Der Traum vom kühnen Leben. Elena Costa

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Название Der Traum vom kühnen Leben
Автор произведения Elena Costa
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858699312



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sagte sie und legte auf.

      Ich war froh, dass Evelyne mich nicht vergessen hatte, und fragte mich, ob sie auch an mich gedacht hatte. Doch als ich dreißig Minuten später wieder anrief, nahm niemand ab. Was sollte sie auch an einem Achtzehnjährigen finden. Ich probierte es noch ein zweites Mal und überließ die Kabine dann einem Mann, der draußen wartete. Es war kühler geworden, und er hatte seinen Rücken an die Tür gedrückt, bestimmt um sich vor dem Nieselregen zu schützen, der eingesetzt hatte. Er stampfte mit den Füßen, um sich aufzuwärmen, was die Tür zum Klappern brachte. Bevor ich hinausging, klopfte ich an die Scheibe, um ihm nicht wehzutun. Die massige Statur des Mannes hatte einen Schatten in die Kabine geworfen, während ich telefonierte, und dieser Schatten begleitete mich auf der Straße weiter. Aber es war nur der Himmel, der noch grauer geworden war.

      Zu Hause hängte ich den Mantel an einen Kleiderbügel und packte ihn in die weiße Hülle, auf der die Adresse der Reinigung stand, Rue de Birague 3, im vierten Arrondissement, daneben der Vermerk »de luxe«. Ich weiß nicht warum, aber ich war mir sicher, dass Evelyne in dem Viertel leben musste, in der Nähe ihres Sohnes, und dass sie auf dem Nachhauseweg an dieser Reinigung vorbeikam. Am Tag nach unserem Treffen hatte ich die Rue de Birague auf einem Plan gesucht, es ist eine Querstraße zur Rue Saint-Antoine. Die Vorderfront und die Auslage des Ladens waren in derselben Farbe gehalten wie die Hüllen, mit denen sie die Kleider schützten. Ich lief weiter die Straße hinunter, die zu einem kleinen Park führte, ohne dass ich die Place des Vosges erkannte. Dieselbe rote Backsteinfassade, dasselbe steile Schieferdach wiederholten sich auf allen vier Seiten des Platzes, und die Arkaden ließen mich an einen langen Tunnel denken, an dessen Ende ich in einen Abgrund fallen würde. Eine Touristengruppe fotografierte den Platz, und ich hätte um sie herumgehen müssen, um die Gegend weiter zu erkunden. Wegen dieser Angst, mich zu verlaufen, und angesichts der Menge Menschen machte ich wieder kehrt. Wenn ich mich von meiner Wohnung entfernte, hatte ich oft das Gefühl eines Taumels, eine Straße hinunterzugleiten, die leicht abschüssig war wie der Grund eines Schwimmbeckens, in dem man nach und nach den Boden unter den Füßen verliert.

      Ich versuchte nicht mehr, sie zu erreichen. Ich hatte Angst, bei meinen Jahresprüfungen durchzufallen, wenn ich mich weiter mit dieser Frau traf, und so führte ich, geborgen in meiner Einsamkeit, das Leben, das ich mir mit Evelyne erträumte, einfach, indem ich an sie dachte. Abends stellte ich mir vor, sie sei bei mir im Zimmer: Evelyne, wie sie auf dem Rand meines Schreibtischs sitzt, in einem meiner Universitätsbücher blättert und ihr Bein durch die Luft schaukeln lässt. Die Szene schien so real, dass ich nicht mehr wusste, ob ich sie wirklich erlebt hatte oder ob es ein Bild war, das ich mir einzuprägen versuchte. Sie erklärte mir lachend, sie verstehe nichts von Verwaltungsrecht, und legte das Buch mit amüsierter Miene auf den Schreibtisch zurück. Ihr Ton war nicht lehrerhaft, sondern eher der einer Studentin in meinem Alter. Ich rief mir das Timbre ihrer hohen Stimme ins Gedächtnis, an der ich mich festklammern konnte und die in mir weitersprach, die mir antwortete, auch wenn ich nichts sagte. Es schien, als würde ich mich an eine Vergangenheit erinnern, die wir nicht erlebt hatten, und diese Vergangenheit füllte sich im Laufe der Tage immer mehr an. Es gefiel mir, mich ganz von Evelynes Gegenwart durchdringen zu lassen, und am Morgen vertiefte ich mich in meine Bücher, um sie wieder zu verdrängen. Im Café hörte ich noch immer ihr Lachen durch den Raum hallen, dann versuchte ich, sie zu vergessen, um die Leere wiederzufinden, nackt und gesichtslos. Es war, als würde ich jedes Mal einen Alarmknopf betätigen, um mich mit Gewalt einem Traum zu entreißen.

