Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt. Yvonne Tschipke

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Название Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt
Автор произведения Yvonne Tschipke
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783738006094



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Normalfall bei einem „Ja, es geht schon. Alles okay.“

      Dass zu Hause, was auch immer das in ihrem Fall bedeutete, sich keiner so recht dafür interessierte, wie es ihr ging, auch daran hatte sich Tara inzwischen gewöhnt. Ihre Eltern wollten nichts mit Tara zu tun haben. Und sie eigentlich auch nichts mit ihnen. Das war ungefähr seit der Zeit so, als Tara es gewagt hatte, die Art, wie ihre Eltern die Tage verbrachten, zu hinterfragen. Es war zwar nicht leicht in der viel zu engen Wohnung, doch Tara versuchte, so gut es eben ging, ihren Eltern aus dem Weg zu gehen. Dieses unausgesprochene Arrangement fanden wohl beide Seiten äußerst zufriedenstellend.

      Trotzdem wünschte sie sich viel mehr Normalität in ihrem Leben. Oder vielmehr das, was sie bei anderen Familien in ihrem Umfeld für Normalität hielt. Denn wer konnte schon durch die vorgezogenen Gardinen und bunt gestrichenen Fassaden sehen und erkennen, wie es dahinter wirklich war.

      Tara schloss die Tür ab, angelte auf dem kleinen Wandregal nach den Streichhölzern und zündete die kleine orangefarbene Kerze auf dem Tisch an. Das warme flackernde Licht breitete sich in Windeseile im ganzen Zimmer aus, es kroch in alle Ecken und verlieh dem Raum mit den alten schäbigen Möbeln so etwas wie Gemütlichkeit. Dann öffnete das Mädchen den alten Schrank, griff tief in eines der Fächer und zog unter den zerknitterten Klamotten schließlich ein kleines gelbes Büchlein heraus. Taras Tagebuch. Dem konnte sie anvertrauen, was sie erlebt hatte. Ihm konnte sie ihre Wünsche und Sehnsüchte verraten. Ihm konnte sie ihre Tränen zeigen. Es konnte zwar nicht antworten, dafür aber hervorragend zuhören. Doch Tara musste das kleine gelbe Buch gut verstecken. Man konnte nie wissen, wer am Tag hier herein schneite. Das Zimmer ließ sich nur von innen verschließen.

      „Heute ist mir etwas Komisches passiert“, schrieb Tara auf die nächste freie Seite, als sie es sich auf ihrem Bett bequem gemacht hatte. „Bei den Felsen stand plötzlich eine Hütte. Ich bin mir sicher, dass sie da noch nie war. Oder habe ich sie bisher übersehen, weil sie gut versteckt im Gebüsch steht? Und dann das Rauschen – ich weiß nicht, woher das kam. Aber irgendwie hatte ich das komische Gefühl, dass ich ganz glücklich war da draußen an der Hütte. Dass ich genau dort hingehöre. Dass das mein Platz in dieser Welt ist.“

      Kapitel 3

      Es wurde eine unruhige Nacht für Tara. Irgendwann war ihr Vater vor dem Fernseher wieder aufgewacht und hatte das Gerät lauter gestellt. Und auch ihre Mutter, wie schon so oft am späten Nachmittag für ein längeres Nickerchen im Schlafzimmer verschwunden, war zurück ins Wohnzimmer gegangen. Die beiden sprachen laut miteinander, ja, wahrscheinlich stritten sie sogar. So genau konnte Tara das nicht erkennen.

      Das verwaschene Wörter–Knäuel ließ sie einfach mal wieder nicht einschlafen. Selbst wenn sie sich das Kopfkissen auf die Ohren presste – das unangenehme Gemurmel vermochte sie nicht zu dämpfen.

      Doch dann – mitten in der Nacht - wurde es wieder still und Taras Gedanken glitten hinüber ins Reich der Träume.

      Tara kämpfte sich durch das stachlige Gebüsch. Die Dornen zerkratzten ihr Arme und Gesicht. Doch das machte ihr nichts aus – ganz im Gegenteil. Die Vorfreude auf das, was die dichten Zweige verbargen, ließ sie die Schmerzen ertragen.

      Dann sah sie sie. Die Hütte. Sie stand noch immer da, genauso wie am Nachmittag. Aber nun begann der windschiefe Holzhaufen sich zu drehen, solange, bis Tara vor der Tür stand. Sie wollte darauf zugehen, aber sie stolperte und landete auf den Knien. Tara hörte ein Knarren. Sie sah auf. Vor sich erblickte sie die kleine Tür, die im selben Augenblick wie von Geisterhand geöffnet wurde. Und da war auch wieder dieses Rauschen. Es hörte sich fast so an, als ob ein starker Wind durch den Wald peitschte. Tara schoss ein gleißender Lichtstrahl entgegen. Sie musste sich die Augen mit den Händen bedecken, um nicht geblendet zu werden. Gerade in dem Augenblick, als sie die Hütte betreten wollte, hörte sie von irgendwoher ihr Lieblingslied.

      Mühsam öffnete Tara die Augen.

