Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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mich nicht hängen, ich flehe Sie an. Kein menschliches Wesen hält auf die Dauer achtzehn Stunden ohne Pause durch. Um Himmels willen erbarmen Sie sich meiner.“

      Er sah in der Tat erbarmungswürdig aus. Noch immer rangen seine Hände miteinander einen privaten Ringkampf aus, und sein Gesicht war gramzerfurcht. Ich unterdrückte nur mit Mühe ein grimmiges Lächeln. Der erste Teil meines Plans war geglückt, ich hatte ihn am Boden, zu allen Kompromissen bereit. Hoffte ich jedenfalls.

      „Okay. Ich sehe schon, Sie sind wirklich zu bedauern, und ich möchte nichts weniger, als Sie aufgrund meiner Weigerung in einen frühen Erschöpfungstod zu treiben. Es ist doch so, Herr Kuhn. Sie und ich, wir sitzen quasi im selben Boot. Beiden hängt uns die Schulze im Nacken. Obgleich ich das Ruder natürlich eher herumreißen könnte als Sie, in dem ich gegen das Jobcenter und natürlich auch gegen Sie persönlich klage“, setzte ich hastig hinzu. „Aber vielleicht brauche ich das gar nicht. Vielleicht können wir beide die Sache auch außergerichtlich regeln, denn ich kann mir kaum vorstellen, woher Sie die Zeit für all die Verhandlungen nehmen wollen. Und so ein Streitfall kann sich über Jahre hinziehen.“

      Ich musste mich mit meinen Ausführungen beeilen, sonst wäre vom Thanatopraktiker Kuhn nichts als eine Pfütze Wasser übriggeblieben.

      „Also - hier kommt mein Vorschlag zur Güte.“ Die Schreibtischkante bohrte sich in meinen Oberschenkel, doch ich zwang mich, in derselben überlegenen Position hocken zu bleiben: Arme verschränkt, Kinn hoch, Blick lauernd nach unten. „Ich fange in Ihrem Geschäft an. Natürlich nur aus reiner Nächstenliebe und unter bestimmten Bedingungen.“

      Kuhn richtete sich ein wenig auf, und Hoffnungsfünkchen glitzerten in seinen hellen Augen. „Was ... was für Bedingungen?“ Jedes Wort kostete ihn hörbar Kraft, und ich hoffte, er wartete mit seinem Zusammenbruch, bis ich weg war.

      „Das Hinterzimmer und die Leichen gehören Ihnen. Ich werde weder Münder zunähen noch Penisse abbinden, noch dabeistehen, wenn gestocktes Blut in einen Eimer klumpt. Meine Wenigkeit beschränkt sich ausschließlich auf den Büroteil Ihres aufstrebenden Unternehmens. Mein Reich ist das hier.“ Ich schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. „Ich erledige Ihnen den gesamten Papierkram. Korrespondenz, Ablage und was sonst noch alles dazugehört. Da ich in diesen Dingen gewissermaßen Expertin bin, arbeite ich für ihre 400 Euro im Monat keinesfalls länger als zwölf Stunden die Woche. Das ergibt ohnehin nur den jämmerlichen Stundenlohn von 8 Euro und ein paar Zerquetschten. Sollten Sie nicht einverstanden sein, wende ich mich von hier aus direkt an den besten Anwalt der Stadt. Also haben Sie jetzt entweder eine Assistentin für den Bürokram oder einen ersten Prozess am Hals, in dem ich wegen meiner Beule am Kopf - Sie wissen schon, die arglistige Täuschung - auf Schmerzensgeld klage. Und für jede weitere Beule und jeden erneuten Kreislaufzusammenbruch klage ich aufs Neue.“

      Wir wurden uns handelseinig, und ich begann meine neue Tätigkeit damit, Herrn Kuhn in der Miniküche, gleich neben der Minitoilette, eine Suppe zu kochen und sie ihm mit weiteren Drohungen Löffel für Löffel einzuflößen. Diesen Job würde ich keineswegs dadurch aufs Spiel setzen, dass ich meinen Chef verhungern ließ. Immerhin verdiente ich zwei Euro pro Stunde mehr als das Gros meiner Kollegen.

      Ich war stolz auf meinen Sieg und stürzte mich mit Eifer auf Kuhns Papiere. Mein Eifer erlahmte ein wenig, als ich die Schubladen mit einem bunten Gemisch an Korrespondenz, Rechnungen und allen möglichen Broschüren vollgestopft fand. Es waren acht Schubladen, an jeder Seite des Schreibtisches vier, und als ich Kuhn auf das wüste Durcheinander ansprach, wies er stumm aber mit leidender Miene auf das halbhohe Sideboard mit seinen zwei Klapptüren in meinem Rücken. Ich bückte mich und streckte die Hand aus. Eine Flut von Papieren stürzte mir entgegen und begrub meine Füße unter sich. Kuhn wagte nicht aufzusehen.