      Mein Studium an der Assas war nur ein Vorwand gewesen, um nach Paris zu kommen, wo ich von unvergesslichen Begegnungen träumte. Aber auch wenn die Einsamkeit mich ins Bistro bei mir um die Ecke trieb, so hielt ich mich weiterhin abseits. Mein Unbehagen, meine ständige Angst ließen mich auf Distanz zu meinen Kommilitonen bleiben. Im Hörsaal belauschte ich die Gespräche des großen Blonden aus Bordeaux, er unterhielt sich mit seinen Freunden darüber, in welchen Vierteln der Hauptstadt, die ich nur dem Namen nach kannte, es abends Partys gab. Sie führten mir ihre Leichtigkeit vor Augen, während mich ein schweres Gewicht bei den Leuten dieser Kneipe zurückhielt. Ich hatte in Paris keinen einzigen Kontakt geknüpft, und ich hatte das Gefühl, meine Jugend zu verpassen. Sollte ich bei den Prüfungen durchfallen, würde ich zu meinen Eltern nach Antibes zurückkehren, und niemand würde sich an diesen jungen Mann erinnern, der sich immer an denselben Platz setzte, außer vielleicht ein, zwei Tage lang der Kellner mit dem blauen Tattoo im Nacken. Oft fiel mir der Satz meines Vaters ein: Das Leben ist ein Hindernislauf, und man muss Hürde für Hürde überwinden, um nicht zu fallen. Und die Semesterprüfungen waren die erste Hürde, die sich mir in den Weg stellte. Ich war ein Provinzler, der nach Paris kam, um all das hinter sich zu lassen, was er seit jeher gekannt hatte, die alten Schwarz-Weiß-Postkarten über dem Bett, den Hund, der jedes Mal hinter dem Eingangstor bellte, wenn jemand klingelte, die gerade Linie des Meers am Horizont, und ich wollte, sobald mir die Stadt einmal nicht mehr so viel Angst machen würde, herausfinden, wer ich wirklich war, über meine Kindheit hinaus.

      Als ich eines Nachmittags das Lernen unterbrach, um Zigaretten zu kaufen, und am Collège des Francs-Bourgeois an der Rue Saint-Antoine, Ecke Rue du Petit-Musc, vorbeikam, erblickte ich Evelynes Sohn. Er hielt das rote Fahrrad am Lenker, das am Flipper gestanden hatte. Statt die Straße zu überqueren, um dem Gedränge nach Schulschluss auszuweichen mit dem Geschrei der Schüler und den Müttern, die in ihren Autos in der zweiten Reihe hupten, ging ich auf dieser Seite des Gehsteigs weiter. Ich hatte plötzlich den Eindruck, wieder ein Kind zu sein und vor meiner Schule in Antibes zu stehen. Eigenartigerweise fühlte ich mich fragiler als damals, als wären die Jahre umsonst verstrichen: Nicht nur war ich kein bisschen reifer geworden, ich hatte darüber hinaus die Unbekümmertheit verloren, die Kindern eigen ist. Jérôme war in Begleitung einer schwarzhaarigen Frau um die vierzig, die den Arm um seine Schulter gelegt hatte. Sie trug einen Nerzmantel und hielt einen dunkelbraunen Rucksack an einem seiner roten Träger. Es musste die neue Frau seines Vaters sein, denn sie hatte dasselbe Auftreten wie Evelyne, nur noch bürgerlicher. Die Frau sah mich mit abwesendem, leerem Blick an. Ich sagte Jérôme Guten Tag, aber niemand achtete auf mich. Ich fühlte ein Unwohlsein aufkommen und lehnte mich neben dem Schuleingang ans Geländer. Ich beobachtete die Kinder auf der Straße: Sahen sie mich, wie ich sie sah? Stellte mein Körper für die Schüler, die mich mit der Schulter anrempelten, wirklich ein Hindernis dar? Und dann diese bohrende Frage, die mich jedes Mal mit dem Gefühl überfiel, ich würde in der nächsten Sekunde das Gleichgewicht verlieren und in Ohnmacht fallen: Existierte ich überhaupt?

      Schließlich beruhigte ich mich. Die Menge der Schüler hatte sich zerstreut, und ich erinnerte mich daran, dass ich eigentlich Zigaretten kaufen wollte. Langsam ging ich weiter, was mir guttat. Was mir fehlte, dachte ich auf dem Weg, war eine gehörige Dosis Mut, um meinen Ängsten die Stirn zu bieten, dann wäre das Leben angenehmer. Die Universität war nach den Prüfungen zwischen Weihnachten und Neujahr geschlossen, und meine Eltern hatten mit mir eine Reise nach Sardinien geplant. Doch es wäre besser für mich, ich würde Paris erkunden, jeden Tag dieser Ferienwoche nutzen, um ein neues Arrondissement kennenzulernen, damit mir die Stadt vertrauter wurde. Ich bräuchte mir nur einen detaillierten Plan von den Straßen und Vierteln zu beschaffen, ich wollte Montmartre, die Butte-aux-Cailles, Saint-Germaindes-Prés, das Quartier Latin entdecken, die Orte, an denen sich die anderen Studenten trafen, wie Saint-Michel oder das Odéon, die für mich nur Metrostationen waren, und warum nicht in den Vorortszug steigen und Versailles besichtigen. Danach würde ich mich leichter fühlen, ohne dieses Gewicht auf den Schultern.

      Am Abend rief ich aus einer Telefonzelle meine Mutter an. Ich hätte keine Zeit für die Sardinien-Reise, sagte ich, ich hätte viel zu tun für das zweite Semester, und ich weiß noch, dass ich mit bewegter, zitternder Stimme auflegte. Beim einzigen Mal, da ich meine Eltern besuchte, seit ich in Paris lebte, hatte ich den Eindruck zu ersticken und war augenblicklich in die Gewohnheiten zurückgefallen, die ich ein paar Wochen zuvor hinter mir gelassen hatte. Nach meiner Rückkehr fühlte ich mich noch fragiler, noch einsamer als zuvor. Mein kurzer Aufenthalt in der stattlichen Villa meiner Eltern hatte meine Einzimmerwohnung düster gemacht, und die Holzbalken zu beiden Seiten des Fensters vermochten das Ambiente auch nicht aufzuheitern. Das nur mit einem Bett und einem Schreibtisch ausgestattete Zimmer kam mir plötzlich karg vor und enger als in meiner Erinnerung. Ein Gefühl der Traurigkeit hing in der Luft; ich hatte es mit der Zeit vergessen.

      Nach