      Sie rieb sich mit den Händen ein paar Mal kräftig über das Gesicht und sah sich gähnend um. Sie lag in ihrem Bett. Und das stand nach wie vor in ihrem Zimmer.

      Ihr Lieblingslied war echt – der Weckton auf ihrem Handy. Alles andere war ein Traum. Tara seufzte.

      Ein Sonnenstrahl tanzte durch das Zimmer und machte die kleinen Staubkörnchen sichtbar, die durch die Luft schwebten. Die kleine Uhr über dem Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand sagte ihr, dass es bereits halb sieben war. Höchste Zeit aufzustehen. Tara streckte und reckte sich seufzend. Die Nacht war alles andere als erholsam. Genau wie auch schon die Nächte vorher. Am liebsten wäre sie liegen geblieben. Und noch viel lieber hätte sie den Traum weiter geträumt. Vielleicht hätte er ja auch das Geheimnis der kleinen Hütte preisgegeben.

      So ein Quatsch, dachte Tara nur einen Augenblick später und schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit. Es war und bleibt ein Traum, sagte sie sich in Gedanken und seufzte, während sie schwungvoll die Decke zurückschlug, sich aus dem Bett schob und hinüber ins Bad schlurfte.

      Viertel Acht klingelte es unten an der Tür. Tara schnappte sich ihren Rucksack und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Es war wohl besser, wenn Nina nicht bis hier herauf kam. Der scharfe Geruch, den die Armee leerer Bierflaschen im Flur verströmte, zog so langsam aber sicher auch ins Treppenhaus. Das war Tara ziemlich peinlich, denn bei Nina zu Hause duftete es nach Rosen, Veilchen und Lavendel. In jeder Ecke!

      „Morgen“, nuschelte Nina, bevor sie weiter in ihr Handy schmachtete. „Ja, ich dich auch. Bis gleich.“ Alles klar, dachte Tara genervt, am anderen Ende hing Titus. Sie verdrehte die Augen. „Oh, Mann, Nina. Ihr seht euch doch gleich.“ Nina stopfte das Handy in die eine Hosentasche und zog aus der anderen zwei Müsliriegel hervor. Einen hielt sie Tara unter die Nase. „Hier, Frühstück.“

      „Danke“, meinte Tara leicht verlegen, griff nach dem Müsliriegel und riss die bunte Verpackung auf. Gut, dass Nina an sie dachte. Fast so, als hätte sie längst geahnt, dass in Taras Wohnung nicht ein Kanten Brot mehr zu finden war.

      Nina war Taras beste und einzige Freundin, schon seit die beiden gemeinsam in den Kindergarten gegangen waren. Und eigentlich immer am Telefonieren. Meistens mit ihrem neuen Schwarm Titus. Seit drei Wochen war sie mit ihm zusammen – absoluter Rekord!

      „Ja, ich weiß, meine Süße, wir sehen uns gleich“, meinte Nina mit verliebtem Glanz in den Augen, „aber wir sind eben so ... “ Tara winkte ab. Sie wollte gar nicht näher wissen, w a s Nina und Titus waren.

      Die beiden Mädchen gingen schweigend nebeneinander her. Nina dachte an Titus. Tara überlegte, ob sie ihrer Freundin von der Hütte erzählen sollte. Aber wem sonst, wenn nicht ihr? Tara hatte doch sonst niemanden, der ihr zuhörte und den es in irgendeiner Weise auch wirklich interessiert hätte, was sie entdeckt hatte.

      „Hast du die Hütte an den Drachenfelsen schon mal gesehen?“, fragte sie schließlich fast wie nebenbei. So als hätte sie ihre beste Freundin nach dem Wetterbericht gefragt. Nina kannte Taras geheimen Ort. Wie sollte es auch anders sein? Beste Freundinnen teilen alles miteinander, selbst die größten Geheimnisse.

      „Welche Hütte?“, wollte Nina wissen. „Hab keine gesehen, als ich vor zwei Tagen mit Ti ... .“ Sie verschluckte den Rest des Satzes, den sie eigentlich hatte sagen wollen, als sie Taras entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte.

      „Du warst mit Titus dort? Hast du sie nicht mehr alle?“ Tara war stehen geblieben und sah Nina wütend an. Sie konnte es nicht glauben, dass ihre Freundin das getan hatte!

      Nina schaute erst ziemlich betroffen; sie hatte Tara versprechen müssen, niemandem von der geheimen Stelle zu erzählen, geschweige denn sie jemandem zu zeigen. Doch dann zuckte sie mit den Schultern. „Was hast du denn? Der Wald gehört dir doch nicht allein. Und dort konnten wir wenigstens mal richtig ungestört ...“ „Hör auf“, unterbrach Tara sie, „Ich will gar nicht wissen, w a s ihr da ungestört tun konntet!“ Mit großen Schritten lief Tara weiter. Hinter sich hörte sie Ninas eilige Schritte und ihr leises Keuchen. Sie war noch nie gut im Ausdauerlauf.

      „Tara, warte. Nun bleib doch mal stehen“,