Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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sowieso.“ Ich dachte kurz nach und versuchte die Vorstellung abzuschütteln, wie sich unter Kuhns begnadeten Händen ein kleines graues Mäuschen auf dem Stahltisch in Marilyn Monroe verwandelte. „Den Anruf beim Bestatter kann ich übernehmen, sofern Sie mir einen kleinen Hinweis darauf geben könnten, wo in diesem Papierwust ich James‘ Papiere finde. Steht heute sonst noch etwas an? Wobei mir einfällt, wo ist eigentlich Ihr Terminkalender?“

      Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Da drin“, murmelte er, verschwand im Hinterzimmer und kam gleich darauf ohne Nadel aber mit einem zerknitterten Blatt Papier zurück, das streng roch und braune Flecken aufwies, deren Herkunft ich keinesfalls wissen wollte. Es war die Auftragsbestätigung zur Präparation der Leiche von Herrn Rolf Brüning, ausgestellt auf den Thanatopraktiker Heribert Kuhn und unterschrieben vom Bestatter Koslowski. Die Telefonnummer stand drauf.

      „Gut, dann brauche ich etwas Geld, um Büromaterial zu besorgen. Einen Terminkalender, ein paar Aktenordner und was mir sonst noch als nicht existent aber notwendig auffällt.“

      Kuhn nestelte mit dem Ausdruck von Pein in seinem Gesicht einen Zwanziger aus dem Portemonnaie.

      „Sehr großzügig, verbindlichsten Dank. Glauben Sie, Sie können sich noch einen Euro für ein Radiergummi aus den Rippen schneiden?“

      Heribert Kuhn mochte zwar ein begnadeter Künstler sein, war jedoch aus tiefster Seele geizig und nahm, wenn es ihm in den Kram passte, Ironie buchstäblich für bare Münze. Ich bekam noch einen Euro für Radiergummis, doch sein finsteres Gesicht deutete unmissverständlich an, dass ich die Grenze seiner finanziellen Belastbarkeit überschritten hatte und jeder weitere Versuch auf eine Substanz härter als Diamant stoßen würde.

      „Gegen Mittag bin ich wieder da“, knurrte er. „Das tote kleine Mädchen ist zwar gecancelt worden, aber man weiß ja nie, wem es plötzlich einfällt, seinen Hugo doch noch ausstellen zu lassen. Es gibt jede Menge Bestatter im Landkreis, aber ich, Heribert Kuhn, bin der einzige Thanatopraktiker, der sein Geschäft kreativ betreibt, wenn Sie wissen, was ich meine. Bevor Sie also einen Auftrag vermasseln, rufen Sie mich an. Hier ist meine Handynummer.“ Er fischte eine zerknitterte Visitenkarte mit einem blutigen Daumenabdruck aus seiner Kitteltasche.

      Kurze Zeit später knatterte und knallte es mörderisch, und als ich aus dem Laden stürzte, schob sich der Kühlergrill eines schwarzen Leichenwagens von Anno dazumal aus der schmalen Lücke zwischen den Häusern, die auf unseren Hinterhof führte. Unter vollem Körpereinsatz gelang es Kuhn, sich auf die Großehofstraße zu kurbeln, dann verschwand er in einer blauen Auspuffwolke im Gewirr der Hamelner Gassen.

      9.

      Ich kaufte ein paar Aktenordner und einen Terminkalender - fürs Radiergummi reichte es nicht mehr - und verbrachte die nächsten Stunden mit Sortieren und Abheften. Gegen elf kam der Kontrollanruf von Ingeborg Schulze aus dem Jobcenter, die bei dem heiteren Ton meiner Stimme zunehmend mürrischer wurde. Ich bot ihr Sonderkonditionen an, falls sie sich für eine spätere Einbalsamierung vormerken lassen wollte und als Zugabe ein kostenloses Facelifting à la Cher. Sie hängte verschnupft auf. Ich hoffte, sie ließ Uwe für meinen Mangel an Verärgerung leiden.

      Während ich sortierte und abheftete, plagte mich der Gedanke an James Dean im Hinterzimmer. Bestatter Koslowski hatte mir versichert, ihn gegen halb zwölf abholen zu lassen, und ich hatte per Computer bereits die formlose Quittung für eine Leichenrückerstattung erstellt, die ich ihn unterschreiben lassen wollte. Sollte eines Tages der Papierberg vor mir abgebaut sein, würde ich mich an die Erstellung von Formularvorlagen in Word wagen.

      Um fünf vor halb zwölf hielt ich es nicht mehr aus und steckte meine Nase ins Hinterzimmer. An den Gestank aus Formaldehyd, Fett, Sandelholz und Leiche, der in wechselnder Intensität in jede Ecke des Ladengeschäftes zog, würde ich mich wohl schwerlich gewöhnen. Überall standen griffbereit Geruchsvernichter- und Raumluftsprays herum, doch die Einbalsamierungsmixtur schaffte sie alle.

      James Dean lag unter einem Laken begraben, was meine Neugier nicht zu befriedigen vermochte. Alles, was sich von seinem Gesicht abzeichnete, war der Huckel der Nase. Ich schlich mich um den Stahltisch, griff mit spitzen Fingern nach der Ecke des Lakens, überlegte es mir jedoch in letzter Sekunde anders und verschanzte mich wieder hinter den Papierstapeln auf meinem Schreibtisch.

