Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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unverzichtbar bleibt. Als Übersichtsstudien mit je unterschiedlichen Schwerpunkten in Form von Aufsätzen seien exemplarisch Migliorini (1949), Fubini (1961), Bahner (1983) und Kristeller (1973/1975; 1984) genannt sowie Faithfull (1953) zum spezifischen Aspekt der lingua viva. Einige ausgewählte Humanisten des 15. und 16. Jhs. werden in der knappen Zusammenstellung bei Dionisotti (1968) diskutiert, allerdings im Wesentlichen unter dem Aspekt der questione della lingua.

      Die wichtigsten Protagonisten des 15. Jh. in dieser Debatte werden in der fundierten Darstellung von Tavoni (1984) behandelt, der zahlreiche Einzelfragen behandelt sowie wichtige Zusammenhänge zwischen den Konzepten der Humanisten herausarbeitet; zudem finden sich dort Auszüge der jeweils relevanten Primärtexte. Auf Tavoni basiert im Wesentlichen auch das Buch von Marchiò (2008), allerdings mit einem leicht veränderten und erweiterten Inventar der an der Debatte beteiligten Humanisten. Auch hier werden Primärtexte in Auszügen präsentiert, die dann im Wesentlichen inhaltlich zusammengefasst und partiell kommentiert werden, allerdings deutlich weniger tief als bei Tavoni. Äußerst wertvoll und kondensiert erweist sich die Monographie von Mazzocco (1993), der ebenfalls die wichtigsten Teilnehmer und den historischen Kontext behandelt, allerdings ohne Textauszüge wie Tavoni und Marchiò, dafür mit reichlich Zitaten und zahlreichen Belegen, die die Zusammenhänge zwischen den humanistischen Autoren verdeutlichen. Eine kürzere aber dennoch aufs Wesentliche reduzierte Darstellung findet sich in einigen Kapiteln bei Coseriu/Meisterfeld (2003). Hier werden ebenfalls keine vollständigen Primärtexte abgedruckt, sondern es finden sich nur einzelnen Schlüsselzitate, die dann kommentiert und in den sprachhistorischen Zusammenhang gestellt werden. Eine kommentierte Auswahl von Textauszügen allein mit Biondo, Bruni, Poggio und Valla wurde kürzlich auf Französisch von Raffarin (2015) herausgegeben, was eine nützliche Quelle in Bezug auf die Texte darstellt, jedoch als Sekundärliteratur wenig ergiebig ist. Eine sehr umfangreiche Einleitung und ausführliche Anmerkungen zu den abgedruckten Primärtexten samt italienischer Übersetzung bieten schließlich aktuell Marcellino/Ammannati (2015), allerdings rein für die Schlüsseltraktate von Bruni und Biondo. Für das 16. Jahrhundert kann außer auf die allgemeinen Darstellungen zur questione della lingua und zur italienischen Sprachgeschichte15 nur auf Schlemmer (1983a) zurückgegriffen werden, der in seiner Untersuchung allerdings den Fokus auf das Superstrat hat,16 sowie partiell auf Marazzini (1989), der das Sprachbewußtsein vom Humanismus bis zur Romantik untersucht. Vereinzelte Hinweise finden sich auch in der auf Vorlesungen der 1970er Jahre zurückgehenden und erst kürzlich herausgegebenen Sprachwissenschaftsgeschichte von Coseriu (2020). Neuere Aufsätze, die vorliegende Debatte mitberücksichtigen und das 15. und 16. Jh. behandeln, wären Schöntag (2017b) und Eskhult (2018).

      Gerade die von italienischen Wissenschaftlern verfassten Arbeiten zu dieser Thematik haben oft eher eine gesamtphilologische Ausrichtung, in dem der hier im Fokus stehende linguistische Aspekt eher beiläufig behandelt wird, d.h. auch, daß Begiffe wie Diglossie oder diastratisch wenn, dann nur beiläufig auftreten und keine durchgehende sozio- oder varietätenlinguistische Verortung der einzelnen Traktate vorgenommen wird. So verwenden beispielsweise Tavoni (1984:XII, XV) und Mazzocco (1993:192, 195, 199) allein den Terminus diglossia, aber keine Begriffe des Diasystems; Marcellino/Ammanati (2015) immerhin neben diglossia (id. 2015:23) auch diastratico (id. 2015:25), während bei Marchiò (2008) mit diesen Begriffen gar nicht operiert wird. Letztlich bieten allerdings auch Schlemmer (1983a) oder Coseriu/Meisterfeld (2003), die sehr wohl einzelne Phänomene diasystematisch benennen, keine systematische varietätenlinguistische Analyse.

      Die in der Forschung nachgezeichnete Debatte wird zudem meist auf die Anfangsjahre bzw. maximal auf das 15. Jh. beschränkt (v. supra),17 während hier, aus genannten Gründen (cf. Kap. 1.2) explizit der Zeitraum auf das 16. Jh. bzw. bis Anfang des 17. Jh. ausgedehnt wird (1435–1601) und somit auch mehr Humanisten und ihre Positionen berücksichtigt werden können.

