Der Traum vom kühnen Leben. Elena Costa

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Название Der Traum vom kühnen Leben
Автор произведения Elena Costa
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858699312



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an den Wänden ausging. Zwei imposante Porträts eines Manns und einer Frau im Halbprofil waren so platziert, dass sie sich einander zuwandten. Die Frau musste um die dreißig sein, er um einiges älter. Sie hatte ein anmutiges Gesicht und schien von dem Mann mit den dunklen, streng nach hinten gekämmten Haaren gleichzeitig eingeschüchtert und bezaubert zu sein. Später habe ich von einem der Stammgäste gehört, es seien die Eltern des Besitzers. Die anderen Bilderrahmen waren bunt durcheinander über die Wände verteilt: Aufnahmen aus dem Viertel und Klassenfotos, auf denen kleine Knaben in Uniform auf einer Bank saßen und mit traurigem Blick ins Objektiv starrten. Bestimmt stammten diese Bilder ebenfalls aus den privaten Beständen des Wirts, so als würde er uns bei sich zu Hause in seinem Wohnzimmer empfangen. Irgendwann machte mich das Geratter des Flippers verrückt, und ich spickte die Kugel ins Leere, um die Partie zu Ende zu bringen. In dieser Phase meines Lebens kam es mir vor, als würde ich immer demselben Weg folgen und wie die Kugel durch ein schwarzes Loch fallen. Jeden Tag erwachte ich mit neuem Elan, bis mich dieselben Hindernisse wieder an diesen Platz im dämmerigen Licht des Cafés trieben.

      Ich wohnte damals in der Rue de la Cerisaie, einer Querstraße zur Rue du Petit-Musc, an deren Ecke das Bistro war. Ich hatte Anfang Juli, gleich nachdem ich von der Assas-Universität die Zulassung für das erste Jahr erhalten hatte, eine Einzimmerwohnung gemietet. Am letzten Samstag im August brachte mich mein Vater mit meinen Sachen von Antibes nach Paris. Am nächsten Morgen fuhr er wieder zurück. Ich begleitete ihn bis zur Haustür, es muss kurz vor sieben gewesen sein, die Luft war noch frisch und die Temperatur angenehm kühl. Ich wartete eine Weile, bevor ich wieder ins Zimmer hinaufging, in dem sich zwischen den Koffern und Umzugskartons noch die ganze Sommerhitze staute. Ich starrte auf die Straßenecke, an der das Auto abgebogen war, um das Bild meines Vaters, der mir durch das halb offene Fenster zugewinkt hatte, noch einen Augenblick in mir festzuhalten. Ich fand es aufregend dazustehen, mit diesem neuen Leben vor mir, doch während sich die Gegenwart meines Vaters verflüchtigte, wurde ich auf einmal von der Stille überwältigt. Ich war unfähig, sie wegzudrängen, ich hatte den Eindruck, nicht mehr zu existieren, oder nur noch in Gestalt dieses dunklen Flecks auf dem Boden. Die gleiche Empfindung hatte ich bereits, als ich kam, um Wohnungen zu besichtigen, und zum ersten Mal mit der Anonymität einer Großstadt konfrontiert war.

      Ich hatte damals bei einer Cousine meines Vaters im vierzehnten Arrondissement übernachtet und war zwei Tage später mit dem Nachtzug nach Antibes zurückgefahren. Ich kenne mich in Paris nicht gut aus, gestand ich ihr am Abend meiner Ankunft, und hätte Angst, nicht pünktlich zu den Terminen zu erscheinen, die ich telefonisch mit den Vermietern vereinbart hatte. Am nächsten Morgen wurde ich um elf Uhr von einer Frau erwartet, die in der Rue de Courcelles wohnte, sie vermietete eine Dienstmädchenkammer unter dem Dach. Die Cousine hatte mich beruhigt: Die Pariser würden sich am Metroplan orientieren, und wenn ich mich verlaufe, müsse ich nur eine Bahn nehmen und an der nächsten Station wieder aussteigen, und schon würde ich mich wieder zurechtfinden. Sie selbst wohnte mit ihrem Mann bei der Metrostation Edgar-Quinet.

      Es war ein besonders heißer Tag, und anders als am Meer blies der Wind hier nicht stark genug, um die Luft etwas aufzufrischen. Als ich mich, wie ich dachte, in der Nummer 79 der Rue de Courcelles vorstellte, kicherte die Frau, die mir öffnete: Nein, sagte sie, sie sei nicht diese Madame Bouveret, die ich suche, sie habe keine Wohnung zu vermieten. Ich sehe ihre Bluse und ihren karierten, eng an der Taille anliegenden Rock noch immer vor mir. Sie wünschte mir viel Glück und beeilte sich, die Tür wieder zu schließen, für den Fall, dass ich mich nicht abwimmeln lassen wollte. Aber ich hatte mich nicht geirrt, ich zog den Zettel hervor, auf dem ich die Adresse und den Termin notiert hatte. Es war wirklich die Nummer 79, im dritten Stock. Als ich die Treppe hinunterging, überlegte ich mir, ob sich die Wohnung vielleicht in einem anderen Gebäudeteil befand, doch im Erdgeschoss gab es keine Tür zum Hof. Es gab auch keine Nummer 79 a. Ich ging mehrmals den Gehsteig rauf und runter und überprüfte die Nummern. In der prallen Sonne legte sich unter meinen Kleidern der warme Schweiß auf meine Haut. Ich hatte das Gefühl, dass sich die Häuserfassaden aufeinander zubewegten, dass die Straße sich faltete wie ein Blatt Papier, um mich in einen Abgrund zu ziehen, in dem die Hitze immer brütender würde. Es fiel mir nicht ein, einen Passanten zu fragen, so absurd kam mir das Ganze vor. Gab es diese Adresse überhaupt? Vielleicht hatte ich sie am Telefon falsch verstanden. Ich dachte an den Rat der Cousine und lief Richtung Metrostation Courcelles, wo ich eine Stunde zuvor ausgestiegen war. Am Mittag war ich im Marais zur Besichtigung einer Einzimmerwohnung verabredet.

