Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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zwischen Mittelalter und Neuzeit adäquat darzustellen sowie Gemeinsamkeiten und Diskrepanzen zwischen frühneuzeitlichem und modernem Wissensstand präzise herauszuarbeiten.

      Das Desiderat des hier skizzierten Unterfangens ergibt sich nicht nur aus der bisher fehlenden Begriffsgeschichte zum Vulgärlatein (cf. Kiesler 2006:8), sondern auch aus einer bisher noch nicht in gebotenem Umfang vorliegenden Nachzeichnung dieser spezifischen frühneuzeitlichen Diskussion,11 vor allem nicht unter dem dezidierten Blickwinkel moderner Erkenntnisse der Varietäten- und Soziolinguistik vor dem Hintergrund einer vertieften Forschung zur antiken Sprachsituation und der Entstehung der romanischen Sprachen.

      Die Vorgehensweise die gesamte Debatte durch die Behandlung der Positionen der einzelnen Humanisten zu strukturieren, richtet sich zum einen ganz pragmatisch nach der Mehrzahl bisheriger Forschungsarbeiten zu diesem Thema (cf. Kap. 2), zum anderen hat es den Vorteil, daß dadurch die gesamte Denkrichtung einzelner Protagonisten und der Kontext der Entstehung einzelner Ideen zu dieser Debatte deutlicher herausgearbeitet werden können. Um hingegen den Verlauf der Debatte und bestimmte Entwicklungstendenzen sowie die entsprechenden einwirkenden Faktoren aufzeigen zu können, dienen die jeweiligen Zwischenresümees sowie das ausführliche Fazit am Schluß der Arbeit.

      2. Forschungsstand

      Der vorliegende Überblick über die aktuelle Forschungsliteratur ist an dieser Stelle bewußt selektiv und knapp gehalten, da eine entsprechende Behandlung pro einzelnem Themenkomplex in den verschiedenen theoretischen Kapiteln bereits erfolgt ist. Ausgeklammert werden sollen hier deshalb insbesondere die Forschungsübersichten zu den Fragen der Sozio- und Varietätenlinguistik, da hierzu einzelne Kapitel folgen, in denen die aktuelle Forschungslage kontrovers diskutiert wird (cf. Kap. 3.1.1, 3.1.2), sowie gleichermaßen zum Phänomen der Rekontextualisierung und Hermeneutik (cf. Kap. 3.2).

      Es sei deshalb mit einem kurzen Überblick zum Thema der Architektur des Lateinischen begonnen. Eine Einführung in die Geschichte der lateinischen Sprache bieten die Synopsen von Schmidt (1996) im Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL) mit der Genese aus dem Indogermanischen, von Steinbauer (2003) in den Handbüchern zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK) zur Romanischen Sprachgeschichte sowie von Herman (1996) im LRL und von Seidl (2003) im HSK, beide mit einer Aufschlüsselung der Varietäten. Als Handbücher bzw. umfangreiche Darstellung sind Clackson (2011) und Willms (2013) zu nennen, letztere mit expliziter Ausrichtung an Studierende. Hervorzuheben ist das außerordentlich fundierte Werk von Poccetti/Poli/Santini (2005) zur Geschichte und den Varietäten des Lateinischen mit vielen ausführlich diskutierten Einzelaspekten. Ebenfalls in ihrer Materialfülle unverzichtbare Werke sind die von Adams (2003, 2007), der wohl erstmals systematisch die Diatopik des Lateins untersucht sowie die Mehrsprachigkeit der römischen Gesellschaft.

      Zu den Ursprüngen des Lateinischen liegt eine Monographie von Baldi (2002) vor, eine wichtige Studie zum Sprachbewußtsein und der (stilistischen) Variation des Lateinischen ist die sehr detaillierte und mit viel Belegmaterial angereicherte Arbeit von Müller (2003). Aus romanistischer Perspektive arbeitet Müller-Lancé (2006), der sowohl die lateinische Sprachgeschichte als auch varietätenlinguistische Differenzierungen berücksichtig. In der Latinistik gilt das Werk von Hofmann (³1951, [11926]) zur Umgangssprache als ein früher Blick auf die Variation des Lateinischen. Diese Perspektive ist zum Teil bis heute prägend und nur langsam finden moderne varietätenlinguistische Einflüsse ihren Weg in die philologisch geprägten Traditionen (cf. Handbücher supra).

      Einen Überblick zum mittelalterlichen Latein liefert Stötz (2002) mit seinem fünfbändigen Handbuch zu Wortschatz, Bedeutungswandel, Lautlehre sowie Syntax und Formenlehre, außerdem Berschin (2012), das hingegen gesamtphilologisch konzipiert ist. Eine verdichtete aber komplette Geschichte des Lateinischen liegt mit Kramer (1997) vor, der auch varietätenlinguistische Aspekte miteinfließen läßt. An Grammatiken mit Kapiteln zur Sprachgeschichte und Variation des Lateinischen sind Leumann/Hofmann (1928), Palmer (1990) und Meiser (2010) zu nennen.

