Keinen Seufzer wert. Barbara Lutz

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Название Keinen Seufzer wert
Автор произведения Barbara Lutz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551188



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      «Ihr werdet wohl im Gaden schlafen?», fragt Schlatter die Zehnjährige mit Blick auf das müde Kind auf deren Schoss. Annelies wagt nicht zu antworten, und auch die anderen Kinder sehen ihn nur lange und schüchtern an.

      «Wir haben bloss ein Bett, das für die Stube. Der Schwager wird uns später eines überlassen, er will’s dann bringen», antwortet Wyssler für das Mädchen. Jakob weiss, dass im gemieteten Gaden ein Bett steht, das dem Schlatter gehört, wagt aber nicht, geradeheraus darum zu bitten.

      «Es hat im Gaden ein Bett. Ihr könnt es brauchen, für diese Nacht», sagt Schlatter.

      Annelies nickt, erhebt sich mit den beiden Kleinen und verschwindet, um die Kinder schlafen zu legen. Verena und Jakob sehen sich aus den Augenwinkeln an. So ist denn das gelöst, und Zudecken für die Kinder werden sich finden. Den ganzen Winter über mussten sie mit nur einem Bett ausgekommen. Es wird ihnen gut gehen hier.

      Verena hätte einen Schluck Milch vertragen oder auch Schotte oder gar ein Glas Gebranntes, aber Res bietet ihnen nichts an. Stattdessen spricht er von ihren ­Effekten und dass er davon eine Liste erstellen wolle. ­Offenkundig haben die beiden Männer vorhin, als sie draussen beim Wagen waren, etwas besprochen wegen der Schulden, die sie beim Schlatter haben. Dann kommt Schlatter aufs Melken zu reden. Wyssler Verena soll das übernehmen, für zwei Mass Milch die Woche.

      Verena nickt. Heute Abend schon will Res sie einweisen. Mehr wird nicht gesagt. Steif sitzen Wysslers am Tisch, und als das Schweigen fortdauert, erheben und bedanken sie sich und gehen hinüber in ihre eigene Stube.

      So ist die erste Begegnung mit dem einsamen Sonderling recht günstig vonstattengegangen! Nur sei hier angemerkt, was namentlich auch Richter Ingold schon bald zu Ohren kam: Es führte der Schlatter Res wirklich eine höchst unreinliche und unordentliche Knabenwirtschaft! Dem Haushalt fehlte die Magd, die Wirtschaft lag im Argen. Zwar zahlte Res die Zinsen akkurat, indes liess er das Heim verkommen.

      Kann man, die Frage sei gestattet, an einem solchen Orte beieinander friedvoll hausen ohne Zwist?

      Es wird wenig gesagt, während Wyssler den Hausrat in ihre Wohnung trägt und Annelies und Verena die Küche putzen. Später hilft Verena Res im Stall und lässt sich ­erklären, wie sie fortan das Melken zu besorgen hat. Schlatter steht hinter ihr und beobachtet sie, während sie die Milch aus den Zitzen zieht und in den Kübel zwischen ihren Knien schäumen lässt.

      Alles in allem, auch wenn der Schlatter nicht gerade freundlich war, so scheint er doch anständig, denkt Ve­rena, als sie sich schliesslich abends in ihre neue Stube zurückzieht. Zu Annelies, die eifrig Wasser in die Küche geschleppt und geputzt hat, benahm er sich beinahe nett. Die Annelies hat ihre Scheu vor dem alten Mann am schnellsten verloren, die beiden scheinen sich gewogen. Nur als sie sich daranmachte, Holz in die Küche zu bringen, hat Schlatter sie unerwartet grob angeherrscht, er wolle das selber besorgen. Niemand hat begriffen warum, aber Annelies liess sich von seiner heftigen Art nicht beeindrucken.

      Mit Erleichterung schlüpft Verena unter die Laken zu ihrem Mann, hungrig zwar, aber voller Zuversicht. Umso mehr, als sie seit ein paar Tagen weiss, dass sie in Hoffnung ist. Mit einundvierzig muss es das Letzte sein, der Wyssler soll sie fortan in Ruhe lassen. Gottlob kann sie dem Kind, das unterwegs ist, nun ein Heim bieten. Die Wiege wird in der Stube stehen, wo die Eltern schlafen. Die anderen Kinder können sich das Bett im Gaden teilen. Mit der Milch von Schlatters Kühen, der Ernte aus der Pflanzung und den vielen Äpfeln werden sie gut über die Runden kommen. Wyssler wird Arbeit finden, und was er dann noch verdient, kann man zur Seite legen für nötige Anschaffungen. Warme Decken für die Kinder, bevor der nächste Winter kommt, und bessere Kleider.

      Der erste Morgen auf dem Schafberg beginnt bös. Schwaches Tageslicht dringt durch die Fenster in die Stube, es mag fünf Uhr in der Früh sein, als Verena erwacht. Schlatter geht in Holzböden in seiner Stube umher. Er murmelt leise vor sich hin. Manchmal wird er etwas lauter, und ab und zu klingt es nach Gesang. Noch ohne richtig wach zu sein, weiss Verena, dass es ein Fehler war, hierherzukommen. Alle haben sie vor Res gewarnt. Was für ein unheimlicher Mann, wenn er nur den Kindern nichts antut. Sie hat den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als es im Gaden über ihr rumpelt und die Jüngste durch das Bodenloch überm Ofen gestrauchelt kommt.

