, fragte er und klappte die Augen wieder zu.

      „Bei Mila“, antwortete Tara. „Ich wollte sie fragen, was es mit den vielen Portalen auf sich hat.“

      Das schien Josia zu interessieren. Mit einem Mal war er hellwach. „Und? Hat sie es dir erzählt?“

      Tara schüttelte den Kopf. „Nein. Hat sie nicht. Ich glaube, dass sie es lieber für sich behalten möchte. Und deshalb habe ich auch nicht weiter nachgefragt.“

      Josia schien ein wenig