Der Traum vom kühnen Leben. Elena Costa

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Название Der Traum vom kühnen Leben
Автор произведения Elena Costa
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858699312



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eigenen Namen zu schreiben.

      Evelyne sprach in heiterem Ton, und ich dachte, dass sie genauso einsam war wie ich, dass sie jemanden brauchte, an dem sie sich festklammern konnte. Sie sprach von dem letzten Film, den sie im Kino gesehen hatte, und erzählte mir dann von einer Reise, auf der sie in der Mailänder Scala ein Sinfoniekonzert mit Musik von Respighi besucht hatte. Es war das erste Mal, dass ich den Namen dieses Komponisten hörte, und ich wagte nicht zu fragen, ob er noch lebte. Vor zwei Jahren hatte sie ein Schuljahr lang eine Stellvertretung in Cannes gemacht und die freie Zeit genutzt, um die Côte d’Azur entlang und durch Norditalien zu reisen. Sie liebte diese Gegend. Ich konnte kaum meine Sätze beenden, hatte sie schon das Thema gewechselt, und manchmal ließ sie zwischen uns lange Pausen entstehen. Dann hatte ich das Gefühl, ihr noch besser zuzuhören, so als hätten wir schweigend am meisten miteinander zu teilen, als sagte sie mir so, was sie nicht in Worte fassen konnte. Ich betrachtete sie, während sie das Gespräch anführte. Evelyne hatte blaue Augen, und ihre leicht abstehenden Ohren waren hinter den offenen Haaren versteckt. Wenn sie nicht lächelte, gaben ihr die Mimikfalten um die Mundwinkel einen ernsten und traurigen Ausdruck.

      Als sie erfuhr, dass ich im ersten Jahr Jura studierte, zeigte sie sich überrascht, dass ich so jung war.

      »Witzig. Ich war mir sicher, Sie würden Klassenarbeiten korrigieren, als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe. In Ihrem Alter kommt einem das Leben noch unendlich vor, und mit fünfunddreißig scheint es bereits so kurz. Man hat den Eindruck, etwas verpasst, nicht die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben.«

      Und dann fügte sie hinzu, indem sie als Zeichen des Vorwurfs leicht das Kinn anhob:

      »Sie werden den Frauen noch viel Kummer bereiten. So sind die Anwälte!«

      »Wenn das so ist«, sagte ich, »werde ich bei den Jahresprüfungen bestimmt durchfallen.«

      Und wir mussten beide lachen. Ich war genauso überrascht wie sie über meine Kühnheit; vielleicht hatte sie sich in diesem Moment nur über mich lustig gemacht. Sie hatte ein derbes, ansteckendes Lachen, das im Gegensatz stand zu ihrer sehr femininen Art, sich aufrecht zu halten, mit gereckter Brust, und zur Sorgfalt, die sie auf ihr Äußeres legte.

      Evelyne kümmerte sich nicht um die Leute im Café, die uns beobachten könnten. Beim Eintreten hatte ich nur die Stammgäste an der Theke bemerkt. Sie schaukelte ihren Fuß unter dem Tisch, sodass ihr Anhänger regelmäßig an den Knopf ihrer Bluse schlug. Ich bekam Lust, die Halskette zwischen ihren Brüsten zu packen, damit dieses unangenehme Hin und Her aufhörte, ich stellte mir vor, dass sie sich zu mir beugte und ich die Strähne von ihrer Wange strich, um sie zu küssen. Sie gefiel mir, sie war anders als die Mädchen, mit denen ich in Antibes zusammen gewesen war. Es ging von ihr eine Kraft und gleichzeitig eine große Zerbrechlichkeit aus. Für Momente ging sie mir auf die Nerven, sie hatte dieses lässige, etwas unechte Gehabe, das mir schon beim ersten Mal aufgefallen war, so als versuchte sie ihre Bedrücktheit zu überspielen. Doch die Zerbrechlichkeit, gegen die sie ankämpfte, kam im Laufe des Gesprächs nach und nach wieder zum Vorschein. Evelyne wurde weniger redselig, sanfter, und strich mit dem Ende der verglimmenden Zigarette über den Rand des Aschenbechers, um meinem Blick auszuweichen. Ich hätte gerne ihre Hand genommen, damit sie mit dieser Manie aufhörte. Es schien mir, dass Evelyne sich in ihre Gedanken flüchtete, dass sie, während sie mit ihrer Zigarette spielte, identische Kreise in sich selbst zeichnete, die kleiner und kleiner wurden, und sich darin einschloss. Wenn ich sie zum Lachen brachte, hörte sie auf, mich auf Distanz zu halten, und ich wollte, dass sie noch mehr, noch heftiger lachte. Während ich sie beobachtete, spürte ich noch immer das gewohnte lastende Gefühl auf der Brust, aber es war nun nicht mehr so feindselig, wir mussten es nur mit unserem Lachen übertönen.

