Mit Gottvertrauen im Gepäck. Helene Arnet

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Название Mit Gottvertrauen im Gepäck
Автор произведения Helene Arnet
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783039199716



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eine Gruppe Ordensschwestern, eine trägt hoch über ihrer Brust eine Bibel, dann folgt die Schar der Jubilarinnen. Sie sind in ihre dunkelblaue Schwesterntracht mit weissem Kragen und schwarzem Schleier gekleidet; in ihren Händen halten sie eine Kerze mit rot-goldenem Kreuz. Eine weisse Spitzenrose als Brosche und ein gleichschenkliges Kreuz, das sie an einer einfachen schwarzen Schnur um den Hals tragen, sind ihr einziger Schmuck. Die Besucherinnen und Besucher haben sich von ihren Sitzen erhoben. Einige Schwestern blicken ernst, viele aber schauen sich neugierig in den Sitzreihen um und lächeln, sobald sie bekannte Gesichter sehen. Eine winkt sogar. Inzwischen sind auch sechs in weisse und goldene Messgewänder und prächtige Stolen gekleidete Priester vorbeigezogen. Einer trägt eine Bischofsmitra. Es ist Kurienkardinal Kurt Koch, einer der höchsten Geistlichen der Schweiz, hier, gleich um die Ecke, in Emmenbrücke, aufgewachsen. 1996 wurde er von Papst Johannes Paul II. zum Bischof von Basel geweiht und 2010 von Papst Benedikt XVI. nach Rom berufen. Er präsidiert dort den Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen.

      Weihrauchschwaden ziehen durch die Kirche, der Chor singt «Nun jauchzt dem Herren, alle Welt». Einer der Priester begrüsst in leicht näselndem Ton die Schwestern an ihrem «Ehrentag». Dann beginnt der Kardinal mit seiner Ansprache. Er spricht von einer Glaubenskrise, die er in der heutigen Gesellschaft beobachtet: «Gott wird nicht mehr als gegenwärtig wahrgenommen.» Es fehle vielen Menschen an einem persönlichen Gott, «es fehlt die Leidenschaft für Gott». Und: «Wir sollen unseren Glauben mit dem Leben bezeugen.» Dann zitiert er jenen Papst, der vor fünfzig Jahren – im Jahr, als die heute feiernden Schwestern ihre Profess ablegten – sein Amt antrat: «Paul VI. nannte Ordensmenschen einmal Spezialisten für Gott», erzählt Kardinal Koch. «Denn sie leben vor, dass die Kirche es mit Gott zu tun hat und Gott in der Kirche lebendig ist.» Er dankt den Baldegger Klosterfrauen, dass sie durch ihr Tun die Gegenwart Gottes bezeugen. Und auch, er lächelt in die Runde, dass sie über all die Jahre seinen bischöflichen Haushalt in Solothurn führten.

      Dann gehen die zwanzig Schwestern, eine nach der anderen, zur grossen Kerze am Altar, um daran ihre eigene Kerze zu entzünden. Sie stellen sich im Halbkreis auf und wiederholen ihr Gelübde, mit dem sie sich vor fünfzig Jahren dem Ordensleben verpflichteten: «Wir antworten Dir heute von Neuem und bitten, hilf uns jungfräulich, arm und gehorsam Jesus Christus nachfolgen, zu Deinem Lob und zum Heil der Menschen. Amen.» Manche Stimmen sind laut und deutlich im Kirchenraum zu hören, manche klingen etwas heiser. Nach eineinhalb Stunden stimmt die Orgel das Lied «Grosser Gott, wir loben Dich» an.

      Nach der Messe wird im Hof des alten Klostertrakts ein Gruppenbild für die Presse aufgenommen. Sr. Gaudentia Meier steht in der hintersten Reihe in der Mitte. Sie wirkt etwas schmaler im Gesicht als die meisten Mitschwestern, die Gläser ihrer Brille haben sich im Sonnenlicht dunkel verfärbt, sie lächelt zurückhaltend in die Kamera, der Schleier ist nach hinten gerutscht, sodass er den Ansatz ihrer weissen Haare freigibt. Die energische Bewegung, mit der sie den stets nach hinten rutschenden Schleier richtet, wird während unseren Gesprächen schon bald zum vertrauten Bild.

      Vier Tage sind vergangen, seit Sr. Gaudentia in Baldegg ihre Goldene Profess feierte. Jetzt begrüsst sie mich im Garten ihrer Nichte Gabriela in Waltenschwil, der Tochter ihres ältesten Bruders. Viele Bilder und Gedanken seien ihr während des Gottesdienstes durch den Kopf gegangen. «Ich habe fest zurückgedacht, was ich in den fünfzig Jahren alles erlebt habe. Es war ein dankbares Zurückdenken, und ich sagte mir, dass ich ein reiches und erfülltes Leben habe, obwohl ich Klosterfrau bin. Oder eigentlich, weil ich Klosterfrau bin: Wäre ich nicht ins Kloster eingetreten, hätte ich das alles nie machen können.»

      Ordensschwester, Missionsstation, Papua-Neuguinea: Was Sr. Gaudentia gemacht hat, ist nicht nur einzigartig, sondern auch exemplarisch für eine Lebensweise, die es in dieser Form wahrscheinlich bald nicht mehr geben wird. Weil sie ungewöhnlich, ja aussergewöhnlich, exotisch und gleichzeitig verblüffend bodenständig ist.

