Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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einweisen lassen.

      „Kein Problem“, entgegnete er, lehnte sich wieder zurück und sackte endgültig in sich zusammen. „Es kostet Sie im günstigsten Fall ein- bis zweitausend Euro, und da es dann gewissermaßen eins zu eins mit den Gutachten steht, wird der Richter wahrscheinlich noch ein drittes Gutachten in Auftrag geben, dessen Kosten Ihnen bei einem Urteil zugunsten des Jobcenters wohl ebenfalls angelastet werden. Und glauben Sie wirklich, einer meiner Kollegen wird sich in einer überschaubaren Stadt wie Hameln und in einer Zeit wie heute so weit aus dem Fenster lehnen, mit einer dubiosen Diagnose einen Drückeberger vom Arbeiten abzuhalten? Wäre das nicht ein gefundenes Fressen für die Presse? - Ihre Urin- und Blutergebnisse können Sie in vier oder fünf Tagen abfragen. Bitte melden Sie sich umgehend bei Ihrem neuen Arbeitgeber. Guten Tag, Frau Pusch.“

      Damit war ich entlassen und gleichzeitig eingestellt. Keine Frage, ich war eine Marionette und hatte zu tanzen, wenn der Staat an den Fäden zog. Die alte Binsenweisheit stimmte: Wer zahlt, bestimmt. Einer zweiten Weisheit gedenkend - leerer Magen bringt Zittern und Zagen - ging ich erst mal im Globus frühstücken, und stattete anschließend meinem neuen Arbeitgeber einen Besuch ab.

      Herr Kuhn empfing mich diesmal nicht mit einem Willkommenslachen, sondern aus misstrauischer Distanz. Es war ein Machen-Sie-mir-bloß-keinen-Ärger-Blick, den ich gnadenlos zurückgab.

      „Herr Kuhn“, begann ich und hockte mich, Ingeborg Schulze als Vorbild, auf die Kante seines Schreibtisches, während er bei meinem Anblick auf halbem Weg zwischen Hinterzimmer und Ladentür stocksteif stehengeblieben war. „Ich bin letzten Mittwoch zu diesem Vorstellungsgespräch bei Ihnen erschienen, weil Sie mir am Telefon weismachten, Ihr Geschäft sei es, für alte Leutchen zu sorgen, die sich selbst nicht mehr helfen können. Das haben Sie doch gesagt, oder?“

      Er nickte, besann sich jedoch eines Besseren: „Mich deucht, ich habe nicht alt gesagt.“

      „Leider führten Sie mich insofern irre, dass Ihre Klientel - ob jung oder alt - nicht nur hilflos ist, sondern bereits mausetot. Wenn Sie mich fragen, ein Paradebeispiel für eine arglistige Täuschung. Und von dieser arglistigen Täuschung habe ich eine Riesenbeule am Kopf davongetragen.“ Ich betastete meinen Kopf. „Sie können von Glück sagen, dass ich Ihnen nicht durch Kreislaufversagen unter den Händen weggestorben bin, sonst müssten Sie einer weiteren Leiche den Mund zunähen. Da ich meinen Unterkiefer jedoch noch frei bewegen kann, dachte ich, ich komme mal vorbei und sage Ihnen Bescheid, dass ich keinesfalls die Assistentin eines Thanatopraktikers werden möchte. Nicht einmal die eines Thanatopraktikers Ihres Formats. Dummerweise jedoch fahren Jobcenter und Gesundheitsamt ausgesprochen schwere Geschütze auf, um mich in die Stelle hineinzuzwingen und drohen andernfalls mit einer Streichung der Gelder. Also sollten wir ...“

      Seine Miene hellte sich auf. Ich blieb hängen und starrte ihn verdattert an.

      „Sie können unmöglich wollen, dass ich gezwungenermaßen bei Ihnen anfange?“, brachte ich, völlig aus dem Konzept geraten, über die Lippen.

      „Ich brauche aber eine Assistentin“, murmelte er und blickte zu Boden. Seine skelettartigen Finger verschränkten sich ineinander, und einen Augenblick lang schien es, als bekäme er sie nicht wieder auseinander.

      „Sehen Sie, ich sage es Ihnen ganz ehrlich. Ich hasse diese Arbeit, ich verabscheue sie, und ich werde sie nicht lange ausüben können, weil ich einen schwachen Magen habe und ganz bestimmt ständig kotzen muss. Entschuldigung, aber so ist es nun mal. Sie tun weder mir noch sich mit meiner Einstellung einen Gefallen, und wenn ich auch nur ein einziges Mal ohnmächtig werde und mir vielleicht etwas breche - und sei es nur der kleine Finger - oder mir eine zweite Beule hole, dann verklage ich Sie höchstpersönlich. Und zwar mit Pauken und Trompeten.“ Ich stoppte abrupt und wartete auf die Wirkung.

