Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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und Latinisierung ist insgesamt für das Imperium im Laufe der Jahrhunderte von einer starken sprachlichen und kulturellen Assimilation von weiten Teilen der Bevölkerung auszugehen, nicht zuletzt auch durch die von Caracalla (Caesar Marcus Aurelius Antoninus Augustus, 188–217 n. Chr., Ks. ab 211) erlassene Constitutio Antoniniana (212 n. Chr.), mit der allen Reichsbewohnern das uneingeschränkte Bürgerrecht verliehen wurde. Das römische Reich blieb zwar ein Raum der Mehrsprachigkeit, nicht zuletzt weil in der Spätphase größere Kontingente von Völkern mit verschiedenen germanischsprachigen Idiomen innerhalb der Reichsgrenzen angesiedelt wurden bzw. dorthin vordrangen, was entgegen dem gängigen Modell von Dietrich/Geckeler (2007:172) eine Gleichzeitigkeit von Sub- und Superstratsprachen ergeben konnte.212 Auf der anderen Seite nahm durch die zunehmende Latinisierung auch die Zahl der Personen, die muttersprachlich nur eine lateinische Varietät zur Verfügung hatten, deutlich zu. Wie man exemplarisch an den christlichen Kirchenlehrern sieht, blieb das Griechische dabei Bildungssprache für die römische Elite im gesamten Imperium,213 die sich somit weiterhin in einer Art Diglossie-Situation befanden, wobei das Schriftlatein allerdings nun endgültig auch den Rang einer high-variety in allen Bereichen innehatte.

      Durch die Verbreitung und Etablierung des Lateins in zahlreichen Regionen Europas und rund ums Mittelmeer (mare nostrum) entsteht einerseits eine allgemeine gesprochene lateinische Sprache, die man in Anlehnung an die griechische Konstellation als koiné bezeichnen kann, und andererseits isoliert sich ein vorwiegend schriftlich gebrauchtes Latein, welches als Bildungssprache morphologisch erstarrt und in seiner Grammatik konserviert ist (cf. latinitas perennis). Das nachmalig als „klassisch“ apostrophierte Latein entsteht, indem das Latein ausgewählter Autoren einer bestimmten historischen Epoche kanonisiert wird und dem natürlichen sprachlichen Erneuerungszyklus enthoben wird (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:325–326).

      4.1.2 Der Varietätenraum

      Bei einer Beschreibung des Varietätenraumes des Lateinischen als lebendige Sprache ergibt sich zunächst einmal, wie aus oben ausgeführter Periodisierung hervorgeht, die Problematik, daß sich das Latein im Laufe seiner über tausendjährigen Sprachgeschichte nicht nur bezüglich einzelner sprachlicher Merkmale verändert hat, sondern durch seine Expansionskraft auch seine Verbreitung in den verschiedenen Regionen der Welt sowie damit einhergehend die Zahl seiner Benutzer enorm gestiegen ist. Dies wiederum bedingt einen erheblichen Zuwachs an sprachlicher Beeinflussung durch Substrat- und Adstratsprachen, die im Latein ihre Spuren hinterlassen haben. Durch diese im Laufe der Zeit sich stark verändernden Konstellationen ist es notwendig, daß auch eine historische Komponente bei der Erfassung der Architektur des Lateinischen Berücksichtigung findet.

      Traditionell wird in der Klassischen Philologie der sprachlichen Variation relativ wenig Raum gegeben bzw. spielt allenfalls im Rahmen von stilistischen Betrachtungen eine Rolle. Die Frage nach der Existenz verschiedener Varietäten scheint hierbei eher untergeordnet und wird meist ohne größere Diskussion um eine eventuell mögliche linguistische Verortung abgehandelt, was nicht nur an der für das Lateinische als nicht mehr lebendige Sprache nicht immer einfachen Belegsituation zusammenhängt.

      Exemplarisch für die traditionelle Sicht und die ältere Forschung sei hier auf Leumann/Hoffmann (1928) verwiesen, die die komplette Variation inklusive diachroner Implikationen in einem einzigen Kapitel abhandeln (ibid.: 9–11), und zwar unter dem Titel Vulgärlatein und Romanisch, Umgangssprache, Schriftsprache. Hierbei sind bereits mit den Termini ‚Umgangssprache‘ und ‚Vulgärlatein‘ die beiden wichtigsten Varietäten jenseits der standardisierten Schriftsprache in der traditionellen Betrachtung angesprochen. Diese finden sich genauso in der modernen Forschung: In dem Überblick bei Irmscher (1986:84–85), bei Reichenkron (1965)214 wie auch in der aktuellen Einführung zur Klassischen Philologie von Willms (2013:230, 239). Dies bedeutet auch, daß die komplette diasystematische Variation im Wesentlichen an einem Begriff aus der Germanistik, der eigentlich Verhältnisse des Deutschen wiedergibt, aufgehängt ist (‚Umgangssprache‘)215 sowie an einem Terminus, der in der Forschung mit den unterschiedlichsten Konzepten aufgeladen wurde (‚Vulgärlatein‘).216 An diese Tradition der Bezeichnung und Kategorisierung knüpft auch der Klassische Philologe und Romanist Kramer (1997) an, der fast alle Varietäten in dem Kapitel Die lateinische Umgangssprache behandelt (ibid.: 156–162), dort allerdings den Begriff, unter dem der größte Teil der Variation fällt, dann kritisch beleuchtet. Ein anderen Ansatz hat Müller (2001), der von den lateinischen Bezeichnungen (sermo rusticus, sermo agrestis, sermo plebeius etc.) ausgeht und deren Verwendungsweisen bei den antiken Autoren analysiert, um daraus abzuleiten, welches Sprachbewußtsein im Hinblick auf Varietäten in der Antike herrschte.

