Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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Peripherie. Sprachlich hatte dies zur Folge, daß ein gewisser Ausgleichseffekt entstand, der eine starke Diatopisierung – die bei der Größe des Imperiums ja denkbar gewesen wäre – solange verhinderte, bis das Westreich unterging, die politische und administrative Klammer den Zusammenhalt nicht mehr gewährleistete.229

      Es scheint relativ zweifelsfrei, daß es in der Spätzeit des römischen Reiches eine diatopische Differenzierung gegeben hatte,230 die Frage, wie stark diese war, ist jedoch schwer zu beantworten, da die Überlieferung rein aus schriftlichen Quellen besteht, bei denen trotz gelegentlich faßbarer Unterschiede letztlich eine möglicherweise zugrundeliegende Differenzierung im Mündlichen durch die mehr oder weniger am Standard ausgerichtete Verschriftung verdeckt wird.

      Seidl (2003:522, 524) geht davon aus, daß die dialektale Differenzierung in der Spätzeit des Imperiums zunahm und sich nicht nur, aber vor allem auf lexikalischer Ebene äußerte. Die diatopische Diversifizierung ist dabei einerseits auf die verschiedenen Substratsprachen in den einzelnen Provinzen bzw. Regionen des Reiches zurückzuführen, andererseits auch auf die sprachinhärente Eigendynamik der Diversifizierung.231 Ausgleichend und unifikatorisch hingegen wirkte die Strahlkraft des stadtrömischen Lateins, die urbanitas als high-variety-Modell, welches jedoch im Zuge des Auflösungsprozesses der Völkerwanderungszeit den Prozeß der weiteren Diatopisierung nicht mehr aufhalten konnte (v. supra auch die Dezentralisierung seit Diokletian und die Reichsteilung unter Theodosius). Die germanischen Superstratvölker wirkten insofern doppelt, als sie zum Einen dafür sorgten, daß das römische Reich sich destabilisierte und dann auflöste, was die sprachliche Einheit der Latinophonie zerstörte und andererseits, indem sie selbst das Latein als Sprache adaptierten und damit modifizierten (Superstratwirkung).

      Folgt man der Coseriu’schen Terminologie auf der diatopischen Ebene, so gibt es neben den primären und sekundären auch die tertiären Dialekte, oder in germanistischer Tradition, auch Regiolekte (v. supra). Im Gegensatz zu den bei Müller-Lancé (2006:49) nur aus der Konfrontation mit sekundären Dialekten entstandenen regionalen Varietäten, die sich in der Überlieferung als „Akzente“ von Griechen, Kelten oder Nordafrikanern manifestieren, muß man auch hier diachron diversifizieren sowie unterschiedliche Arten der tertiären Dialekte in Betracht ziehen. Dies bedeutet, daß man in einer Frühphase der römischen Geschichte auch tertiäre diatopische Varietäten aus der Konfrontation sowohl mit primären Dialekten des Lateinischen, als auch mit verwandten und unverwandten Nachbaridiomen (z.B. Faliskisch, Etruskisch) postulieren muß, auch wenn dies nicht explizit belegt ist. Zu unterscheiden sind zusätzlich prinzipiell tertiäre Dialekte, deren Basis ein primärer oder sekundärer Dialekt ist oder zumindest eine nah verwandte Sprache, so daß es hier ein Kontinuum an mehr oder weniger zahlreichen sprachlichen Charakteristika geben kann oder, ob die Basis eine wenig bzw. unverwandte Sprache ist, wo eben kein Kontinuum möglich ist (z.B. beim Keltischen, Griechischen oder Etruskischen).

      Voraussetzung für die Entstehung eines tertiären Dialekts ist eine entsprechend verbreitete Standardsprache. Dies kann für das römische Reich natürlich nicht in gleicher Weise wie bei modernen normierten Sprachen angenommen werden, doch läßt sich wohl eine gewisse Verbreitung auch in den urbanen Zentren der verschiedenen Provinzen annehmen, in denen eine Oberschicht Träger einer Standard- und Normsprache war und somit zumindest einer gewissen Grad an Verbreitung gewährleistete.

      Bei den überlieferten Fällen, in denen die Zeitgenossen eine diatopisch markierte Aussprache festgestellt haben, wäre grundsätzlich natürlich zunächst der Frage nachzugehen, ob es sich hierbei tatsächlich um einen lateinischen Dialekt handelt, also um einen primären oder sekundären oder, ob „nur“ eine regionale Färbung im Sinne eines regiolektalen Merkmals vorliegt.