      Das Vulgärlateinische wird in der Forschung erstmals von Schuchardt (1866–1868) in Bezug auf den Lautwandel thematisiert, im weiteren liegen wichtige Arbeiten von Silva Neto (1957), Vossler (1953), Väänänen (11963, 42002) und Herman (1967) vor, der zahlreiche weitere Tagungen zu diesem Thema initiiert hat.12 In neuerer Zeit sind Forschungskompilationen von Euler (2005) aus indogermanistischer Perspektive und Kiesler (2006) aus romanistischer Perspektive entstanden. Den Übergang zum Romanischen behandeln vor allem Coseriu (1978, 2008), Wright (1982), Iliescu/Slusanski (1991) und ganz aktuell der Beitrag von Reutner (2014) in der Reihe der Manuals of Romance Linguistics (MRL).

      Der zweite Teil des Forschungsüberblicks soll nun dem zentralen Untersuchungsgegenstand der humanistischen Debatte im 15. und 16. Jh. gewidmet sein. Die Zahl der Publikationen zu den allgemeinen Themenbereiche ‚Renaissance‘ und ‚Humanismus‘ ist entsprechend der Vielfalt des Spektrums an Fachwissenschaften, die sich damit auseinandersetzen, geradezu unüberschaubar. Für eine Synopse zur hier relevanten begrifflichen und inhaltlichen Abgrenzung sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen (cf. 6.1.1) und vorab nur selektiv auf ein paar Grundlagen-Werke. Nach wie vor unverzichtbar und nicht nur wissenschaftsgeschichtlich von Relevanz sind die Darlegungen von Burckhardt (2009, [1860]), dessen Kultur der Renaissance in Italien bis heute immer wieder aufgelegt wird. Wichtige Werke, die ebenfalls dazu beigetragen haben, diesen Untersuchungsbereich, vor allem im Rahmen der Geschichtswissenschaft und Philologie zu konstituieren, liegen mit der zweibändigen Arbeit von Kristeller (1973/1975) sowie mit dem Sammelband und der Monographie von Buck (1969, 1987) vor, des Weiteren zählt dazu auch Baron (1966, 1968) und Burke (1998), der ebenfalls einen umfassenden Blick auf diese europäische Epoche wirft. Als Exempel einer ausgewählten neueren Übersicht seien die Aufsatzsammlung von Wyatt (2014) in der Reihe der Cambridge Companions to Culture genannt sowie die Monographien von Fubini (2003) und von Baker (2015). Erwähnenswert ist auch das aktuelle zweibändige Monumentalwerk zu Philosophie der Epoche von Leinkauf (2017). An spezifischen Lexika seien zum einen die mehrbändige englische Encyclopedia of the Renaissance von Grendler (1999a) genannt, das Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit von Jaumann (2004), der 9. Supplementband (Renaissance-Humanismus) des Neuen Pauly von Landfester (2014a) und schließlich, eher kompakt, das Lexikon der Renaissance von Münkler/Münkler (2005).

      In Bezug auf das speziellere aber dennoch bereits recht gut untersuchte Thema der questione della lingua in Italien sind neben älteren Werken von Luzzato (1893), Vivaldi (1894–1898), Furnari (1900), Belardinelli (1904), Labande-Jeanroy (1925) und Hall (1942), Mazzacurati (1965) und vor allem Vitale (1984 [11960]) als Referenz zu nennen. Neuere monographische Übersichtsarbeiten wären beispielsweise Bagola (1991) sowie Marazzini (2013, 2018) und Vitale (2006) sowie die Sammelbände von Pozzi (1988) und Belardi (1995) und schließlich die Aufsätze von Grayson (1982), Baldelli (1982) und Marazzini (2016).13 Ebenfalls zu nennen ist zudem die Anthologie mit den wichtigsten Schlüsseltexten von Pozzi (1988) und Scarpa (2012), wobei vor allem die neueren Arbeiten wie die von Marazzini und Scarpa den Begriff der questione sehr weit fassen und bis in die aktuelle Sprachdiskussion ausdehnen.14 Ausgewählte Aspekte der Sprachendiskussion beleuchten zum Beispiel die Arbeiten von Schunck (2003), die den metasprachlichen Diskurs des Sprachwandels diskutiert und hierzu wertvolle Einblicke liefert, sowie Ellena (2011), die insbesondere die Rolle der norditalienischen Varietäten in den Blick nimmt, aber darüberhinaus auch einen wertvollen Leitfaden für diese Epoche mit einem umfangreichen Quelleninventar bietet, oder aber Sabbatino (1995), der speziell die Kontroverse in Neapel beleuchtet. Einen wichtigen Überblick zur Periodisierung der Epoche liefert Koch (1988b), dessen Grundgerüst auch im Vorliegenden als Bezugsrahmen aufgegriffen wird.

      Als die wichtigsten Forschungsarbeiten für den Kernbereich vorliegender Arbeit, also die Debatte um die Sprachkonstellation der Antike vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung von Latein- und Vulgärhumanismus, seien folgende angeführt: An chronologisch erster Stelle sei Strauss (1938) genannt, der bereits früh den Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Ursprung des Konzeptes Vulgärlatein und der humanistischen Auseinandersetzung herstellt und nach wie vor zu konsultieren ist. Ebenfalls wertvolle Hinweise finden sich bei Klein (1957), der zahlreiche Aspekte der Gelehrten-Diskussion um das aufkommende volgare in der