Keinen Seufzer wert. Barbara Lutz

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Название Keinen Seufzer wert
Автор произведения Barbara Lutz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551188



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fauler Baum kann unmöglich gute Früchte tragen. Mit mehr Kraft, als es die steifen Glieder vermuten lassen, tritt Schlatter nach einem Brett. Ein Huhn, das dahintersass, fliegt erschrocken auf. Das Geld wird er nicht wieder sehen, den Wyssler auch nicht.

      Die Anna ist längst zurück im Tal, als Res, noch immer zitternd vor Zorn, in den zugigen Keller geht. Er hebt ein paar Kartoffeln auf und dreht sie nach allen Seiten um. An ein Aussetzen ist vorläufig nicht zu denken, die Erde ist viel zu nass dazu. Und nun drohen die Kartoffeln ein zweites Mal zu keimen, Res flucht vor sich hin. Kaum ein paar Wochen ist es her, dass er Stunden damit zugebracht hat, die Keime abzubrechen.

      Auch für das Kartoffelsetzen hat Res auf Wysslers Hilfe gehofft. Den Mist hat er bereits alleine ausgetan, eine elende Arbeit ohne Ross. Ein solches besitzt er nicht, und sowieso liegt der Acker heuer an einer steilen Stelle.

      Res’ Zorn ist so gross, dass er Mühe hat zu atmen. Seine Wut gilt dem Wyssler, von dem er sich Hilfe versprach. Ein jeder Baum an seiner Frucht erkannt, laut verflucht Res den Wyssler mit harten Worten.

      Es wird Abend, bis Res sich beruhigt. Er setzt sich an den Tisch und hält Gott um Gnade an. Man soll sich dem Herrn treu überlassen. Meine Schwäche hält die Sache nicht auf. Endlich findet Res zu trostreichen Gedanken und zur Ruhe, nach der er sich sehnt. Schliesslich dankt er dem gütigen Gott, dass er ihn bis dahin an Seele und Leib bewahrt hat, und bittet um Erkenntnis und Reue über die begangenen Sünden. Manchmal lässt er sich ablenken in seinen Gedanken an Gott. Wenn ihn die Wut packt, ist es am schlimmsten. Res betet mehrmals am Tag, nur nicht immer innig genug, wie heute Nachmittag, als er zornig war. Es kann ihm auch passieren, dass er während des Gebets an seiner Wirtschaft herumstudiert oder am Geld. Und manchmal überfällt ihn die Masslosigkeit. Er hätte Anken verkaufen können, statt ihn selbst zu brauchen. Sei mir um Jesu Willen gnädig und verzeihe.

      Schliesslich denkt Res, dass er, wenn Gott das so will, den Wyssler doch noch dem Herrn zuführen kann. Res weiss, dass es immer Gnade braucht, damit ein Sünder Einkehr hält. Wenn nur der Wyssler endlich käme, er hat das Logis doch so dringend gewollt? Warum bloss erhält er seit Wochen keinen Bescheid? Res glaubt wieder daran, bei Wyssler gute Anlagen erkannt zu haben. Ganz bestimmt spürt Wyssler die Sehnsucht nach Erlösung, die jeder Mensch in sich trägt, der auf sein Herz hört.

      Behüte mich diese bevorstehende Nacht vor allem Übel. Amen. Res steht auf, um Stall und Tenn zu verschliessen.

      Maimonat 1860

      Die Abreise Wysslers verzögert sich um etliches. Zuerst sind dringende Schulden zu begleichen, sodass das von Schlatter vorgeschossene Geld bald nicht einmal mehr für den Umzug reicht. Jakob muss neues Geld auftreiben. Mehr als einmal kommt Notiz von Schlatter, es ­solle Bescheid gegeben werden, wann man übersiedle. Jakob antwortet nicht. Den ganzen Frühling über bangt er, ob der Umzug gelingt.

      Als er gegen Ende Mai das Geld für die Reise beisammenhat, ist an eine Geiss nicht mehr zu denken. Es ist ein armseliges Zeug, was er auf dem Fuhrwerk zusammenzurrt, damit möchte keine Braut durchs Dorf fahren. Und trotzdem sieht Jakob nicht unzufrieden auf seine Ware, die doch immerhin ein Hausrat ist. Ein Tisch, das Bett, die Wäschetruhe, Körbe und Säcke ragen hoch über den Wagen hinaus. Verena und Jakob Wyssler und auch die zehnjährige Annelies laufen neben dem Fuhrwerk her. Die beiden Jüngsten sitzen hinten auf dem Karren und halten sich fest. Die Wege sind schlecht.

      Es ist der 24. Mai, der Donnerstag vor Pfingsten. Sie übersiedeln viel später als erhofft.

      Verena hat ihren Vetter Res zum letzten Mal gesehen, als sie ein Kind war, und sie hat ihn nicht gemocht. Dann aber ist Wyssler mit seinen Berichten gekommen, und er hat nur Gutes erzählt. Egal, was die Leute sagten, er könne nichts Ungerades finden am Schlatter. Ihr Mann ist ein Fantast und viel zu arglos, aber froh ist Verena doch, das elende Leben in Ursenbach hinter sich zu lassen. Sie freut sich auf eine eigene Stube und dass sie sogar einen Obergaden haben werden.