      Betrachtet man nun den vielleicht berühmtesten Fall, nämlich der des aus Hispanien stammenden Kaisers Hadrian (Traianus Hadrianus Augustus, 117–138 n. Chr.), dem in der Historia Augusta eine ländliche Aussprache nachgesagt wird (agrestius pronuntians),232 so ist davon auszugehen, daß es sich hierbei um einen Sprecher aus der provinzialen Oberschicht handelt, mit entsprechendem Bildungshintergrund und einem Bewußtsein für die high-variety des stadtrömischen Lateins. Insofern ist es kaum wahrscheinlich, daß Hadrian tatsächlich Dialektsprecher war – auch unter der Prämisse einer vielleicht nicht allzu starken diatopischen Differenzierung des Lateins zu dieser Zeit –, sondern das eine oder andere regiolektale Merkmal in seiner Aussprache aufwies.

      Man kann also letztendlich davon ausgehen, daß das Latein alle Ebenen einer diatopischen Variation aufwies.233 Auch die Römer selbst waren sich dieser Variation bewußt und unterschieden prinzipiell zwischen dem mit hohem Prestige behafteten sermo urbanus, in dem das Ideal der urbanitas, des stadtrömischen Lebens und Sprechens anklingt, welches sich mit elegantia und proprietas auf diaphasischer Ebene kreuzt, und dem sermo rusticus oder auch sermo agrestis, der Redeweise des Umlandes oder der Provinzen, die entsprechend negativ konnotiert war. Sekundär ist das ‚ländliche Sprechen‘ deshalb immer auch diastratisch-diaphasisch als niedrig angesehen worden (cf. Müller-Lancé 2006:52; Reutner 2014:201–202). Lüdtke wiederum sieht die Diatopik des Lateinischen durch die zeitgenössische Kennzeichnung der peregrinitas widergespiegelt, was aber womöglich nur einen Teil der regionalen Abweichungen umfaßt.

      Nach der Ausbreitung des Lateinischen in den Provinzen konnen die diatopischen Unterschiede im Ganzen mit peregrinitas benannt werden. […] Der griechische Arzt Galen benennt im 2. nachchristlichen Jahrhundert einen zwei Sprachen sprechenden Mann mit dem Ausdruck diglossos ‚zweisprachig‘. Das ist eine umfassendere Charakterisierung als die römische, die die Situation der Zweisprachigkeit nur als Art und Weise begreift, wie die Nicht-Lateiner Lateinisch sprechen, eben als peregrinitas. (Lüdtke 2019:451)

      Die Tatsache, daß das Lateinische als lebendige Sprache, die sich über ein größeres Territorium erstreckte, eine diatopische Differenzierung aufwies, ergibt es letztlich auch daraus, daß sich aus dieser Konstellation die romanischen Sprachen entwickelt haben, die nichts anderes als regionale Varietäten des Lateins sind, die sich im Laufe der Zeit zum Teil relativ weit von ihrer Ursprungssprache entfernt haben. Die bisher strittige Frage ist dabei, zu welchem Zeitpunkt diese Ausdifferenzierung stattgefunden hat bzw. ob es regionale Variation bereits in entsprechender Ausprägung vor der frühromanischen Phase gegeben hat.234

      So steht prinzipiell die auch in der traditionellen Klassischen Philologie vertretene These von einer grundsätzlichen Einheitlichkeit des Lateins, die bei Väänänen (1983:481, 490) als thèse unitaire apostrophiert wird, der Ansicht der thèse différentielle (ibid.) gegenüber, die besagt, daß das Latein seit der Kaiserzeit regional variiert oder zumindest deutlich vor 600 n. Chr., wobei dann wiederum die Meinungen zu ‚früher Variation‘ auch von der Auffassung abhängen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen ist bzw. welche zeitliche Periode dies betrifft (cf. Reutner 2014:201).

      Tatsächlich ist die Art der diatopischen Variation – die zweifellos immer Überschneidung mit der diastratischen und diaphasischen aufweist – komplex, wie bereits dargelegt, und wie Adams (2007), der diachronisch geschichtet und nach Regionen gegliedert, zahlreiche Belege zur diatopischen Variation zusammengetragen hat, deutlich zum Ausdruck bringt:

      The metalinguistic evidence presented in this book makes nonsense of the unitarian thesis, and the differential thesis as formulated by Väänänen just quoted is itself not satisfactory, because the regional diversity of the language can be traced back at least to 200 BC and was not a new development of the Empire. That is not to say that the Romance languages were in any sense being foreshadowed already in 200 (though we will see some continuities […]). The patterns of local diversity in 200 were not the same as those to be found a millennium or more later, but the essential point is that the language always showed regional as well as social, educational and stylistic variations. The nature of the diversity was not static but went on changing. (Adams 2007:684)

      Mit anderen Worten, Latein präsentierte sich von je her als diasystematisch differenzierte Sprache. Dabei ist jedoch in Rechnung zu stellen, daß durch die besondere historische Konstellation der extremen Expansion – die, wie von Seidl (2003:521) errechnet, ursprünglich ein Territorium von weniger als 2500 km² im 5. Jh. v. Chr. abdeckte,