Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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im Faliskischen ist der Verlust der Auslautkonsonanten (cf. uino vs. vinom; cra vs. cras) sichtbar220 und im Lateinischen die Weiterentwicklung zu h, also indogerm. gh > f > h (cf. foied vs. hodie). Morphologisch ist die Futurbildung mit f im Faliskischen auffällig wie in carefo und pipafo (Palmer 1990:62–63; Quiles 2009:63).

      Das zweite Beispiel, um den großen Abstand der latinischen Varietäten aufzuzeigen, ist von Müller-Lancé (2006:47), der hier Palmer (1990:63–64) folgt, ebenfalls nicht optimal gewählt, da die Echtheit der Fibula praenestina als umstritten gilt (v. supra). Geht man jedoch von einer authentischen Inschrift aus, zeigen sich an dem Wortlaut Manios : med : vhe : vhaked : Numasioi (klat. Manius mē fēcit Numerio, dt. ‚Manius hat mich für Numerius gemacht‘) einige Eigenheiten der Varietät von Praeneste.221 Dazu gehört die Endung der 3. Person Singular auf –d, die Dativendung -oi und das reduplizierte Perfekt (cf. vhe vhaked), in der sich auch die Verwandtschaft zum Oskischen zeigt (cf. osk. fefakid, fefacust). Palmer (1990:64–65) gibt im Folgenden noch weitere sprachliche Phänomene der frülateinischen Inschriften an, die in Lautung und Morphologie vom späteren standardisierten Latein abweichen, wie z.B. die Entwicklung von d > r vor Labial, was eventuell lat. arbiter als Dialektwort identifizierbar machen würde, außerdem häufige Synkope unbetonter Vokale (z.B. dedront vs. klat. dedērunt) oder die Bewahrung des Nominativ Plural auf –ās (z.B. matronas vs. klat. mātrōnae).

      Aufgrund der Tatsache, daß das Lateinische erst ab dem 3. Jh. v. Chr. in längeren Texten faßbar wird, ist ein Vergleich für die Frühzeit schwierig. Es kann allerdings wie anhand der Beispiele ersichtlich, festgehalten werden, daß es eine diatopische Differenzierung gab, über den Grad der Abweichungen insgesamt Aussagen zu treffen bleibt problematisch, genauso wie das Verhältnis zum nahverwandten Faliskischen – also ist hier der Abstand tatsächlich deutlich größer als zu den Dialekten Latiums bzw. um wieviel größer? Ausgehend von der festgestellten Variation ist jedoch festzuhalten, daß der zu Beginn recht kleine geographische Raum – Müller-Lancé (2006:45) spricht von einer Nord-Süd-Ausdehnung von ca. 50 km – in noch kleinere sprachliche Varietäten gegliedert ist. Bei den primären Dialekten des Lateins handelt es sich nach gängigem Verständnis eher um Mundarten (frz. parlers locaux, cf. Müller 1975:109), also areal sehr begrenzte diatopische Varietäten (cf. Sinner 2014:92; v. supra), d.h. kleine urbane Zentren mit dem zugehörigen Umland. Rekurrieren wir auf die Fundorte der frühen Inschriften sowie auf die Städte des Latinerbundes, die die einzelnen populi repräsentieren, so können wir für das Lateinische die Mundarten des Römischen, Pränestinischen, Lanuvinischen, Tiburinischen, Tusculanischen, Satricanischen, Aricianischen, etc. postulieren.

      Mit dem Ausgreifen Roms auf seine latinischen Nachbarn beginnt das Lateinische, die anderen Varietäten zu überdachen, zunächst nur aufgrund seiner politischen Vormachtstellung im mündlichen Bereich, später auch im schriftlichen. In Bezug auf die Schriftsprache stand das Latein, außer natürlich mit dem Griechischen und Etruskischen, anfänglich auch in Konkurrenz mit dem Faliskischen, Oskischen, Umbrischen oder Volskischen (nur wenige Inschriften, cf. Meier-Brügger 2002:34, E 429).

      Bei der Frage nach der Herausbildung des stadtrömischen Dialekts, der uns zu einem späteren Zeitpunkt in der schriftlichen, standardisierten Form des Klassischen Lateins gegenübertritt, zieht Müller-Lancé (2006:48) die Parallele zur Herausbildung des Französischen aus dem Franzischen von Paris bzw. der Île-de-France.222 Es ist jedoch passender den Befund von Poccetti/Poli/Santini (2005:65) zugrundezulegen, die für Praeneste analog zu Rom von einem Latein mit dreifacher Wurzel sprechen, nämlich einer latinischen, einer etruskischen und einer italischen, welches zusätzlich von griechischen und phönizischen Einflüssen überlagert wird, so scheint es vielmehr so, daß Rom wie auch andere zentrale Orte in Latium ganz allgemein in einem viel größeren Raum kultureller Schnittstellen lagen.223 Der Beitrag der latinischen Nachbarvarietäten zur Formung des stadtrömischen Lateins war sicherlich gegeben,224 ist aber schwierig einzuschätzen. Eindeutig hingegen ist, daß diese Varietäten die lateinischen koiné beeinflußt haben, die sich in der Folgezeit durch die Expansion Roms herausgebildet hat.