      Das erst zweijährige Kind ist mit Hunger aufgewacht und will durch das Loch zu den Eltern in die Stube hinunterklettern. Dabei rutscht es aus, und Verena sieht zu, wie das Mädchen auf den Ofen fällt und von dort aus auf den Stubenboden. Augenblicklich ist sie auf den Beinen. Das Kind schreit, es blutet. Verena packt es und hastet in die Küche, das Kind am Arm wimmert, aber Verena findet sich in der finsteren Küche nicht zurecht. Alles, was sie angreift, fühlt sich klebrig an, vielleicht wegen des Bluts der Kleinen. Da öffnet sich Schlatters Tür. Er hat in seiner Stube Licht.

      Sie legt das Kind auf Schlatters Ofenbank, während er ihr zündet. Die Kleine hat eine Platzwunde am Kopf, klammert sich an Verena und weint. Endlich kommt Jakob, er bringt Wasser und bettet das Kind auf seinen Schoss. Es ist Jakob, der das Kind beruhigen kann, während Verena die Wunde mit Wasser reinigt und schliesslich den Kopf mit einem Stück Tuch von Schlatter verbindet.

      Jakob wiegt weiter beruhigend das Kind, während Verena sich erschöpft an Schlatters Tisch setzt. Die dumpfe Angst vor Res beim Aufwachen – jetzt war sie froh um ihn. So langsam kommt Verena zu sich. Was für ein schlechter Anfang auf dem Schafberg, dieser Sturz, wenn nur dem Kind nichts bleibt. Plötzlich bemerkt ­Verena die aufgeschlagene Bibel, die auf dem Tisch liegt, und sie begreift. Res hat gebetet. Sein Gemurmel vorhin, es waren Gebete. Der alte Mann hält morgens Andacht. Sie hat gemeint, er spreche mit sich selbst. Sich um den Herrgott zu kümmern, ist nichts Schlechtes. Man weiss, Res ist ein Stündeler. Die Stündeler mag niemand, schon gar nicht solche, die anderen Vorschriften machen. Aber ihr gilt es eigentlich dasselbe, ob einer nun in der Kirche betet oder zur Versammlung geht. Und ein bisschen mehr an den Herrgott zu denken, schadet nicht, auch ihr nicht und den Kindern.

      Das Mädchen ist vom Weinen müde geworden. Unter nassen Wimpern hält es die Augen geschlossen und reibt das feuchte Näschen an Jakob, der es nun in ihre Stube zurückträgt. Res zieht sich indessen den Tschopen an und geht ins Tenn, Verena folgt ihm mit dem Melkkübel. Um den Stall zu öffnen, muss Res durch die Futterlöcher hindurch eine Latte lösen. Auf den Zehenspitzen seiner mageren Beine stehend, beugt er sich weit nach vorne, auf zitternden und verkrampften Gliedern. Verena fürchtet jeden Moment, dass er kopfüber in die Krippe fällt. Bei solchen Verrenkungen kann sie ihm nicht helfen, anfassen will sie ihn lieber nicht.

      Res wartet einen knappen Schritt hinter Verena auf die Milch. Sie stemmt ihre Stirne gegen den warmen Kuhbauch und versucht, ihn zu vergessen, während sie ruhig den Milchstrahl abwechslungsweise von links und von rechts in den Kübel lenkt.

      Res, überlegt sie, der etwas älter ist als sie, lernte den Hunger gewiss schon in der Wiege kennen. Im Jahre 1816, erzählt man sich doch, war die Not der Leute besonders schlimm. Die Ernten blieben gänzlich aus, die Menschen assen Gras statt Brot. Res’ Geiz wird dannzumal entstanden sein, wie auch sein sonderbares Wesen. Er wird für alle Zeiten den Hunger im Bauch behalten haben.

      Auch später war Res ein ausgesprochen magerer Bub von ungesunder Farbe. Zudem bewegte sich der Vetter seltsam steif und war sehr langsam im Begreifen, erinnert sich Verena. Ob sein Gehör schon damals schlecht war? Die Natur habe Schwächen in ihm angelegt, darunter einen Groll auf alle und den Jähzorn, hiess es von Res. Jedenfalls war der alte Schlatter nicht glücklich über seinen Sohn. Dass Res die Schule ordentlich besuchte und lesen und schreiben lernte, verdankt er seiner Mutter.

      Res wuchs gewiss freudlos und abgesondert auf. Dass er darüber etwas komisch wurde, verwundert nicht. Ob es wohl stimmt, dass er bisweilen anderen unzugängliche Dinge hört und sieht? Auch das sagte man von ihm.

      Kaum ist Verena mit Melken fertig, wird ihr der Kessel von Res entrissen. Im Schopf verteilt er die Milch auf eine Bränte für die Käserei und einen grossen Krug.

      Ein leeres Glas in der Hand kommt Jakob dazu und berichtet, die Kleine sei eingeschlafen. Während Schlatter Res noch mit Umschütten beschäftigt ist, taucht Jakob sein Glas in die Milch und trinkt es gierig leer. Auch Verena hat seit ihrer Ankunft nichts gegessen