Keinen Seufzer wert. Barbara Lutz

Читать онлайн.
Название Keinen Seufzer wert
Автор произведения Barbara Lutz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551188



Скачать книгу

schon den ganzen Winter über hat ihn ein Ziehen im Bein geplagt. Noch ist es so kalt, dass die Späne im Schatten am Boden festgefroren sind.

      Später, als Res sich im eisigen Brunnenwasser Harz von den Händen kratzt, kommt ihm der Wyssler grundlos in den Sinn. Er denkt an den Sommer und wie der Wyssler vielleicht neben ihm stehen wird. An einem warmen Sommertag, wie sie sich waschen hier am Brunnen, ihre verschwitzten Oberkörper und Gesichter.

      Am Abend schliesst Res den Wyssler Jakob in seine Gebete ein.

      Es ist Sonntag, und sonntags besucht Res die Versammlung auf der Mutten. Heute aber ist ein derart heftiger Sturm mit nassem Schnee und Graupeln über das Haus gefegt, dass er zu Hause geblieben ist. Er hat für sich alleine gebetet und leise seine liebsten Lieder gesungen. Seine Stimme klingt dünn und schmal in der Stille der Stube, aber ihm gefällt der dürftige Klang bald besser als die gelärmten Psalmen an der Versammlung. Res bleibt auf der Ofenbank sitzen, das Gesangbuch und Mutters Heft mit Belehrungen auf dem Schoss.

      Seit bald dreissig Jahren geht er zum Gebetskreis auf der Mutten. Und doch trauert er manchmal dem Tannenthaler nach, dem Liechti Hansueli, dessen Versammlungen er als Bub besucht hat. Gmeinschaftli haben die Leute ihren Kreis um Liechti genannt, und so hat es sich auch angefühlt. Solange die Mutter lebte, ging man dorthin. Als sie starb und ein harter Winter folgte, meinte der Vater, für die kurzen Sonntage sei der Weg zu weit. Ohne die Mutter hätten die Schwestern jetzt viel zu tun. Stattdessen besuchte man forthin eine Versammlung von frommen Menschen auf der Mutten, was näher lag.

      Die Mutter hat manches vom Tannenthaler Gesagtes notiert, dessen Innigkeit im Glauben Res bis heute oft vermisst. Kein anderer konnte die Gewissheit vom Wunder, das Gott an den Menschen vollbringt, besser erklären als der Tannenthaler, der schliesslich vom Herrn dazu berufen wurde. Res stösst auf eine Stelle in Mutters Gebetsheft. Der grösste Fehler, liest Res dort nicht zum ersten Mal, sei, dass man zu wenig eingekehrt lebe. Dass man auch in den Versammlungen noch zu viel in den menschlichen Geschwätzen und Ansichten bleibe. Der Herr würde den weit grösseren Segen schenken, wenn man fester und eingekehrter wäre.

      Res mag diese Stelle. Es erwächst nun einmal nichts Gutes daraus, wenn sich die Menschen zusammentun zu Oberflächlichkeit und unnützem Geschwätz. Selbst der Besuch von Versammlungen ist nicht wichtig. Seine einsam gesungenen Psalmen gelten gleichviel.

      Der Sturm hat nachgelassen, und vom Dach rutscht nasser Schnee. Ab und zu ist aus dem Gebälk ein lautes Knacken zu vernehmen in der stillen Stube. Res holt das ­Rechenheft aus der Schublade, öffnet es und streicht es glatt. Er war gestern in Signau, der Berger schuldete ihm vom Korben. Res notiert den Franken fünfzig im Heft. Berger sagte, im Schangnau hinten sei ein Wolf bemerkt worden. Und der Föhnwind soll vor ein paar Tagen im Oberland derart heftig getobt haben, dass allerorten Ziegel durch die Luft geflogen seien. In Ringgenberg habe der Wind einen Einspänner mit drei Personen entführt und samt Inhalt auf einem benachbarten Feld abgesetzt. Leute seien umgeworfen worden und Kinder wie Kegel über die Strasse gerollt.

      Bevor er Bergers Geld zum anderen in den Gänterlischaft gibt, rechnet Res aus, was er besitzt. Was er in den anderen Verstecken beiseitegelegt hat, weiss er im Kopf. Der Wyssler kommt Res in den Sinn und dass er dessen Familie noch nicht kennt. Er wird sich bessere Verstecke ausdenken müssen, bevor die Leute da sind. Der Amtsersparniskasse bringt er sein Geld nicht, auch wenn ihm mancher dazu rät.

      Es ist kühl in der Stube und, obschon erst Nachmittag, wird es bereits wieder düster. Als Res sich mit Schuhen, die er putzen und fetten will, an den Tisch setzt, braucht er Licht. Gestern in Signau haben sie zudem von einem Mord bei Delsberg gesprochen. Eine Tochter fand am Morgen früh ihre Eltern tot in ihren Betten vor. Der Vater lag in seinem Blut, im Schlaf erschlagen. Die Mutter, die sich wohl noch verzweifelt gewehrt hat, erwürgt daneben. Und zwischen den toten Eltern das jüngste Kind, zweieinhalb Monate alt, mit Blut bedeckt, aber ­ruhig schlafend. Tausendzweihundert Franken seien geraubt worden.

      Wenn er sich bloss im Wyssler nicht getäuscht hat, denkt Res und versucht, sich dessen Gesicht vorzustellen, das ihm nun nicht einfällt. Wenn er sich nur nicht geirrt hat, als er dem Wyssler Geld gab.

