Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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Erweiterung der Ausdrucksmittel.206

      Was nun die sprachliche Situation im römischen Reich vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. anbelangt, so ist diese wiederum in enger Abhängigkeit zur Expansion des Imperiums einerseits und zum Grad der Romanisierung andererseits zu sehen.

      Auch diese Tatsache hat wiederum Rückwirkung auf den Ausbaugrad, da das Lateinische in zahlreiche Domänen vorrückt: „Das einheitliche Recht, der Handel, die politisch-militärische Organisation der römischen Herrschaft, die fortgeschrittene Kultur, die einheitliche Literatur: all das führte zur Erweiterung der gesellschaftlichen Funktionen des Lateinischen“ (Irmscher 1986:84).

      Mit den zunehmenden Eroberungen, durch die ausgetragenen Konflikte mit den im Mittelmeerraum noch verbliebenen Staatengefüge (Seleukidenreich, Ptomeläerreich etc.) sowie mit verschiedenen Ethnien am Rande des Reiches, wächst das römische Reich ab dem 1. Jh. v. Chr., insbesondere ab Augustus und der frühen Kaiserzeit stetig und geradezu exponentiell, so daß bald seine größte Ausdehnung erreicht wird (115–117 n. Chr., v. supra). Durch die Einrichtung von immer neuen Provinzen und der Stationierung von Truppenkontingenten (legiones) sowie der gezielten Kolonialisierung soll eine Konsolidierung der eroberten Regionen erreicht werden. Die systematische Erschließung durch Neugründung von Städten (civitates, municipia, coloniae), dem Anlegen eines ausgedehnten Straßennetzes und damit der Schaffung von Handels- und Verkehrsverbindungen (cf. itineraria) sowie die Errichtung einer einheitlichen zivilen und militärischen Verwaltungsstruktur (cf. mil.: proconsules, propraetores; ziv.: decuriones) fördert im Folgenden die Romanisierung.

      Die lateinische Sprache setzt sich dabei in den meisten eroberten Provinzen nach und nach durch, nicht gleichmäßig und zeitlich abhängig zum einen vom Eroberungszeitpunkt und vom womöglich fortgesetzten Widerstand der Bevölkerung, zum anderen von der vorgefundenen Infrastruktur und Art der Zivilisation. Generell gilt, daß die Latinisierung zuerst in den städtischen Zentren griff und sich von dort auf das Land ausbreitete und ganz prinzipiell urban geprägte Kulturkreise sich schneller akkulturierten und sprachlich assimilierten (cf. z.B. Iberer) als solche, die zur Migration neigen oder zumindest wenig feste Infrastruktur aufweisen. Wie bereits erwähnt (v. supra) dürfte die Latinisierung der italienischen Halbinsel im 1. Jh. v. Chr. im Wesentlich abgeschlossen sein – bis auf einige griechische Sprachinseln in Süditalien und Sizilien. Fuhrmann (1999:19–20) datiert die Latinisierung der Iberischen Halbinsel auf das 1. Jh. n. Chr. und begründet die tiefgreifende sprachliche Assimilation mit dem Auftreten von lateinischen Schriftstellern wie Seneca oder Lukan. Hierbei ist allerdings einzuwenden, daß dies nicht ausschließt, daß die nördlichen Regionen wie das Baskenland oder Kantabrien zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht vollständig romanisiert und latinisiert waren bzw. nie wurden. Für Gallien und Nordafrika setzt er das 2. Jh. als Richtwert für eine weitgehend vollständige Latinisierung an, während für Britannien und den Donauraum die Durchdringung mit der lateinischen Sprache auch in den folgenden Jahrhunderten nicht in gleichem Maße flächendeckend und tiefgreifend war.

      Der Osten blieb weiterhin griechischsprachig und das Lateinische tat sich als Amtssprache schwer, auch wenn es durchaus bezeugte Bemühungen von Seiten der Griechen gab, das Lateinische zu erlernen (cf. Adams 2003:15).

      Durch die massive Expansionspolitik in dieser Epoche wurde das Latein als Sprache der Eroberer in zahlreiche neue Regionen getragen, wirkte aber auch über die politischen Grenzen hinaus und wurde so zur Weltsprache in Rahmen der damaligen Welt (cf. röm. Anspruch der Herrschaft über den orbis terrarum).

      Für die Bevölkerung in den neu eroberten Gebieten ergab sich somit entweder ein zum Teil dauerhafter Bilingualismus bzw. eine Diglossie-Situation in den Regionen, die weniger latinisiert waren oder es vollzog sich über eine mehr oder weniger lange Phase der Mehrsprachigkeit ein Sprachwechsel hin zum Lateinischen.

      Fuhrmann (1999:19) postuliert dabei einen eher abrupten, schnellen Sprachwechsel ohne eine größere Übergangsphase. Dies wäre aber womöglich en detail zu betrachten, da auch hier die Frage nach sozialer Stratifikation, urbaner oder ruraler Struktur u.ä. Kriterien eine Rolle spielen könnten.