      Er fädelte Katgut in eine gebogene Nadel, die mich an eine Teppichnadel erinnerte, und sah glücklich aus. „Ich bin ein hervorragender Näher, wissen Sie. Schnell, sauber und für die Ewigkeit gedacht. Beim nächsten Selbstmörder, der sich auf die Schienen legt, zeige ich Ihnen mal, was wirkliche Kunst ist. Besonders die Tabaksbeutelnaht macht mir so schnell keiner nach, aber auch mein Matratzenstich kann sich sehen lassen. Manchmal finde ich es jammerschade, wissen Sie? Da bahren die Bestatter die Leichen auf, die ich Ihnen kunstvoll wieder zusammengeflickt habe, und alles, was die Angehörigen zu sehen bekommen, sind das Gesicht und die Hände des Toten. Wäre es nicht viel tröstlicher für sie, die Feinheit meine Nähte und das Wunderwerk eines rekonstruierten Schädels zu bewundern? Zu sehen, aus wie vielen Knochenstückchen ich ihren geliebten Hermann wieder zusammengesetzt und ihm mit Wachs und Schminke ein neues Kinn, eine neue Nase geschaffen habe?“

      „Ich glaube kaum“, brachte ich einsilbig über die Lippen.

      „Aber die meisten Leute sind eben Kunstbanausen. Sie wollen nur diesen widerwärtig friedvollen Ausdruck auf dem Gesicht der Leiche sehen. Guckt mal, Oma, Opa und Cousine, wie friedlich unser Kläuschen schläft auf seiner Wolke da oben im Himmel, wo die Engelein über ihn wachen.“ Kuhn schnaufte und machte in das eine Ende vom Katgut einen dicken Knoten. „Alles, was sie von uns wollen, ist unsere Hilfe, sich selbst zu belügen.“ Er hob in einer abrupten Geste die Hände, und Nadel und Katgut verschwanden in seiner Einsteinfrisur.

      „Au, verdammt.“

      Ich half ihm, sich zu befreien, was hieß, dass ich ihm die Spitze der Nadel aus dem Ohrläppchen ziehen und das Blut stillen musste. Ihn kümmerte es nur am Rande. „Welches Kläuschen stirbt schon friedlich, wenn es unter die Räder eines Sattelschleppers gerät, he? Stattdessen könnten sie doch auch sagen: Guckt mal, Oma, Opa und Cousine, wie gut der Onkel unser Kläuschen wieder hingekriegt hat. Alles sitzt wieder da, wo es mal gesessen hat. Das Ohr, die Nase und sogar das Bein sind wieder dran. Und guckt mal, was für zierliche Stiche. Viel ordentlicher als die von Tante Rosa auf dem Kreuzstichdeckchen.“

      An dieser Stelle prustete ich los. Der wild herumfuchtelte Kuhn, der sich die Nadel ins eigene Ohr rammte, seine flammende Rede über die Nichtwürdigung seiner Kunst und Tante Rosa mit ihrer Kreuzstichdecke - ich drehte durch. Die nächsten Minuten hing ich wie ein schlaffer Sack über dem Schreibtisch und tat, was ich schon zwölf Monate zuvor hätte tun sollen. Ich lachte. Hysterisch zwar, doch dafür aus vollem Herzen und bis mir die Tränen kamen. Die erste Minute starrte mich Kuhn entgeistert an, und über seine Miene huschten in raschem Wechsel Missbilligung, Ärger und Kränkung, doch dann begann es auch um seine Mundwinkel zu zucken, und nur Sekunden später hallten die Wände seines kleinen Leichenschauhauses von unserem gemeinsamen Lachen wider.

      Als wir uns schließlich wieder in den Griff bekamen, mit tränennassen Gesichtern, hockte Kuhn auf dem Boden, mit dem Rücken zur Wand und umklammerte mit seinen knochigen Armen die Knie. Er japste nur noch kläglich. Ich ebenfalls. Mir war, als hätte jemand mein Innerstes nach außen gestülpt und in der Waschmaschine durchgekocht, sodass ich nun - fleckenlos rein - mein Leben neu beginnen konnte. Hier, am Schreibtisch des Thantaopraktikers Kuhn, war ich auf dem Boden des ultimativen Lochs angekommen.

      Dachte ich jedenfalls.

      Kuhn rappelte sich nur mühsam auf die Beine, der Lachanfall hatte seine letzten Energiereserven aufgebraucht, und sein Akku war so leer wie sein Gesicht.

      „Was war das?“, fragte er matt.

      „Medizin!“, entgegnete ich. „Und wenn Sie mit Ihrer Leiche fertig sind, dann Abmarsch nach Hause mit Ihnen. Sie müssen schlafen. Und was essen.“

      Er hielt die gebogene Nadel mit dem Katgut in die Höhe und musste sich zweimal räuspern, bevor er einen Satz über die noch immer bebenden Lippen brachte. „Der Mund“, krächzte er schließlich. „Ich muss erst noch den Mund machen und dann den Bestatter anrufen, dass er James abholt. Heute Nachmittag ist die Aufbahrung.“

      „James?“

      „James Dean. Ich hab‘ da hinten einen Klienten, der eine gewisse Ähnlichkeit mit James Dean hat. Wissen Sie, wenn ich einen von denen geliefert bekomme, die einem berühmten Filmschauspieler oder Politiker ähneln, helfe ich hier und da gern ein wenig nach, um die Ähnlichkeit zu verstärken. Nur so ein Hobby von mir, nichts von Bedeutung“, fügte er hastig hinzu, als er meinen ungläubigen Gesichtsausdruck sah. „Ich nenne es Creative