      »Ich bin erst vor Kurzem nach Paris gezogen, ich wohne in einer kleinen Wohnung gleich hier um die Ecke«, sagte ich, indem ich mit der Hand Richtung Rue de la Cerisaie zeigte. »Die Straße ist ruhig, gut zum Arbeiten.«

      Ich wagte sie nicht zu fragen, ob sie im selben Viertel wohnte. Ich hoffte, dass Evelyne mir ihre Adresse verriet, für den Fall, dass sie mir nicht vorschlagen sollte, uns wiederzusehen. Trotz meiner Angst, mich zu verirren, sah ich mich bereits durch die Straßen ihres Viertels streifen, um sie zufällig zu treffen und dabei einen Termin in der Gegend vorzutäuschen. Ich hatte Lust, mich auf ihre Suche zu begeben, so wie ich für die Suche nach mir selbst nach Paris gekommen war. Ganz sicher würde dieses Unbehagen verfliegen, wenn ich mit der Gewissheit, sie bald wiederzusehen, durch die Stadt gehen könnte.

      »Sie wirken sehr seriös auf mich, scheinen jemand zu sein, der sich Gedanken um seine Zukunft macht«, sagte Evelyne zu mir.

      »Ich habe nichts anderes zu tun, als zu studieren, und außerdem kenne ich niemanden hier, abgesehen von einer alten Cousine. Ganz allein ist es nicht so einfach, sich zu amüsieren, meinen Sie nicht?«

      War es die leichte Beschwipstheit, die mich dazu brachte, so ungezwungen mit ihr zu sprechen, oder die Aufgeregtheit, die bei mir die Gegenwart einer solch verführerischen Frau auslöste? Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, ich könnte ihr gefallen, und die Situation war so seltsam, dass ich selbst überrascht war über meine Unerschrockenheit, so als wäre ich in einem Traum und keines meiner Worte könnte nach dem Erwachen gegen mich verwendet werden.

      »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, arbeiten Sie so viel, weil Sie noch keine Freunde gefunden haben? Und Sie haben neben Ihrem Studium noch keine Ablenkungen gefunden, die Ihnen lohnenswert erscheinen, das meinen Sie?«, fragte sie, während ich mein Feuerzeug ihrem Gesicht näherte, um ihre Zigarette anzuzünden.

      »Genau. Seit ich in Paris wohne, habe ich den Eindruck, dass das ganze Leben so abläuft. Und dass wir alle ohne Kühnheit leben.«

      Sie nickte, und wir schwiegen eine Weile, zwangen uns zu einem Lächeln, als ein amerikanisches Paar sich an den Nebentisch setzte. Sie waren um die zwanzig und trugen beide ein Jeanshemd. Der Mann hatte einen Stadtplan vor sich ausgebreitet, den er mit seinem Stift bekritzelte, er markierte die Orte, die sie besichtigt hatten, mit einem Kreuz. Der Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen: zwei Cola und eine Portion Pommes frites für zwei.

      »Sprechen Sie gut Englisch?«, fragte mich Evelyne.

      »Nicht wirklich. Ich komme aus Antibes und brauche es nur im Sommer, wenn die Touristen an die Côte d’Azur kommen und nach dem Weg fragen.«

      Als die Amerikanerin die Hand ihres Verlobten streichelte, holte mich meine Schüchternheit wieder ein, und das Gefühl der Trunkenheit, das mich bisher getragen hatte, war wie verflogen. Ich spürte ein gewisses Unbehagen neben diesem Paar, das seine Intimität zur Schau stellte, während Evelyne und ich uns kaum kannten. Bin ich mit ihr zu weit gegangen, wenn ich nicht einmal fähig war, anders als in Gedanken, ihre Hand zu nehmen? Sie studierten den Plan, der Mann führte die Spitze des Kugelschreibers über die Wege, die sie wohl gegangen waren, indem er wie bei einem Malbuch achtgab, nicht über den Rand zu geraten. Evelyne und ich konnten unseren Lachanfall kaum unterdrücken, als wir den Akzent hörten, mit dem sie die Straßennamen aussprachen, so als befänden sie sich in einem imaginären Paris.

      Der junge Mann unterbrach uns mit der Bitte, sie zu fotografieren. Er streckte mir mit verschwörerischer Miene die Kamera entgegen, er dachte wohl, wir seien ein Liebespaar im selben Alter wie sie. Jetzt, da Evelyne nicht mit ihrem Sohn zusammen war, kam sie mir wie eine Studentin vor, leicht und unbekümmert. Sie musste sehr jung Mutter geworden sein, und vielleicht machte es ihr deshalb Spaß, mit einem Achtzehnjährigen zusammen zu sein, so als könnte sie in falscher Reihenfolge leben und wieder zu einer Studentin im ersten Jahr werden. Ich stellte mich in die Mitte des Raums, um den besten Winkel zu finden. Die Amerikaner hielten sich um die Schultern, der Pommes-Teller, den der Kellner auf den Pariser Stadtplan gestellt hatte, war aufgegessen. Durch das Objektiv beobachtete ich Evelyne zu ihrer Rechten. Sie war im Profil und betrachtete die Bilder an der Wand, während sie mit ihrem Anhänger spielte, was das Bild etwas leer aussehen ließ, ohne Vordergrund, vor allem weil der Arm des jungen Mannes abgeschnitten war. Doch statt das Objektiv auf das Paar zu richten, drückte ich auf den Auslöser im Gedanken, dass auf diese Weise eine Spur von dem Augenblick, den ich mit Evelyne teilte, auf dem Film dieses Fotoapparats erhalten bleiben würde.

      Als