      Die Spezialliteratur zu den einzelnen Protagonisten der vorliegend nachgezeichneten Debatte sind den entsprechenden Kapiteln zu entnehmen, ebenso die zahlreichen Einzelstudien zu diversen Teilaspekten des abgehandelten Themas.

      3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive

      Wie bereits in der Einleitung angesprochen (cf. Kap. 1.3 Untersuchungsebenen) besteht die methodische Grundlage der vorliegenden Arbeit darin, eine Analyse auf zwei Ebenen vorzunehmen, um das Ziel, nämlich die Erfassung der Vorstellungen über das antike Latein in der Frühen Neuzeit und den Wandel dieses Verständnisses adäquat erschließen zu können (cf. Kap. 1.4 Untersuchungsmethode- und Untersuchungsziel).

      Auf der ersten Analyseebene soll dabei versucht werden, die frühneuzeitlichen Texte rein unter dem Blickwinkel moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Erkenntnisse und Begrifflichkeiten zu erfassen, um sie dann auf der zweiten Untersuchungsebene wieder zu rekontextualisieren, d.h. sie adäquat im Kontext der Zeit zu verorten. Durch die Gegenüberstellung von moderner, rein varietäten- und soziolinguistischer und traditioneller, gesamtphilologischer, historischer Perspektivierung sollen zum einen methodisch schärfer als bisher die beiden Herangehensweise voneinander getrennt werden und zum anderen sollen durch eben diese Trennung auf der Analyseebene die Ansätze moderner Forschung präziser von den zeitgeschichtlichen Implikationen abgehoben werden.

      Im Folgenden sei nun deshalb zunächst ein Abriß zu den theoretischen Grundlagen gegeben, in dem Modelle und Begrifflichkeiten im Sinne eines wissenschaftlichen Instrumentariums reflektiert werden sollen.

      3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle

      3.1.1 Varietätenlinguistische Perspektive

      Die im vorliegenden Fall gestellte Aufgabe an ein begriffliches Instrumentarium ist die Fähigkeit zu einer möglichst präzisen Erfassung von bestimmten historischen Phänomenen und Konstellationen.

      Vorrangig geht es um die Beschreibung der Architektur des Lateins in der Antike sowie um die Situationen seiner Verwendung, auch im Verhältnis zu anderen Sprachen. Darüber hinaus ist es aber auch notwendig, Phasen der Entwicklung des Lateins bis in die Frühe Neuzeit darzustellen sowie den situationsabhängigen Gebrauch von Latein und Italienisch in derselben Epoche. Dabei sollen sowohl die nach heutigen wissenschaftlichen Maßstäben ermittelbaren sprachlichen Phänomene und Situationen der Sprachverwendung beschrieben werden können, als auch deren Wiedergabe aus Sicht der antiken und humanistischen Sprachreflexion.

      Zentrale Aspekte sind demnach die Vielfalt und Einheit von Sprachen, situationsbedingter Gebrauch von Sprachen sowie Sprachwandel.

      Die beiden hier in Betracht zu ziehenden linguistischen Teildisziplinen Varietätenlinguistik und Soziolinguistik liefern jedoch Modelle, die in ihrer Mehrheit, nicht nur, aber hauptsächlich, für synchron gegenwartsbezogene Phänomene konzipiert sind; nichtsdestoweniger sind sie hier primäre Referenz und sollen hier zunächst weitgehend unabhängig von ihrer Adäquatheit in Bezug auf die anvisierte historische Konstellation untersucht bzw. kritisch hinterfragt werden.

      Aus der hier im Vordergrund stehenden romanistischen Perspektive ist das prominenteste Modell zur Beschreibung der Heterogenität einer Sprache das von Coseriu entwickelte System der verschiedenen Dimensionen von Sprachvariation, das sogenannte Diasystem.

      Zur adäquaten Erfassung und Beschreibung der Coseriu’schen Theorie gehört zunächst seine grundlegende Unterteilung des Sprachlichen an sich. So differenziert er in Bezug auf die Tätigkeit des Sprechens drei Ebenen, nämlich die universelle Ebene, die historische Ebene und die individuelle (oder aktuelle) Ebene. Was prima facie wie eine Umbenennung der Saussure’schen Konzepte und Begrifflichkeiten langage, langue und parole aussieht (Saussure 1986:23–35), birgt trotz aller unbestreitbarer Referenz an die prägende theoretische Differenzierung des Begründers des Strukturalismus einige Spezifika, die eine direkte In-Bezug-Setzung dieser Begriffspaare nicht zulassen.18 Zunächst einmal liegt der Trichotomie Coserius eine andere Perspektive zugrunde, insofern er durch seine Benennung die jeweilige Zuordnung und die Art der Abstraktion noch deutlicher in den Vordergrund stellt. Zudem weist Coseriu auf bestimmte Charakteristika hin, die der jeweiligen Ebene zugehören, die bei Saussure so nicht in