      Für die Elite Roms und des römischen Reiches ist prinzipiell weiterhin eine Diglossie-Situation mit dem Griechischen anzusetzen. Während Fuhrmann (1999:345) allerdings mit einem gewissen Rückgang des Philhellenismus in der nachklassischen Phase des Archaismus rechnet, sieht Kramer (1997:146) eine „ausgeprägte Zweisprachigkeit“ gebildeter Kreise bis ca. 250 n. Chr., was auch an der Übernahme fremder Strukturen, d.h. vor allem im Bereich der Syntax, aber auch auf lautlicher, morphologischer und semantischer Ebene ersichtlich sei.

      Insgesamt ist dennoch zu konstatieren, daß das römische Reich in dieser Epoche nicht nur ein Vielvölkerstaat wurde (mehr denn je zuvor), sondern auch ein Vielsprachenstaat, in dem Bilingualismus und Mehrsprachigkeit durchaus gängig waren, nicht zuletzt auch bedingt durch die relativ hohe Mobilität bzw. Migration innerhalb des Imperiums. Als high-variety fungierte dabei einerseits das Latein, das inzwischen sowohl durch seine politisch-gesellschaftliche Stellung als auch durch seine nun reichhaltige Literatur zur unzweifelhaften Prestigesprache aufgestiegen war und in dieser Epoche einen Standardisierungsprozeß durchlief,207 andererseits auch das Griechische als „alte“ Kultursprache, aber auch als nach wie vor gültige Verkehrssprache im östlichen Teil des Imperiums

      4.1.1.4 Spätlatein

      Die Frage, ab wann die Epoche des Spätlateins anzusetzen ist, hängt eng mit der unterschiedlich gehandhabten Begrenzung des Klassischen bzw. vor allem des Nachklassischen Lateins zusammen (v. supra), während ihr unscharfes Ende in erster Linie mit der Herausbildung der Romanischen Sprachen verknüpft ist. Müller-Lancé (2006:34) verweist deshalb mit Recht auf den Charakter einer Übergangsepoche. Es sei aus der dort gegebenen, relativ exakten Datierung (ca. 180–650 n. Chr.) und der ebenfalls präzisen, aber leicht verschobenen bei Steinbauer (2003:513), nämlich ca. 200–600 n. Chr, hier eine etwas fließenderen Grenze angenommen, d.h. ein Zeitraum vom 2./3. Jh. – 5./6. Jh. postuliert. Das etwas frühere Ende sei damit begründet, daß mit dem Fehlen der Reichseinheit spätestens ab dem 7. Jh. geistes- und kulturgeschichtlich genauso wie politisch eine andere Ära beginnt. Der Beginn der spätlateinischen Epoche fällt mit dem von Berschin (2012:94) charakterisierten „dunklen III. Jahrhundert“ zusammen, in dem nicht viel von der lateinischen Kultur überliefert ist, aber sich ein Wandel in Schrift, Sprache und Literatur vollzog.

      Aus der soziolinguistischen Sicht des sprachlichen Ausbaus ist für die spätlateinische Phase vor allem die neu aufkommende christliche Literatur von Relevanz, die sich in vielen Facetten zeigt. Ohne in vollem Umfang auf alle Schriftsteller und Genres eingehen zu können, seien hier an erster Stelle die lateinischen Kirchenväter (patres ecclesiae) genannt, und zwar die kanonischen großen vier: Ambrosius (Aurelius Ambrosius, 339/340–397 n. Chr.), Hieronymus (Sophronius Eusebius Hieronymus, 345/348–420 n. Chr.), Augustinus (Aurelius Augustinus, 354–430 n. Chr.) und Gregor d. Große (Gregorius, 540–604 n. Chr.).

      Chronologisch sollen zunächst aber einige andere wichtige Vertreter aus der Reihe der Kirchenlehrer genannt sein, die den Ausbau der religiösen Fachliteratur maßgeblich vorangetrieben haben. Dabei ist sicherlich an erster Stelle Tertullian (Quintus Septimus Florens Tertullianus, ca. 150/170–220 n. Chr.) zu nennen, von dem ein umfangreiches und vielfältiges Schrifttum überliefert ist. Dabei kann man das Gesamtwerk in apologetische Schriften (z.B. Ad nationes, Apologeticum, De Testimonio animae, Adversos Iudeos), in praktisch-asketische Schriften (z.B. Ad martyras, De spectaculis, De baptismo) und in dogmatisch-polemische Schriften (z.B. De praescriptione haereticorum, Adversos Praxean) gliedern. Seine literarischen Modelle sind zum einen bei den zeitgenössischen christlichen griechischen Autoren zu suchen, aber auch in der klassischen Philosophie (Platon, Stoa). Ein prägendes Moment ist dabei auch die Auseinandersetzung mit aktuellen Strömungen wie dem aufkommenden Gnostizismus. Dabei legt Tertullian nicht nur die Grundlage für eine facettenreiche religiöse Literatur des Lateinischen im Allgemeinen, sondern schafft mit seiner Art der Apologetik (werbend und verteidigend zugleich) ein neues Subgenre, welches so zuvor weder in der lateinischen noch in der griechischen Tradition existierte (cf. Albrecht 2012 II:1315–1324).