Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt. Yvonne Tschipke

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Название Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt
Автор произведения Yvonne Tschipke
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783738006094



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vor der Tür bestimmt. Dort hatte sie so etwas noch nie erlebt – jedenfalls solange sie sich zurück entsinnen konnte. Da hatte sie Glück, wenn überhaupt etwas im Kühlschrank zu finden war, womit sie ihren Hunger stillen konnte. Und wenn genug Platz auf dem Tisch war, um einen Teller darauf abzustellen. Von Blumenduft in der Wohnung ganz zu schweigen.

      „Setz dich doch, Tara. Möchtest du Brötchen?“ Marie drückte sie sanft auf einen Stuhl. „Du wirst es lieben, das verspreche ich dir“, meinte sie noch, fast so als hätte sie Taras Gedanken erraten.

      Nach dem Frühstück schwangen sich Josia und Tara auf ihre Fahrräder (Tara besaß echt ein Fahrrad!), um zur Schule zu fahren. Tara fuhr voraus, sie kannte den Weg. Und wunderte sich nicht im Geringsten darüber. Als sie um die Kurve fuhren, hinter der sie eigentlich den Wald und die Drachenfelsen vermutete, stellte sie erstaunt fest, dass da Häuser und Gärten waren. Keine Spur von hohen Bäumen und Felsgestein. Tara schüttelte ihren Kopf, fast so, als ob sie alle Gedanken aus ihm heraus schmeißen wollte. Doch mit einem Mal, ohne dass sie es selbst wollte, wurde Taras Herz schwer.

      Tara wurde mit einem Mal immer langsamer. Nina, dachte sie, Nina. Wie würde es ihr wohl jetzt gehen. Immerhin hatte sie ihre beste Freundin allein im Wald zurück gelassen.

      Ob sie es vielleicht wagen sollte, noch einmal durch das Portal nach draußen zu gehen, um Nina von dem Geheimnis zu erzählen, das die Hütte in sich barg? Oder um sie wenigstens zu beruhigen, dass es ihr gut ging. Sie wusste nicht, ob es eine gute Idee war, Nina von dieser Welt hier zu erzählen. Sicher würde sie Tara für verrückt erklären. Nun gut, wenn Tara es sich so recht überlegte, sie würde der Geschichte über eine Parallelwelt ganz sicher auch keinen Glauben schenken, wenn sie nicht selbst erlebt hätte, dass es sie tatsächlich gibt. Doch noch viel mehr spürte Tara in ihrem Herzen die Angst, das Portal könnte sich für immer verschließen und sie könnte niemals wieder in diese Welt hier zurückkehren, wenn sie noch einmal nach „draußen“ ging.

      Als Tara auf dem Schulhof ihr cooles Mountainbike anschloss, hörte sie auf einmal Schritte hinter sich. Langsam drehte sie sich um. Vor ihr standen drei Mädchen in ihrem Alter. „Hi, Tara. Mathehausaufgaben fertig?“

      „Ähm, hi“, erwiderte Tara und warf ihren Rucksack über die Schulter. „Ja, klar.“ Hausaufgaben? Ihr Gehirn fuhr offensichtlich Achterbahn. Es schaltete nach wie vor zwischen ihrem Leben hier und ihrem Leben draußen vor der Hütte hin und her. Tara nahm sich vor, in der Klasse schnellstmöglich nachzusehen, ob sie die Hausaufgaben wirklich hatte.

      Sie lief mit den drei schwatzenden Mädchen ins Schulhaus. Dort schlugen sie den Weg zum Musikzimmer ein. Tara ging zielsicher zu ihrem Platz – inzwischen wunderte sie sich über gar nichts mehr. Leise seufzend ließ sie sich auf den Stuhl fallen und kramte in ihrem Rucksack. In ihrem Matheheft standen tatsächlich die Hausaufgaben.

      Auf dem Platz neben ihr ließ sich Mila nieder. Vor ihnen saßen Tabea und Sophie. Hier in dieser Welt waren die drei Mädchen Taras Freundinnen. Das hatte sie gleich am Anfang gespürt – oder gewusst. Wie auch immer.

      Ob ungewohnt oder nicht, Tara gefiel ihr Leben hier in dieser Welt. Und eigentlich hätte sie es für nichts, aber auch wirklich gar nichts jemals wieder aufgegeben.

      Kapitel 10

      Die Tage vergingen und es schien so, als ob Taras anderes Leben in ihrem Bewusstsein immer mehr verblasste. Sie fühlte sich sehr wohl in ihrem Leben hier, dem Leben hinter der gläsernen Tür, die dieses Geheimnis verborgen hielt. Es war so ganz anders, als ihr richtiges Leben. Obwohl, Tara konnte noch immer nicht so genau sagen, welches nun das wirkliche und welches das unwirkliche war. War ihr Leben in Merveille du monde, wie die andere Welt genannt wurde und in der sie nun lebte – oder auch immer schon gelebt hatte - nur erträumt? Etwas, das Tara sich so sehr wünschte, dass es ihr schien, als wäre es Wirklichkeit geworden? Dann musste es ein langer und tiefer Schlaf sein, in dem sie sich befand. Aber, wenn es ein Traum war, dann war es ein wunderschöner und Tara wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er hoffentlich nie enden würde.