      „Ich bin versichert“, murmelte Herr Kuhn. „Außerdem können Sie mich gar nicht verklagen.“

      „Und ob ich das kann!“, improvisierte ich mit Nachdruck. „Mir fallen da auf Anhieb zwei Paragrafen ein, die infrage kommen. Außerdem ist mein Nachbar Rechtsanwalt. Da ich Sie auf meine potenzielle körperliche Gefährdung aufgrund unkontrollierter Bewusstseinsausfälle hingewiesen habe, habe ich alles Recht der Welt auf meiner Seite, und ich werde mich nicht scheuen, jedes Fitzelchen davon genüsslich auszukosten.“ Wenn ich Multimillionärin wäre, würde ich eine Armee von Anwälten aufmarschieren lassen, selbst bei nur zehntausend Euro Ersparnissen könnte ich in Erwägung ziehen, mir wenigstens einen Anwalt zu kaufen, aber blank, wie ich war, konnte ich nur bluffen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und mühte mich mit einem Gesichtsausdruck ab, der in die Kategorie gelassen drohend fallen sollte.

      Er brauchte eine Weile, um meine Worte in sein Gehirn sickern zu lassen und zu eigenen Überlegungen umzumodeln. „Sie würden mich doch nicht wirklich verklagen, oder? Sie bluffen doch nur.“ Sein Versuch eines belustigten Auflachens misslang aufs Kläglichste.

      Ich zog meine Mundwinkel zu einem freudlosen Lächeln auseinander und wartete stumm ab.

      „Hören Sie, gute Frau“, flehte er dann. „Was soll ich denn tun? Es ist noch keine Viertelstunde her, da hat mich das Jobcenter angerufen, und mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich Sie einstellen muss, verstehen Sie denn nicht?“

      „So ein Unsinn. Sie sind der Arbeitnehmer, Sie bestimmen letztendlich, wen Sie einstellen und wen nicht.“

      Herr Kuhn geriet ins Jammern und rang noch immer die knochigen Hände. „Wenn es bloß so einfach wäre. Aber doch nicht in meinem Gewerbe. Bestatter sein ist schon schlimm genug, aber wenn sie Einbalsamierer sind und sich mit postmortaler Leichenrekonstruktion nach schweren Unfällen beschäftigen, denken Sie, da klopft freiwillig jemand an und fragt: Haben Sie nicht eine nette kleine Stelle für mich, guter Mann? Leichenwaschen vielleicht oder das Zunähen von Mündern? Nichts ist! Glauben Sie, Aushilfen zu bekommen, wäre so einfach wie in anderen Berufen? Ha! Sobald die paar Männeken, die sich auf meine Anzeigen melden, einen Blick ins Hinterzimmer tun, brüllen sie Zeter und Mordio. Neun laufen weg, der zehnte kippt um, bevor Sie Embalming Flower sagen können. Sie dürfen’s mir ruhig glauben, mein Laden ist für den Notarztwagen keine unbekannte Adresse. Gute Frau, es ist mir ein Rätsel - alle jammern, wie dreckig es ihnen finanziell geht, aber sich ein wenig zusammenreißen für einen neuen Job will niemand. Jedenfalls nicht bei mir. Wozu auch? Vater Staat zahlt ebenso fürs Nichtstun. Und jetzt sehen Sie mich an. Seit meiner Geschäftseröffnung vor vier Jahren schufte ich achtzehn Stunden pro Tag und sieben Tage die Woche. Und Aufbahrungen im offenen Sarg kommen gerade erst richtig in Mode. Einbalsamierungen und das Herrichten Verstorbener sind das Geschäft der Zukunft, doch wie soll es mit mir persönlich weitergehen? Ich habe fünfundzwanzig Kilo abgenommen, oder haben Sie ernsthaft geglaubt, ich sei schon immer so ein Skelett gewesen? Und jetzt kommen Sie und wollen mich zu allem Überfluss auch noch verklagen!“

      „Es tut mir sehr Leid für Sie, aber auch ich weigere mich, Leichen zu waschen oder Münder zuzunähen. Auf dieser Basis kann ich rein gar nicht für sie tun.“ Ich betonte auf dieser Basis, aber er war zu sehr in seiner Verzweiflung gefangen, um sprachliche Nuancen mitzukriegen.

      „Aber Sie müssen.“ Er sah aus, als wolle er auf der Stelle zu einem undefinierbaren Knochenberg in sich zusammenfallen. „Ich habe mich genau informiert. Seit es das Jobcenter gibt, dürft ihr Hilfeempfänger einfach keine zumutbare Arbeit mehr ablehnen, die euch angeboten wird. Na ja gut, vielleicht doch, hier und da oder dann und wann, aber es ist schwierig. Sehr schwierig sogar. Euer Wohl und Wehe hängt von der Fallmanagerin ab. Ich meine von ihrem guten Willen und ob man mit ihr kann. Ob sie mit eisernem Besen kehrt oder im Büro einfach nur ihre Zeit absitzt. Ob sie ein Mensch ist. Und jetzt sehen Sie sich Ihre Fallmanagerin an. Frau Schulze. Hat sie guten Willen? Nein! Können Sie mir ihr? Niemand kann mir ihr! Kehrt sie mit eisernem Besen? O nein, eine derartig Untertreibung wäre vermessen. Sie pustet einen weg. Sie richtet die Kanone aus, schiebt eine Zehnpfundkugel vorn rein und zündet eigenhändig die Lunte. Oder haben Sie ernsthaft geglaubt, sie mag mich und will mir einen Gefallen tun? Sie mag nicht nur mich nicht, sie mag niemanden. Sie zwingt mich, Sie zu nehmen, ich habe doch gar keine andere Wahl. Entweder Sie oder das Jobcenter schickt mir bis an mein Lebensende nicht einmal