      Inzwischen ist der Sommer im Anzug. Viel zu lange hat Schnee gelegen. Man begann, sich vor Überschwemmungen zu fürchten und auch, dass die Saat Schaden nehme. Jetzt aber steht alles prächtig, und die Bäume sind in voller Blüte. Das Maiwetter ist sonnig und warm.

      Die Gegend um den Schafberg wirkt freundlich in der Frühlingssonne, wie die Verheissung von einem friedvollen Leben. Rund um die verstreut liegenden Höfe blühen unzählige Apfelbäume. Jakob sagt, sie werden fünf Obstbäume nutzen können und Pflanzland sowieso. Sogar die Jüngste, die immer wieder weint wegen des groben Gerüttels auf dem Wagen, spürt die Vorfreude, als das Fuhrwerk beim Altschloss die Höhe erreicht und in Richtung Schafberg wendet.

      Nur eines bleibt, der Wyssler muss Arbeit finden, denkt Verena. Am Willen fehlt es ihm nicht, und auch als Schuster taugt er durchaus. Er ist nicht faul, nur verschafft sich Jakob keine Geltung. Ein anderer hätte längst etwas gefunden, auch wenn es viele sind, die Arbeit suchen. Es mangelt ihm an Entschlossenheit, und mehr als einer hat für erhaltenes Schuhwerk nie bezahlt. Aber wenn Verena sieht, wie gut der Jakob die Annelies mag, die doch nur seine Stieftochter ist, ist sie versöhnt. Es gibt nicht viele, die ein fremdes Kind bei sich behalten würden. Selbst wenn sie kaum über die Runden kommen und öfter hungrig bleiben, noch nie ist ihr Jakob damit gekommen, die Annelies zu verdingen.

      Die letzten Meter müssen sie zu Fuss gehen. Der breite Weg endet vor einem abschüssigen Graben, den man auf einem schmalen Pfad durchquert. Direkt dahinter befindet sich das Haus. Die Tür ist zur Hälfte geöffnet, als sie sich über den Vorplatz nähern.

      Schlatter Res erwartet sie in der Küche, stehend. Zögernd treten Wysslers ein. Schwer zu sagen, ob der säuerliche Geruch vom alten Mann oder von der Küche ausgeht. Es riecht nach abgestandener Fleischbeize und ranziger Milch. Die kleinen Kinder verstecken sich hinter Verenas Röcken, und Annelies bleibt in der Nähe der Tür. Verena hat kaum Erinnerungen, aber der Vetter ist alt geworden. Dabei ist er nur um wenige Jahre älter als sie selbst. Er mag auf die fünfzig zugehen, ist mager und bleich und scheint vor Erregung leise zu zittern. Dem finsteren Blick, mit dem er sie aus seinem aufgebracht und wirr wirkenden Gesicht anstarrt, kann sie nicht standhalten. Sie tritt zur Seite und ist froh, als Schlatter und ihr Mann die Küche verlassen, um nach den Pferden zu sehen und den Wagen abzuladen. Draussen herrscht Res ihren Mann an, der etwas Begütigendes erwidert. Nun ist sie froh um den nachgiebigen Charakter ihres Mannes, der sich lieber unterzieht, als Streit zu riskieren.

      Verena sieht sich um. Es stinkt. Sie geht durch die Küche, an Schlatters Stubentür vorbei. Die Küche ist ekelhaft dreckig. Kessel und Pfannen, Herd, Tisch und Wände sind mit klebrigem Schmutz und Russ überzogen. In einer verbeulten Pfanne, halb voll mit Mus gefüllt, tummeln sich die Fliegen. Mit einer matten Armbewegung scheucht Verena sie fort. Fliegen hat es überall, aber jetzt im Mai schon so viele, der Herd ist übersät mit toten ­Insekten. Langsam betritt sie die Stube, wo Staub liegt. Wenigstens ist der Raum gross, etwas Sonne scheint her­ein und beleuchtet ein Quadrat auf dem Boden. Verena setzt sich auf den kalten Trittofen. Annelies kommt, die zwei kleinen Kinder vor sich hertreibend, herein.

      «Sie haben vom Mus genommen», sagt Annelies.

      Verena zuckt mit den Schultern. «Sieht man’s?»

      Annelies schüttelt den Kopf. «Man muss die Küche put­zen.»

      Verena reagiert nicht, sondern schaut zu den beiden Kindern hinüber, die schüchtern bei der Tür stehen geblieben sind. Sie geht an den Kindern vorbei hinaus, um den Männern beim Abladen des Hausrats zu helfen. Je eher man den Kutscher entlässt, umso weniger muss man ihm geben. Annelies nimmt einen Reisbesen und macht sich daran, zuerst ihre neue Stube und dann die Küche zu fegen.

      Danach lädt Schlatter die Neuangekommenen in seine Stube ein. Er wirkt besänftigt, auch wenn er sie nicht willkommen heisst, jedenfalls nicht mit Worten.

      Befangen und steif sitzen Wysslers in seiner engen Stube um den Tisch. Das mittlere Kind drängt sich auf der Eckbank gegen die Mutter, und Annelies hält die Jüngste auf dem Schoss. Die Kleinen sind übermüdet von der langen Reise.

      Bisher hat Schlatter nur mit Jakob gesprochen, ganz so, als ob die Frau und die Kinder nicht da wären oder als ob er mit deren Ankunft