      Doch wenn dieses Leben hier kein Traum war, warum gab es dann das andere – das Leben jenseits der Hütte im Wald? Das Leben, in dem Tara nie so glücklich gewesen war, wie jetzt hier. Weshalb hatte sie dann diesen langen Ausflug, wie ihre Mutter es nannte, in diese andere Welt unternommen und war nicht schon viel eher zurückgekehrt? War sie nur aus Versehen dorthin gelangt? Oder in vollem Bewusstsein? Und warum hatten ihre Mutter Marie, ihr Vater Felix und Josia ebenfalls Portale in ein anderes Leben?

      Fragen, Fragen, Fragen – auf die Tara noch keine Antwort gefunden hatte.

      Doch sie versuchte, nicht so oft über ihr anderes Leben nachzudenken. Überhaupt geschah das meist nur dann, wenn sie sich in ihrem Zimmer befand und die gläserne Tür sah. Sie vermisste nichts von dem, was da draußen war.

      Außer vielleicht Nina.

      Tara fragte sich oft, wie es ihr gehen würde. Vermisste Nina sie? Oder vermisste sie überhaupt irgendjemand? Immerhin musste all den anderen doch ganz sicher bereits aufgefallen sein, dass Tara verschwunden war. Suchten sie noch nach ihr?

      Am Abend, nachdem Tara durch die Tür nach Merveille du monde gekommen war, hatten Leute die Gegend im Wald bei den Drachenfelsen abgesucht. Mit hellen Taschenlampen leuchteten sie jeden Winkel des Felsens aus. Tara hatte sie eine ganze Weile dabei beobachtet. Irgendwann ließ sie allerdings die dunkelgrüne Jalousie herunter, weil sie das Blenden der Taschenlampen nervte – und beunruhigte. Dabei wusste Tara doch ganz genau, dass die Menschen da draußen nur die kleine alte Hütte sehen konnten, wenn sie überhaupt noch dort stand.

      Ob ihre Eltern da draußen sie vermissten? Ob sie traurig waren? Vielleicht – aber eher wohl nicht. Sie hatten sich sowieso nie dafür interessiert, ob Tara da war oder nicht. Es war ihnen egal, wann und wohin sie ging oder was ihre Tochter tat, Hauptsache sie war ihnen nicht im Weg. Sie waren nur mit sich beschäftigt. Mit sich und ihrer Art zu leben. Sicher, früher einmal muss da so etwas wie Liebe oder Zuneigung und Geborgenheit gewesen sein. Tara konnte sich wohl nur nicht mehr daran erinnern. Das war zu lang her. Vielleicht war sie da auch noch ein Baby gewesen. Doch inzwischen war da nichts mehr als ein unüberwindbarer Graben. Und unten lauerten Sorgenkrokodile, die jeden auffraßen, der beim Versuch, den Graben zu überwinden, hinab in die Tiefe stürzte. Ihre Eltern in dem anderen Leben waren in ihren eigenen Sorgen und Problemen ertrunken, die sie wiederum versuchten, gleichermaßen zu ertränken. Den lieben langen Tag. In klebrigem Likör und bitterem Bier.

      Marie und Felix waren da ganz anders. So herrlich normal, wie Eltern eben sein sollten. Am Tag, wenn Tara und Josia in der Schule waren, gingen sie zur Arbeit. Marie war Arzthelferin in einer Kinderpraxis. Felix arbeitete als Computerexperte in einer Firma, die irgendwelche Bauteile für Autos herstellte. Am Abend trafen sie sich alle in der Küche. Sie aßen gemeinsam und erzählten von ihrem Tag. Gut, es gab natürlich auch hin und wieder Streit und Probleme. Warum auch nicht? Sie waren eben eine völlig normale Familie.

      Die Menschen hier in Merveille lebten nicht anders als die Menschen da draußen. Es war die gleiche moderne Welt. Dieselben Menschen, dieselben Landschaften, dasselbe Geld – völlig gleich und doch auf eine besondere Art ganz anders.

      Nein – Tara vermisste das andere Leben nicht im Geringsten. Und wie war es bei Josia? Dachte er noch oft an sein Leben hinter der Tür? Wie sah sein anderes Leben eigentlich aus? Was hatte er erlebt?

      Tara nahm sich vor, ihren Bruder danach zu fragen. Doch das war gar nicht so einfach. Die meiste Zeit hing er mit seinem besten Freund Yaris zusammen. Die beiden waren fast unzertrennlich. Tara fand das nicht schlimm, sie konnte Yaris sehr gut leiden. Zugegeben, sie fand den Freund ihres Bruders noch dazu sehr hübsch – seine blauen Augen und sein kurzes blondes Haar, das immer wild in alle Richtungen zerstrubbelt war, hatten es ihr angetan. Und nicht nur ihr. Wenn Yaris über den Schulhof ging – er und Josia waren ein Jahr älter als Tara und ihre Freundinnen - steckten die Mädchen tuschelnd und kichernd ihre Köpfe zusammen und sahen ihm, wenn er vorbei war, mit großen verzückten Augen hinterher.

      Jedenfalls war es nicht leicht, Josia wirklich mal alleine anzutreffen. Außer am Abend, aber