      Als am Abend der Stall besorgt und die Türen verriegelt sind, fühlt Res sich schwach und krank. Er hat, wie so oft, zu essen und zu trinken vergessen. Beim Beten bittet er den Herrn, er möge ihn vor Schaden schützen, und denkt dabei an Wyssler.

      Res notiert noch den Verlauf des Wetters, lässt dann Schuhputzzeug und alles auf dem Tisch liegen und kriecht hinauf in den Gaden und in sein Bett.

      Es bäumt sich in der Nacht der Wind noch einmal auf, und heftige Sturmböen rütteln an Fenstern und Dach. Res wacht auf und stolpert in die Küche. Im Schopf draussen hat sich etwas gelöst, das jetzt gleichförmig gegen die Holzwand schlägt. Res, der nachts das Haus nie verlässt, öffnet für einen Augenschein die Küchentür. Sofort bläst ihm ein Windstoss das Licht aus und zerrt an den Kleidern.

      Am nächsten Morgen bemerkt er als Erstes den vom Sturm entwurzelten Apfelbaum. Es ist der dritte, den er verliert. Schon im letzten Winter ist ein Birnbaum umgestürzt, und einen zweiten tat er um, weil er nur noch dürre Äste trug. Die Schwestern in Signau unten werden Äpfel und Birnen wünschen im Herbst. Damit wird nichts. Was es heuer an Äpfeln und Birnen gibt, bleibt bei ihm.

      Vor dem Haus liegen Schindeln am Boden. Obwohl sich der Wind noch nicht ganz gelegt hat und trotz der Nässe holt Res die Leiter und steigt, mit einem Hammer und Nägeln ausgerüstet, aufs Dach. Nach ein paar vorsichtigen Schritten auf dem glitschigen Untergrund verspürt er Schwindel. Es ist das Alter, sein Gleichgewicht ist nicht mehr gut. Res lässt sich auf die steifen Knie sinken, die schmerzen. Schlimmer ist, dass Hände und Beine zu zittern begonnen haben. Langsam und vorsichtig schiebt er sich zur Leiter zurück, achtsam, die Schindeln nicht aus ihrer Verankerung zu lösen. Als er endlich mit dem Fuss die Leiter berührt, stösst er sie versehentlich weg. Sie kippt ein Stück zur Seite, und einen Moment lang befürchtet Res, dass sie fällt. Unter Verrenkungen bringt er sie mit dem Fuss zurück in eine gerade Position. Jetzt bräuchte er einen, der unten hält. Warum ist der Wyssler nicht hier? Für so etwas bräuchte er den Wyssler. Vom dem aber hat er seit Wochen nichts gehört.

      Zitternd klettert Res Sprosse um Sprosse hinunter. Als er unten ankommt, ist er dankbar und wütend zugleich. Er hat noch nicht einmal feststellen können, wo das Dach beschädigt ist. Und wenn er sich in diesem Wyssler getäuscht hat? Er hat ihm Geld gegeben. Und nun seit damals keine Nachricht.

      Die Schwestern Schlatter erschienen auf Citation im Untersuchungsrichteramt. Sie deponierten auf Befragen, was sie zum Schafberg wussten. Von Untersuchungsrichter Ingold zu Wyssler einvernommen, sagte Schlatter Maria, was ihr an diesem nicht gefiel: Man habe den Wyssler früher nämlich nicht gekannt. Im Frühling sei derselbe, welcher der Schwiegersohn einer Schwester ihres Vaters sei, erstmals zu ihnen gekommen und wollte zum Bruder auf den Schafberg. Beim Zurückgehen habe er gesagt, es gefalle ihm auf dem Schafberg sehr – zumal seien dort auch viele Sachen, habe er gemeint. Kurz, er habe nicht genug zu rühmen gehabt. Es sei ihr aufgefallen, dass Wyssler viel von Schlatters Sachen sprach.

      Schlatter Maria betrachtete die Sache von Anfang an mit Argwohn: Dem Res sei nicht zu trauen und von dem Wyssler wisse man zu wenig. Als Schlatter später kam, er habe Akkord geschlossen und Wyssler Geld gegeben für den Kauf von Geissen, sei nicht nur sie überaus verwundert gewesen. Was brach­te er just Wyssler, einem Hungerleider, so viel Vertrauen entgegen?

      Einige Zeit später, an einem Morgen im späten März, kommt die Schlatter Anna auf den Schafberg. Als Res die Schwester über die Wiese auf das Haus zukommen sieht, rechnet er fest damit, endlich Nachricht von Wyssler zu erhalten. Die Übersiedelung, geplant auf Anfang April, ist fällig, und noch immer ist ihm kein Datum ­genannt worden. Aber die Anna kommt nur, um nach ihrem Pflanzland zu sehen. Als sie verneint, Nachricht von Wyssler zu haben, schwellen die Adern an Res’ Schläfe zornig an, sein Kopf verfärbt sich rot. Die Anna kennt das und macht sich schnell davon.

      Res bebt, als er ihre Gestalt davoneilen sieht. Er hat diesem dahergelaufenen Wyssler, dem doch von Weitem der Hungerleider und Vagant anzusehen ist, vertraut. Hat ihm blindgläubig alles überlassen, was er diesen Winter mit Holzen verdient hat. Was nützt da ein Akkord, den er auf Wysslers