      Im Folgenden soll jedoch versucht werden, die Variation im Lateinischen, soweit sie erfaßbar ist, mit Hilfe des Diasystems strukturiert darzustellen wie es in ersten Ansätzen bereits von Herman (1996), Müller-Lancé (2006:45–58), Koch (2010:188–189), Reutner (2014:199–203) oder Lüdtke (2019:450–453) geleistet wurde.

      4.1.2.1 Die diatopische Ebene

      Da die Verbreitung der lateinischen Sprache sich im Laufe der Jahrhunderte erheblich verändert hat, d.h. ein regional sehr begrenztes Idiom entwickelte sich zur wichtigsten Sprache in großen Teilen Europas und darüber hinaus, ist auch eine Betrachtung der diatopischen Gliederung des Lateins nicht ohne eine diachrone Perspektive möglich (v. supra).217

      Die indogermanischen Proto-Latiner, Träger der lateinischen Sprache, die ab dem 10 Jh. v. Chr. in Teilen der Region Latium seßhaft wurden und dort Streusiedlungen errichteten (präurbane Phase), die sich bis zum 6. Jh. v. Chr. teilweise zu kleineren urbanen Zentren entwickelten, gliederten sich ursprünglich in politisch gleichberechtigte populi in autonomen Gemeinden. Die sich in diesem Zeitraum konstituierende cultura laziale bildete mit ihren Ansiedlungen und Sakralverbänden eine lose Gemeinschaft. Mit dem Wandel zur Urbanität ab dem 6. Jh. v. Chr. und der Gründung des Latinischen Städtebundes (nomen Latinum bzw. nomen Latium) gewinnt die Gesellschaftsstruktur in Latium Kontur. Es ist anzunehmen, daß die einzelnen gentes dieser Region Träger von Idiomen mit sprachlichen Eigenheiten waren, die sich voneinander abgrenzten (cf. Palmer 1990:62; Neue Pauly 1999 VI:1165–1169; Aigner-Foresti 2003:19–20).

      Appliziert man nun die auf sozio-politisch, historischen Merkmalen beruhende Unterkategorisierung der dialektalen Ebene nach Coseriu (v. supra), so kann man mit Müller-Lancé (2006:45) diese Varietäten der Latini als primäre Dialekte des Lateinischen deklarieren. Der Dialekt der Stadt Rom war dabei zunächst nur einer unter vielen. Erst mit der beginnenden regionalen Expansion Roms und den Auseinandersetzungen mit den latinischen Nachbarn (Latinerkriege) ab dem frühen 5. Jh. v. Chr., die mit der Auflösung des Latinerbundes (338 v. Chr.) endeten, gewinnt das stadtrömische Latein an Prestige gegenüber den anderen verwandten Varietäten der Region.

      Angesichts der bescheidenen Quellenlage für die Frühzeit, für die nur wenige, laut Palmer (1990:65) „nichtssagende Fragmente“ zur Verfügung stehen, ist es schwierig, den sprachlichen Abstand zwischen den einzelnen Varietäten festzustellen. Im Gegensatz zu Seidl (2003:522), der die dialektalen Unterschiede im frühen Latium als eher gering einstuft,218 postuliert Müller-Lancé (2006:47), daß der Dialekt der Stadt Rom „stark“ von denen seiner Nachbarn abwich. Allerdings zieht er zum Vergleich als erstes Beispiel eine Inschrift aus Falerii heran, die üblicherweise als faliskisch eingeordnet wird (cf. Meiser 2010:9–10, § 6.1) und nicht als lateinisch. Hinzu kommt, daß er diese frühfaliskische Inschrift aus dem 4. Jh. v. Chr. dem klassischen Latein und nicht dem Altlatein gegenüberstellt, doch selbst zur altlateinische Periode wäre eine noch nicht unerhebliche zeitliche Diskrepanz zu konstatieren.219 Das faliskische Original lautet: foied uino pipafo cra carefo – foied uino pafo cra carefo (cf. Baldi 2002:125). Dies würde im Altlatein die Entsprechung hodie vinom bibabo, cras carebo (cf. Quiles 2009:63) haben und im klassischen Latein hodiē vīnum bibam, crās carēbō (cf. Baldi 2002:125), also übersetzt ‚heute will ich Wein trinken, morgen werde ich es mir versagen‘ (Müller-Lancé 2006:47). Immerhin ist aber auf diese Weise der Abstand vom nah verwandten Faliskischen zum Lateinischen zumindest nährungsweise erkennbar. So ist intervokalisch faliskisch f bzw. lateinisch