Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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Abstraktion oder eine reine faculté de langage (Saussure 1986:25) ist,20 oder, daß auf der Ebene der historischen Einzelsprache bestimmte Diskurstraditionen wirksam werden. Hinzu kommt, daß Coseriu dieses Konzept einerseits mit den von Humboldt abgeleiteten Merkmalen der menschlichen Sprache, nämlich ‚Tätigkeit‘ (energeia), ‚Wissen‘ (dynamos) und ‚Produkt‘ (ergon) korreliert (Coseriu 1958)21 und andererseits mit seiner Trichotomie ,System-Norm-Rede‘ (Coseriu 1952), wodurch die Saussure’sche Opposition langue vs. parole ergänzt werden soll.

      Auf der Ebene der historischen Einzelsprache, die hier von besonderem Interesse ist, unterscheidet er aufgrund der Tatsache, daß diese für ihn keine Einheit darstellt, wiederum drei verschiedene Ebenen mit bestimmten Charakteristika:

      - Unterschiede der geographischen Ausdehnung einer Sprache, d.h. DIATOPISCHE Unterschiede, die Lokaldialekte und Regionalsprachen konstituieren. […]22

      - Unterschiede zwischen den sozial-kulturellen Schichten einer Sprache, d.h. DIASTRATISCHE Unterschiede, die sprachliche Ebenen wie Hochsprache, gehobene Umgangssprache, Volkssprache charakterisieren. […]

      - Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachstilen, d.h. DIAPHASISCHE Unterschiede, die synphasische Ebenen wie gebräuchliche Umgangssprache, feierliche Sprache, familiäre Sprache, Sprache der Männer, Sprache der Frauen, poetische Sprache, Prosasprache usw. voneinander unterscheiden. (Coseriu 1973:38–39)

      Eine wichtige Ergänzung dazu sind seine darauffolgenden Erläuterungen, die deutlich machen, daß er sich die einzelnen Ebenen als sich überlagernde vorstellt, so daß verschiedene Merkmale auch in Kombination auftreten können, wie er an dem Verb se dévorer erläutert, welches sowohl als ‚südfranzösisch‘ (diatopische Ebene) als auch als ‚familiär‘ (diaphasische Ebene) charakterisiert werden kann. Dies bringt ihm zum Ergebnis, daß „eine historische Sprache nie ein einziges Sprachsystem“ sein kann, „sondern immer ein DIASYSTEM, eine Summe verschiedener Sprachsysteme, die miteinander koexistieren und sich gegenseitig beeinflussen und überlagern“ (Coseriu 1973:40).23

      Eine weitere wichtige Unterscheidung, die er in diesem Kontext trifft, ist die zwischen Architektur und Struktur einer Sprache, wobei er unter Architektur die „inneren Unterschiede“ versteht, also nicht die Oppositionen im Saussure’schen Sinne, sondern die Verschiedenheiten, die sich zwischen den eben ausgeführten Ebenen manifestieren, während die Struktur sich gerade durch die Oppositionen, d.h. durch die Unterschiede auf einer Systemebene, also innerhalb einer funktionellen Sprache, konstituiert (Coseriu 1970:32–34; 1973:40).24

      Die in der Romanistik prominenteste Weiterentwicklung dieser diasystematischen Ebenengliederung der Sprache wurde nach einigen Vorarbeiten (z.B. Koch/Oesterreicher 1985; Koch 1985, 1986; Oesterreicher 1988) in einer Untersuchung zum gesprochenen Französischen, Italienischen und Spanischen von Koch/Oesterreicher (11990) präsentiert. Im Zuge weiterer Publikationen (z.B. Koch/Oesterreicher 1994, 2001; Koch 1997, 1999; Oesterreicher 1993, 1995, 1997) und einer überarbeiteten spanischen Übersetzung (1997) sowie einer Neuauflage der ersten Monographie (²2011) ist es inzwischen durchaus usus, vom Modell ,Koch/Oesterreicher‘ zu sprechen, wenn man eine bestimmte Betrachtungsweise in der romanistischen Varietätenlinguistik meint.

      Dieses im Laufe der Zeit herausgearbeitete Modell ist durch viele moderne sprachwissenschaftliche Theorien und Konzepte inspiriert, dennoch kann man konstatieren, daß es bestimmte Grundpfeiler theoretischer Vorgänger-Modelle gibt, auf denen es ruht und die im Folgenden skizziert werden sollen.

      Eine der für Koch/Oesterreicher fundamentalen Differenzierungen im Hinblick auf ihre Untersuchung zur gesprochenen Sprache ist die auf Söll (11974) zurückgehende Opposition von Konzeption und Medium. Ausgehend von der einfachen Feststellung, daß man Umgangssprache auch schreiben bzw. lesen kann und umgekehrt elaborierte Texte auch vorgelesen werden können und damit hörbar werden, trifft er zunächst die mediale Unterscheidung phonisch vs. graphisch mit dem Hinweis, daß erstere Kommunikationsform die primäre sei,25 um dann noch eine konzeptionelle zwischen schriftlich und mündlich vorzunehmen (cf. Söll 1985:19–20).

