Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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      Natürlich konnte ich mich des Hundes ganz einfach entledigen, indem ich ihn, gut verpackt, in den Müllcontainer warf. Diese Lösung bot den Vorteil, dass die Polizei im Fall einer Wohnungsdurchsuchung bei mir nicht fündig wurde. Andererseits suchte sie ihn gar nicht, weil ihr seine bloße Existenz unbekannt war. Sonst hätte es sicher in der Zeitung gestanden. Sie fahndeten nach goldenen Kerzenständern, oder was immer Einbrecher in ihren Säcken abtransportierten. Den Hund suchte der Mörder, und wenn der ihn bei mir nicht auf Anhieb fand, würde er sich eine Zigarette anzünden und ... Nein, Churchill im Müll zu entsorgen, war doch keine so gute Lösung, erst einmal musste es der Kleiderschrank tun. Dafür zerriss ich schweren Herzens den Scheck und verbrannte jeden Schnipsel einzeln im Aschenbecher. Einlösen konnte ich ihn sowieso nicht. Obgleich mein Name nicht auftauchte, sondern nur An Überbringer auf dem Papier stand, würde sich der Schalterbeamte meinen Personalausweis zeigen lassen und die ID-Nummer notieren.

      6.

      Die nächsten zwei Tage passierte rein gar nichts, wenn man von einem Aushang am Schwarzen Brett im Hausflur absah, in dem uns Paul, der schüchterne junge Mann aus der ersten Etage, darüber informierte, dass ein Dieb durchs Haus schlich und ihm die Zeitungen von der Fußmatte stahl. Ich traf ihn zufällig, als ich meinen Briefkasten ausnahm, und wir diskutierten eine Weile darüber, wie man des Diebes habhaft werden könnte. Er bräuchte dringend die Seite mit den Kleinanzeigen, klagte Paul, denn neben seinem Halbtagsjob als Briefträger kaufe er von privat Trödel auf und klappere damit an den Wochenenden die Flohmärkte der Umgebung ab, damit er sich selbst ernähren könne und nicht in die Klauen von Hartz IV gerate. Ich nickte verständnisvoll und bot ihm meine Zeitung an. Dieselbe, die ich ihm kurz zuvor geklaut hatte. Paul kam auf einen Orangensaft mit hoch, aber gerade, als ich anfing, mich für ihn zu erwärmen, erzählte er mir von seinem Freund, dem Krankenpfleger, der an AIDS gestorben war, und fing an zu weinen. Ich beschloss, ihm keine Zeitungen mehr zu klauen, er litt auch ohne mich genug. Außerdem war er hoffnungslos schwul.

      Als er gegangen war, mit überschwenglichem Dank für Zeitung und Trost, rief ich bei der DEWEZET an und handelte ein günstiges Probeabo für zwei Wochen aus. Länger schien sinnlos. Die Artikel über den brutalen Doppelmord im Villenviertel wurden bereits dünner, und die Informationen begannen sich zu wiederholen. Offiziell ging die Polizei noch immer von Raubmord aus, auch wenn die Berichterstattung wenig Zweifel daran ließ, dass der verwahrloste und ärmliche Zustand von F.C.‘s und Brunos Villa eigentlich keinen Einbrecher hinter dem Ofen hervorzulocken vermochte. Doch mittlerweile sprach die Justiz sogar von zwei mutmaßlichen Tätern, einem Mann und einer Frau. Die Spurensicherung habe im Haus sowohl ein fahlblondes Frauenhaar als auch den halben Abdruck eines Männerfußes im Vorgarten gefunden. Das Haar sei zur DNA-Analyse eingeschickt worden, der Abdruck werde überprüft.

      Die ganze Zeit über war mir ausgesprochen mulmig zumute. Seit den Morden rotierte nicht nur der Polizeiapparat von Hameln. Sogar Hannover hatte Verstärkung geschickt. Noch immer kreisten Hubschrauber über der Stadt, der Klütwald wurde mit Suchhunden durchkämmt, als ob sich die Täter in einem Baumhaus versteckt hielten, und die Autofahrer klagten über verschärfte Radarkontrollen an den Ausfallstraßen. Die Kripo schien von der seltsamen Schlussfolgerung auszugehen, wer vor einem Mord nicht zurückschrecke, sei auch skrupellos genug, Geschwindigkeitsbegrenzungen zu überschreiten und obendrein so dummdreist, die Tatwaffe oder die goldenen Kerzenständer im Handschuhfach aufzubewahren. Und ich taperte zu Hause im Storchengrund durch meine Dachgeschosswohnung und fragte mich, ob man mir all diese horrenden Rechnungen in voller Höhe anlasten würde, wenn mich die Polizei schnappte und feststellte, dass das angebliche Diebesgut nichts weiter als ein ausgestopfter Hund war. Mit jedem Tag, den ich verstreichen ließ, ohne mich zu melden, mauerte ich mich in meiner Sackgasse weiter ein.