      Vor dem Gebäude der Nummer 23 der Rue de la Cerisaie stand ein etwa vierzigjähriger Mann, der mich erwartete. Ich war so erleichtert, als ich auf ihn zuging, dass ich sofort beschloss, die Wohnung zu nehmen. Es war nichts weiter als ein ziemlich dunkles Zimmer im obersten Stock, doch die Holzbalken zu beiden Seiten des Fensters verliehen dem Raum einen gewissen Charme. Wir unterschrieben den Vertrag im Café an der nächsten Straßenecke bei einer Citronnade. Die Wohnung gehörte seinen Eltern, und er hatte während seines Medizinstudiums selbst darin gewohnt. Ich weiß nicht warum, aber die Vorstellung, dass er darin gelebt hatte, beruhigte mich, als würde dieser Umstand das Zimmer, das ich eben besichtigt hatte, etwas weniger trist machen. Um die Bastille herum würden viele Studenten wohnen, sagte er, und es werde mir in dem Arrondissement bestimmt gefallen. Das Leben in Paris war wenig aufregend, viel eintöniger, als ich mir das im Sommer vorgestellt hatte. Die Stadt beschränkte sich für mich auf die paar Straßen, die ich entlanglief, bevor ich in den Metro-Korridor hinabtauchte. Sämtliche Häuser glichen einander, und es gab überhaupt keine Orientierungspunkte. Paris war ein riesiger Wald, den ich zu betreten scheute, als könnte ich mich darin verlaufen, an einer Straßenkreuzung verloren gehen. Am Morgen ging ich über den Boulevard Henri-IV zur Place de la Bastille, dort nahm ich die Metro, die mich, nach dem Umsteigen in Châtelet, zur Station Luxembourg brachte, nicht weit von der Universität. Das war der einzige Weg, den ich kannte. Nach dem Unterricht, gegen vier Uhr nachmittags, ging ich erst nach Hause, danach ins Café, um zu lernen. Ich entfernte mich nie weit von meiner Wohnung, so als wäre die Stadt von einem Netz unsichtbarer Grenzen durchzogen, die ich nicht überschreiten konnte, ohne dass mich ein Unbehagen überkam. Am Ausgang der Metro wurde ich manchmal vom Regen überrascht, der dieses Gefühl des Verlorenseins, wie man es im Ausland hat, noch verstärkte. Die Straßennamen hören sich alle gleich an, und jeden Tag folgt man demselben Weg vom Hotel zum Strand. Damals wäre ich unfähig gewesen, den Boulevard Saint-Germain auf einem Plan auszumachen, ihn zur Avenue de l’Opéra in Bezug zu setzen. Ich war nie dorthin gegangen, sodass mir noch immer das Paris der alten Schwarz-Weiß-Postkarten mit den berühmten Monumenten, die mir mein Großvater jedes Jahr zum Geburtstag schickte, intakt im Gedächtnis blieb. Die übrige Stadt war imaginär für mich, aufgrund ihrer Größe schier unfassbar, so als wäre sie rund um diese Postkartenbilder herum gewachsen, die ich bei meinen Eltern in Antibes im Laufe der Jahre nach und nach an die Wand meines Zimmers pinnte.

      Ende der neunziger Jahre wurde ich mir meiner damaligen Gedankenlosigkeit bewusst, als ich einmal den Boulevard de Courcelles entlanglief und mich plötzlich in der Rue de Courcelles wiederfand, die eine Querstraße dazu ist. Ich begriff, dass ich zehn Jahre zuvor, in jenem Juli 1987, die Straße mit dem Boulevard verwechselt hatte.

      Zu Beginn des Semesters hatte ich mich von den kleinen Studentengruppen, die sich zu bilden anfingen, ferngehalten. Da war ein junger Mann, mit dem ich einen Vortrag in Verfassungsrecht vorbereitet hatte und der mir mehrmals vorschlug, mit ihm in ein Café in der Rue Soufflot zu gehen, wo sich die meisten Studenten nach den Vorlesungen trafen. Er war ziemlich mager, einen Meter neunzig groß und hatte blonde Haare. Er besuchte seine Eltern, die in Bordeaux lebten, nur selten und musste eine natürliche Nähe zu mir empfunden haben, da ich wie er aus der Provinz kam. Ich schlug seine Einladung jedes Mal aus unter dem Vorwand, mit dem Lernen im Rückstand zu sein. Die Assas-Universität war sehr selektiv, und viele Studenten vom ersten Jahr schafften den Sprung ins zweite nicht. Ich zog es vor, in mein Viertel zurückzukehren, zu den anonymen Gästen im Café an der Rue du Petit-Musc. Ich brauchte diese Abschottung, um zu diesem Teil meiner selbst Zugang zu finden, den ich zu entdekken begonnen hatte und von dem ich nur, wenn ich allein war, einen Blick erhaschte. Ich war immer noch dieser wohlerzogene, bedeutungslose Junge, der vor allem nach Paris gekommen war, um Bekanntschaft mit sich selbst zu schließen. Ich bin dem großen Blonden weiterhin vor dem Hörsaal oder auf der Straße begegnet, irgendwann in Begleitung eines Mädchens