      Durch das Ausgreifen Roms auf die benachbarten Regionen und die im Folgenden sich in mehreren Etappen vollziehende Eroberung der gesamten italienischen Halbinsel sowie schlußendlich die Beherrschung des gesamten orbis entwickelten sich nach erfolgter Romanisierung und Latinisierung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Westteil des Reiches sekundäre Dialekte des Lateinischen, welches weit über seinen autochthonen Entstehungsraum hinausgetragen wurde. Dabei erscheint es wichtig, neben der von Müller-Lancé (2006:48–49) vorgenommenen arealen Unterscheidung von sekundären Dialekten innerhalb und außerhalb Italiens – was aufgrund einer gewissen Sprachbund-Dynamik durchaus gerechtfertigt ist225 – auch den sprachlichen bzw. typologischen Abstand zwischen den Kontaktsprachen als Kriterium der Differenzierung anzusetzen. Benachbarte nicht verwandte oder nur weitläufig verwandte Sprachen wie das Etruskische oder das Griechische hatten einen gewichtigen Einfluß auf die Herausbildung des Lateinischen, die nahverwandten italischen Sprachen hingegen unterlagen einer „progressiven Assimilation“ (Poccetti/Poli/Santini 2005:89) und teilten nicht wenige Konvergenzphänomene mit dem Lateinischen mit zunehmender unidirektionaler Beeinflußung seitens der prestigeträchtigeren Sprache Roms.

      Während also die nicht direkt verwandten, durch einen größeren sprachlichen Abstand gekennzeichneten Sprachen im Laufe des Latinisierungsprozesses eine Marginalisierung erfahren, die die Sprecher zum Sprachwechsel bewegt, so daß diese Sprachen schließlich untergehen und als Substrate wirken, unterliegen die italischen Nachbaridiome zwar prinzipiell dem selben Prozeß, jedoch mit der Nuance, daß sie zuvor vom Lateinischen dialektalisiert werden. Im Zuge der Überdachung durch die lateinische koiné – mündlich wie schriftlich – werden Sprachen wie das Sabinische, Faliskische, Volskische, Samnitische in den Status von Dialekten zurückgedrängt, d.h. wie die meisten Dialekte, nur noch im mündlichen Nähebereich gebraucht.

      Poccetti/Poli/Santini (2005:89) sprechen diesbezüglich von einer langen Phase der Diglossie, die bereits recht früh beginnt, also vor der systematischen Romanisierung nach dem Bundesgenossenkrieg (91–89 v. Chr.), was beispielsweise aus der Bitte der Einwohner von Cumae hervorgeht, die im Jahre 180 v. Chr. den römischen Senat darum ersuchen, offiziell das Lateinische übernehmen zu dürfen (cf. Livius XLI, 42). Das autochthone Idiom wird somit schriftlich wie mündlich in die Domänen der privaten Kommunikation und der lokalen religiösen Traditionen verwiesen.226

      Nach ihrem Untergang und ihrer Substratisierung, die womöglich aufgrund der zahlreichen Konvergenzen – bedingt durch die genetische Verwandtschaft und durch den sehr engen Sprachkontakt – in anderer, eventuell gradueller Form ablief als beispielsweise bei einem abrupten Sprachwechsel Etruskisch-Lateinisch, trugen die italischen Sprachen wesentlich zur Entstehung von sekundären Dialekten des Lateinischen bei.

      Im Zuge der Verbreitung des Lateinischen, welches ab dem 2. Jh. v. Chr. und vor allem ab der Zeitenwende vermehrt in außeritalische Regionen vordringt und schließlich weitestgehend flächendeckende Verwendung in großen Teilen Westeuropas und Nordafrikas findet, ist zu berücksichtigen, daß hierbei nicht nur stadtrömisches Latein exportiert wird, sondern durch viele italische Kolonisten auch deren bereits bestehende sekundäre Varietäten des Lateins.227

      Man müßte demgemäß von verschiedenen Schichten sekundärer Dialekte ausgehen, denn die diatopische Differenzierung des Lateinischen in Italien ist früher anzusetzen als diejenige in den entfernteren Provinzen, die zunächst noch nicht romanisiert waren. Die dortigen sekundären diatopischen Varietäten konnten deshalb Elemente aus primären und sekundären Dialekten Italiens enthalten, also z.B. sprachliche Charakteristika des ursprünglichen Latein von Praeneste, des Faliskischen, Oskischen, Etruskischen oder Griechischen.228

      Dieser zentrifugalen Verbreitung sprachlicher Eigenheiten aus Italien mit dem unbestrittenen Zentrum Rom sind Migrationsbewegungen verschiedenster Art (Legionen, Kolonisten, Händler, Sklaven, etc.) gegenüberzustellen, die in gewisser Weise quer dazu wirkten. Das stadtrömische