      Mein umlackiertes Fahrrad stand noch immer im Keller. Paul, dem jungen Mann von unten erzählte ich, ich habe das alte Rad endlich verschrottet, weil unter meinem Gewicht der Rahmen weggebrochen sei und mir auf dem Flohmarkt ein neues besorgt. Dasselbe teilte ich Frau Reschke mit, die auf einen Plausch hochkam, um sich über die Lautstärke des Fernsehers zu beschweren. Tags darauf fand ich in meinem Briefkasten diverse Rezepte für eine Diätkur vor. Da mich das ständige Geklingel an meiner Wohnungstür nervös machte, beschloss ich mich in Zukunft lautstärkemäßig ein wenig zurückzuhalten. In meiner Situation konnte ich mir einen Protestmarsch der Nachbarn nicht leisten. An die kupferroten Haare gewöhnte ich mich nur langsam, doch am Samstagmorgen wachte ich auf, blinzelte in den Spiegel und fand sie gar nicht mal so übel.

      Churchill, der ausgestopfte Hund, verbrachte seine Tage im Schlafzimmerschrank. Abends kramte ich ihn heraus, und er durfte mir beim Fernsehen oder Lesen Gesellschaft leisten. Schließlich war er außer mir das einzige Lebewesen in der Wohnung - wenn auch ein totes. Ich hatte ihn vom Kopf bis zu den wuscheligen Pfoten einer eingehenden Untersuchung unterzogen, ihn umgedreht und sogar geschüttelt, ohne mehr zu erreichen, als dass ihm ein paar Haare ausfielen. Es klimperten keine Golddukaten in seinem Inneren, es gab keine verborgenen Reißverschlüsse im Fell, die bunten Steine am Halsband waren nur Tand, nichts an Churchill ließ sich aufklappen, und soweit ich sehen konnte, hatte ihm auch niemand eine Schatzkarte in die knochenharte Haut tätowiert. Alles, was ich fand, war die lange uralte Bauchnarbe, wo der Präparator den armen Hund wieder zunähen musste, nachdem er Gott weiß, was mit seinen Innereien angestellt hatte. Ich kam zu der Überzeugung, dass Churchill genau das war, was er optisch darstellte: ein ausgestopfter Hund, der niemanden, geschweige denn einen Mörder, zum Töten animieren würde. Warum immer F.C. ihn aus dem Haus geschafft hatte, mit ihrer und Brunos Ermordung konnte er ganz einfach nichts zu tun haben. Meine Phantasie war mit mir durchgegangen. Für den Fall jedoch, dass ich mich irrte und der Mörder irgendwann bei mir vorbeischaute, sollte er den Hund ohne größere Suchaktion schnell finden und noch schneller wieder verschwinden.

      Außerdem hatte F.C. nicht ganz unrecht, in Churchills Gegenwart fühlte man sich etwas weniger einsam.

      Doch Samstag Nachmittag hielt ich es trotz Hund nicht mehr aus. Aus meinem Kühlschrank starrte mir die gähnende Leere entgegen, statt Mineralwasser trank ich mittlerweile frisch Gezapftes aus der Leitung, und anstelle von Toilettenpapier benutzte ich Papiertaschentücher, die nun ebenfalls zur Neige gingen. Ich musste zum Bankautomaten, ich musste einkaufen, ich musste an die frische Luft und mein Leben wieder aufnehmen. In der Samstagszeitung stand etwas Neues. Die Polizei suchte nach einem Hund, der sich zum Zeitpunkt des Doppelmordes eventuell in der Villa aufgehalten haben könnte. Man hatte eine Bürste mit Hundehaaren gefunden. Von einem toten, ausgestopften Hund war keine Rede. Weiterhin schloss die Soko Fiona mittlerweile ein Drama im familiären Umfeld aus.

      Familie? Im Revival war keine Rede von einer Familie gewesen.

      Ich atmete tief durch: Wenn bislang, fünf Tage nach dem Mord, weder mein Name in den Medien noch mein Mörder an der Wohnungstür aufgetaucht war, stiegen meine Chancen, mit einem blauen Auge davonzukommen.

      Entschlossen, aber mit weichen Knien, trug ich mein kornblumenblaues Fahrrad an die frische Luft. Versorgungsmäßig wohnte ich, mit Ausnahme eines kleinen Tante-Emma-Ladens gleich um die Ecke, in einer Gegend der langen Wege. Ich steuerte den Geldautomaten am Brückenkopf an und radelte dann gleich weiter Richtung Penny-Markt am Stadtrand. Aus irgendeinem mir nicht einleuchtenden Grund fühlte ich mich seltsam belebt, geradeso, als stünde ich im Begriff, in eine Achterbahn einzusteigen, die nur darauf wartete, bis ich kopfüber in einem ihrer Loopings hing, um sich vom Strom abzukoppeln. Eine Art masochistisches Prickeln.

      Zu meiner großen Bestürzung zog mein Fahrrad die Blicke der übrigen Verkehrsteilnehmer auf sich. Wie eine Kornblume aus tristem Weizen der Sonne entgegenleuchtet, bildete mein Fahrrad im Grau der Straßen einen Farbfleck, der sich nicht übersehen ließ. Wahrscheinlich leuchteten meine Haare nicht weniger, und gerade eben färbte der Phantomzeichner der Soko Fiona mein Haar rot und mein Fahrrad blau, und der Mörder dachte: Sieh an, deshalb habe ich sie noch nicht gefunden.

      Und doch kam es mir vor, als trüge ich mein Kinn unter beziehungsweise über der neuen Farbe ein wenig höher.

      Aus einem der offenen Fenster des Geburtshauses gegenüber vom Supermarkt quäkte ein Baby, und ich fragte mich, was wohl