      Söll, der seine theoretischen Überlegungen zwar prinzipiell allgemein verstanden haben will, aber diese rein anhand des Französischen konzipiert, stellt im Folgenden die sich überlagernden Differenzierungen zwischen code phonique vs. code graphique und code/langue parlé vs. code/langue écrit in einer Matrix dar. Bedingt durch den seit der Normierungsphase des 16./17. Jh. großen Normdruck im Französischen und die dadurch historisch gewachsene große Diskrepanz zwischen konzeptionell gesprochener und konzeptionell geschriebener Sprache, lassen sich die Unterschiede im Modell besonders gut illustrieren.

      Koch/Oesterreicher (2011:3) übernehmen von Söll – unter Auslassung zahlreicher weiterer interessanter dort diskutierter Ansätze26 – genau diesem Aspekt und betonen dabei vor allem die absolute Dichotomie der medialen Opposition im Sinne einer Entweder/Oder-Relation und das Kontinuum im Bereich der konzeptionellen Differenzierung von ‚geschrieben‘ vs. ‚gesprochen‘. In der von Koch/Oesterreicher übernommenen Matrix von Söll, die sie je um ein italienisches und spanisches Beispiel ergänzen wird ein grundsätzliches Problem offenbar, nämlich, daß einerseits die Relation von konzeptioneller Mündlichkeit/Schriftlichkeit je Sprache eine andere ist und andererseits die mediale Repräsentation eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.27 So sollte nach Hunnius (2012:38–41) dem Medium, also der Frage nach der medialen Realisierung, grundsätzlich mehr Gewicht beigemessen werden, da die gesprochene Sprache eben nicht kategorisch von der ihr zugehörigen medialen Umsetzung zu trennen ist. Gerade in Bezug auf die neuere Kommunikation und ihre Formen (v. infra E-Mails, Chats, Online-Foren etc.) wird dies auch von Krefeld (2015a) kritisch gesehen und von Massicot (2015:112, 149–150, 190–191) empirisch gestützt, die ebenfalls die größere Abhängigkeit vom Medium hervorhebt.

      Ein wesentlicher Verdienst von Koch/Oesterreicher ist es nun, mithilfe der Ergebnisse der bisherigen Forschung zu den je unterschiedlichen Implikationen von gesprochener und geschriebener Sprache sowie, damit zusammenhängend, bestimmten Kommunikationsmustern bzw. Versprachlichungsstrategien,28 ein Modell entwickelt zu haben, welches das von Söll postulierte konzeptionelle Kontinuum in Bezug auf spezifische Faktoren näher erfaßbar machen soll. Um den Grad konzeptioneller Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit einer Äußerung zu bestimmen, schlagen sie zehn Parameter vor, die die Kommunikationsbedingungen einer konkreten Äußerungssituation beschreiben sollen: Grad der Öffentlichkeit, Grad der Vertrautheit (der Kommunikationspartner), Grad der emotionalen Beteiligung, Grad der Situations- und Handlungseinbindung, Referenzbezug (Bestimmung der Sprecher-origo), Grad der physischen Nähe (der Kommunikationspartner), Grad der Kooperation (Mitwirkungsmöglichkeiten), Grad der Dialogizität, Grad der Spontaneität, Grad der Themenfixierung (Koch/Oesterreicher 2011:7). Mit Hilfe dieser Parameter ist nun für sie jede Äußerung innerhalb des von ihnen so genannten Kontinuums zwischen kommunikativer Nähe und kommunikativer Distanz exakt zu verorten.29

      Nichtsdestoweniger wurden mit dieser Zusammenstellung wichtige Anhaltspunkte zur Einordnung von Gesprächssituationen geliefert, die dann die beiden Autoren in Korrelation zu bestimmten Versprachlichungsstrategien setzen, dargestellt in der inzwischen bekannten Graphik eines Parallelogramms, in der die mediale Differenzierung der Sprache (graphisch/phonisch) und das konzeptionellen Nähe-Distanz-Kontinuum verknüpft werden. Der Grad von Nähe bzw. Distanz wird dabei durch die genannten Kommunikationsbedingungen determiniert und äußert sich in Form von bestimmten Sprachphänomenen und Versprachlichungsstrategien in einer konkreten Äußerung in einer bestimmten Sprache (cf. Nähesprechen vs. Distanzsprechen). Im Zuge dieser Korrelierung wird auch deutlich, daß es zwischen dem graphischen Code und der Distanzsprache sowie zwischen dem phonische Code und der Nähesprache eine bestimmte Affinität gibt (Koch/Oesterreicher 2011:12). Hierbei sei noch darauf verwiesen, daß die Parameter der Versprachlichungsstrategien – aufgeführt sind nur Art der Kontextpräferenz, hoher/niedriger Planungsgrad, Vorläufigkeit/Endgültigkeit, Aggregation/Integration – noch kürzer als die Kommunikationsbedingungen abgehandelt werden (weitere Erläuterungen u. Parameter in Koch/Oesterreicher 1985:21–23), obwohl angesichts der dort durchgeführten Anwendung auf die drei romanischen Sprachen eigentlich das Gegenteil