      Das alles scheint so weit entfernt von meiner Realität. Mein Gegenüber schnürt ihren Rucksack auf und packt Bücher, Magazine und einige Fotokopien aus. Zum Schluss zieht sie ein schwarzrotes Fähnchen aus einer Seitentasche, die Flagge von Papua-Neuguinea. Sie zeigt, auf rotem Grund, einen goldenen Paradiesvogel im Flug, auf Schwarz das silberne Sternbild Kreuz des Südens.

      «Ich kann besser erzählen, wenn ich Bilder vor mir habe», sagt Sr. Gaudentia. Das letzte Mal, als sie in Heimurlaub ging, schenkten ihr ihre Mitarbeiterinnen zum Abschied ein Kleid in den Nationalfarben. Das hat sie ihrer Nichte weitergegeben – «ich kann das ja schlecht anziehen», sagt sie. Lacht, trinkt einen Schluck Kaffee und schaut mich dann erwartungsvoll an. Das Fähnchen wird sie mir nach diesem Nachmittag zum Abschied schenken. «Ich sehe die Flagge ja bald wieder, jeden Tag», sagt sie. Es steht seither auf meinem Arbeitstisch und ist mir mittlerweile ganz vertraut.

      «Als Ordensschwester kann ich mich wirklich voll und ganz für eine Sache einsetzen, ohne mich darum kümmern zu müssen, ob sich das in irgendeiner Weise auszahlt», erzählt Sr. Gaudentia. «Wir haben zwischendurch auch Laienhelferinnen und Laienhelfer bei uns in Papua, doch müssen diese immer wieder heim und dort arbeiten, damit sie Geld zurücklegen können fürs Alter. Das muss ich nicht. Ich muss mich nicht sorgen.»

      Sie spricht langsam, und manchmal rutschen englische Wörter dazwischen. «Mein Deutsch ist nicht mehr so gut», sagt sie dann. Am Satzende folgt hie und da ein eigentümliches, leicht näselndes «He», das dem Sinn nach wie ein in den Schweizer Dialekt übertragenes «Well» oder «You see» wirkt. Sr. Gaudentia ist erst vor Kurzem aus Mendi, der Hauptstadt der Provinz Südliches Hochland in Papua-Neuguinea, für einen dreimonatigen Urlaub ins Mutterkloster zurückgekehrt. Ihr Deutsch wird im Laufe der Gespräche wieder fliessender; geblieben ist der Freiämter Dialekt aus ihrer Heimat Waltenschwil bei Wohlen, der etwas altertümlich anmutet.

      13. Oktober 1969

      Ankunft in der Steinzeit

      Wesen wie von einem anderen Stern

      Am Donnerstag, dem 9. Oktober 1969, landeten die fünf Schwestern aus Baldegg in Port Moresby, der Hauptstadt von Papua-Neuguinea. Von dort flog meist zweimal pro Woche ein einmotoriges Flugzeug nach Mendi, der Hauptstadt des Südlichen Hochlands. Ein Fünfplätzer. Im ersten Flieger fanden nur zwei Schwestern Platz. Die anderen drei, darunter Sr. Gaudentia, kamen bei australischen Ordensschwestern unter. «Die legten für uns drei Matratzen in die Kapelle, dort konnten wir schlafen.» Am Sonntag ging dann ihr Flug nach Mendi. Von dort wurden die fünf Baldegger Schwestern, wiederum mit einem kleinen Flugzeug, nach Det, ihrem Einsatzort, gebracht. «Wir landeten in der Steinzeit», erzählt Sr. Gaudentia.

      Papua-Neuguinea, im südwestlichen Pazifik gelegen, wurde damals noch von Australien verwaltet. Det war – und ist auch heute – keine Stadt, kein Dorf, sondern eine kleine Missionsstation mitten im dichten Regenwald, welche noch nicht einmal mit einer Strasse erschlossen war. Doch es gab eine Flugpiste. Die Station war drei Jahre zuvor von einem Kapuziner bezogen worden. Die Einheimischen wohnten in der Umgebung in einfachen Häusern. Organisiert waren und sind sie bis heute in Sippenverbänden. Kurz bevor die Schwestern eintrafen, war es in der Gegend verschiedentlich zu Stammeskämpfen gekommen.

      Hunderte von Einheimischen versammelten sich, als sie hörten, dass die Missionarinnen bald eintreffen würden. Ein Foto zeigt die fünf Schwestern kurz nach der Landung vor dem kleinen Flugzeug, in ihren langen, schweren Ordenskleidern mit schwarzem Schleier. Sie sind umringt von einem guten Dutzend nackter Kinder, teilweise mit geblähten Bäuchen. Die Kinder zeigen keine Scheu, blicken aber ernst in die Kamera. Die Ordensfrauen überragen auch die erwachsenen Papuas, die sich etwas im Hintergrund halten. Sie selbst wirken unbeschwert, neugierig, tatkräftig. Sr. Gaudentia erinnert sich: «Die Männer trugen nur einen Lendenschurz und hinten Blätter, sie hatten Pfeil und Bogen dabei. Die Frauen trugen Röcke aus Schilf und eine Art Tuch. Der Kopf war bedeckt, die Brüste frei.»

      Die Frage, wie denn ihr erster Eindruck gewesen sei, beantwortet Sr. Gaudentia so: «Wenn ich zurückdenke, frage ich mich eher, wie das wohl für die Einheimischen war, als wir in Det eintrafen.