      Eine Minute vor halb zwölf blickte ich James Dean dann doch ins tote Antlitz und ließ erschüttert das Laken wieder fallen. Von den Haaren bis zum melancholischen Ausdruck stimmte alles, Heribert Kuhn war zweifellos der begnadete Künstler, für den er sich hielt, auch wenn mir eigenmächtige Kreativität in der Thanatopraxis ein wenig pietätlos erschien. Vor allem, da unser James unter dem Laken altersmäßig mindestens als der Vater des echten Dean, wenn nicht gar als sein Opa durchgehen konnte.

      Wie sehr Kuhn in erster Linie Künstler war, bewies mir eine ledergebundene Mappe auf seinem Instrumentenbord an der Wand. Sie enthielt Polaroidfotos von seinen Kunstwerken. Die grauen Leichengesichter von vorn und im Profil vor der Kuhn’schen Behandlung, und die Tom Cruises, Elvis Presleys und Jane Seymours, in die er sie verwandelte. Das bewährte Prinzip des Vorher/Nachher-Schocks. Als ich die Fotokartons einen nach dem andern umschlug, blieb mir förmlich der Mund offen. Es war mehr als nur pervers, es war einfach genial. Vor allem, da ich in dem Papierwust noch keinen Hinweis darauf gefunden hatte, dass irgendein erboster Angehöriger Kuhn jemals verklagt hatte. Ich fragte mich, ob er sich bei der trauernden Ehefrau, die ihren Mann bei ihm ablieferte, im Vorfeld nach ihrem Lieblingsschauspieler erkundigte, und ihn ihr dann - ein zweiter Doktor Frankenstein - einfach erschuf.

      Als ich ins Büro zurückwankte, hielt mich die Gänsehaut in eisernem Griff, und beim Anblick des kleinen Grüppchens Besucher zuckte ich ertappt zurück. Zwei Männer und eine Frau standen, schwarz wie die Krähen, mitten im Raum, und im gleichen Moment wurde die Ladentür ein zweites Mal aufgerissen, und zwei ebenfalls schwarz gekleidete Burschen stürmten herein.

      „Wer ist es diesmal? Jack Nickolson oder Schröder?“, dröhnte der Bass des einen fröhlich durch den Laden, während der zweite bereits die Tür zum Hinterzimmer aufstieß. Unmittelbar darauf ertönte schallendes Gelächter und ein paar anerkennende Pfiffe. Dann, als James offenbar in seinen Sarg verpackt wurde, begann es zu rumoren, und ich holte tief Luft, um mich der unerwarteten Kundschaft zu stellen. Ich hatte nicht damit gerechnet, mich gleich am ersten Tag auf dem schlüpfrigen Parkett der Beileidsbekundungen bewegen zu müssen. Der ältere Mann, mit struppigem Schnurrbart, Brille und blank polierter Glatze, mochte um die sechzig sein, der jüngere etwa in meinem Alter. Er trug die schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten, der ihm den halben Rücken hinunterreichte. Obgleich auch die Frau, deren Alter ich auf Mitte fünfzig schätzte, mit ihrer metallicblau gefärbten Außenrolle und ihrem Übermaß an Schminke durchaus einen zweiten Blick wert war, konnte ich den meinen nicht von dem Mann mit dem Zopf lassen. Die bronzefarbene Haut, die schwarzen Augen, die markante Nase, wenn mich meine Fernsehbildung nicht trog, war Maestro Kuhn gerade ein waschechter Indianer ins Geschäft spaziert.

      „Guten Tag, kann ich irgendetwas für Sie tun?“, fragte ich höflich und einen Moment lang narrte mich das Gefühl, ich sei in diesem Laden schon zur Welt gekommen. Die drei musterten mich in meiner roten Caprihose und dem grasgrünen, ärmellosen Shirt, dann die Papierstapel auf Boden und Schreibtisch, und wahrscheinlich narrte sie das Gefühl, im falschen Laden gelandet zu sein.

      „Sind Sie der oder die Thanatodingsbums?“, fragte der ältere Mann ungläubig.

      „Nein, ich ...“ Binde nur Penisse ab, wollte ich gerade antworten, als ich gegen diese Mauer von Schwarz blickte und mir der Ernst der Lage wieder einfiel. Außerdem hatte mich Kuhn gebeten, ihm keine Aufträge zu vermasseln. „Ich bin nur die Assistentin. Für Computer und Telefon zuständig. Herr Kuhn ist der, den Sie suchen. Er ist im Moment leider außer Haus, aber wenn Sie mir Ihr Anliegen kurz umreißen und vielleicht die Telefonnummer dalassen, wird er sich so schnell wie möglich mit Ihnen in Verbindung setzen.“ Ich klopfte mir auf die Schulter. Jedenfalls in Gedanken. Es war doch prima gelaufen.

      „Gut, ich bin nur etwas verwirrt und hatte eine dem Anlass angemessene Umgebung erwartet.“ Sein Blick verriet, dass er