Der Traum vom kühnen Leben. Elena Costa

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Название Der Traum vom kühnen Leben
Автор произведения Elena Costa
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858699312



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Obwohl ich mit dem Lernen im Rückstand war, wollte ich nicht nach Hause. Ich fühlte mich gut neben ihr, trotz ihrer selbstgefälligen Art. Ich dachte mir, der mit dieser Unbekannten verbrachte Augenblick könnte mir später als Ausgangspunkt zu einem meiner Ausflüge dienen, um mit ihr zu entfliehen, wenn ich wieder allein wäre. Und in dieser Lücke, die sich auftat, nahm die Beziehung, die ich mir mit Evelyne einbildete, die Form erst vager Erinnerungen an, die immer präziser wurden, je länger ich sie beobachtete. Es war, als gäbe es weder Vergangenheit noch Gegenwart, nur dieses erträumte Leben, dessen Versatzstücke ich in die Wirklichkeit einsetzte, bis schließlich alles eins wurde.

      Sie trug einen Lederrock und dazu einen knallroten, zur Farbe ihrer Lippen passenden Pullover. Ich beugte mich über mein Buch und tat, als würde ich lernen, schrieb Anmerkungen an den Rand oder unterstrich Sätze, ohne sie gelesen zu haben. Ich legte meine linke Hand über die Augen, damit Evelyne meinen beharrlichen Blick nicht bemerkte. Ich sah, wie ihre Pumps ihre Waden und Knöchel zur Geltung brachten, verweilte auf der Falte in der Mitte der Schenkel, ließ die Augen zur Form ihrer Brüste wandern und stellte mir vor, wie ich am Morgen meine Hand unter ihren Pullover geschoben hatte, um sie zu streicheln. Ihr Rock verkürzte sich jedes Mal, wenn sie ihre Beine übereinanderschlug oder wieder nebeneinanderstellte. Mehrmals streifte mein Arm den ihren, aber da sie nicht ans Ende der Bank rutschte und nichts sagte, schwieg ich ebenfalls und machte keine Anstalten, mich zu entschuldigen.

      Ihr Sohn setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl, um seine Limonade zu trinken. Er hatte mehrere Partien hintereinander gespielt und die beiden letzten Kugeln energielos weggespickt ohne den Versuch, sie zurückzuhalten, hatte ihre Bahn mit den Augen verfolgt, bis sie hinter dem Glas eine nach der anderen verschwunden waren.

      »Und?«, fragte er, während er mit dem Strohhalm in seinem Glas rührte, »gehen wir?«

      »Gleich, Jérôme, ich habe noch nicht ausgetrunken«, antwortete sie mechanisch.

      Sie las in ihrer Zeitschrift und blätterte plötzlich mit einer zackigen Bewegung die Seite um, die nicht zu ihrer vorherigen Lethargie passte.

      »Mach doch noch ein Spiel, ich glaube, ich habe noch Münzen.«

      Der Junge stöberte in der Handtasche und kehrte zögernd zum Flipper zurück. Er kauerte sich neben das Fahrrad. Ich hörte, wie sich die Kette um die Pedale ins Leere drehte, dann ein metallisches Geräusch, als ließe er ein Geldstück über die Speichen gleiten, erst ganz langsam und dann abwechselnd mit Beschleunigungen, die wohl seinem Geisteszustand entsprachen, einer Mischung aus Wut und Langeweile.

      Als er wieder aufstand, stieß er mit dem Kopf gegen die Tischplatte, und das Weinglas fiel um. Seine Augen waren rot und geschwollen, aber er weinte nicht. Ich streckte Evelyne ein Taschentuch hin, der Wein war auf ihre Strumpfhose gespritzt. Die Zeitschrift war voller roter Schlieren. Ich weiß nicht mehr, ob es Elle oder Marie-Claire war, ich erinnere mich nur, dass auf der Titelseite in Großbuchstaben stand: »Wie man einen untreuen Mann zurückerobert«.

      Evelyne war aufgestanden, um sich abzuwischen, und streifte dann den Mantel über, während sie Jérôme ein Zeichen gab, sich anzuziehen. An der Klappe einer Manteltasche las ich den Namen eines großen Couturiers. Als der Kellner kam, um die Glasscherben aufzulesen, drehte sie sich zu ihrem Sohn um:

      »Jérôme, du bist wirklich un-ver-bess-er-lich!«, sagte sie laut zu ihm, indem sie jede Silbe absetzte.

      Es kam mir vor, als spielte sie nur, als sei alles unecht, wegen des unterdrückten Schluchzers, mit dem sie es sagte.

      Der Wein hatte auf meinem Mantel, der auf der Bank lag, einen Flecken hinterlassen, und sie beharrte darauf, ihn auf ihre Kosten in die Reinigung zu bringen. »Ich werde mir eh einen neuen kaufen«, sagte ich zu ihr, ich hatte keine Lust, dass sie bemerkte, wie abgenutzt er war: Am Verschluss fehlten zwei Knöpfe, und das Futter war zerrissen. Aber sie gab nicht nach, und nachdem sie mir auf einem abgestempelten Metroticket ihre Telefonnummer notiert hatte, ging sie mit meinem gefalteten Mantel über dem Arm davon. Sie hatte vergessen, sich für das Taschentuch zu bedanken.

      Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Paris fühlte ich mich nicht mehr ganz so einsam, als ich mein Zimmer betrat. Es genügte, ihre Telefonnummer auf dem Metroticket zu lesen.

      2

      Drei oder vier Tage nach unserer Begegnung sah ich Evelyne wieder. Ich hatte sie angerufen, um meinen Mantel zurückzubekommen, und wir verabredeten uns für den späten Nachmittag im Café an der Rue du Petit-Musc. Ich ging nach den Vorlesungen erst nach Hause und streifte mir ein hellblaues Hemd über, das besser zu ihrem Stil passte. Danach machte ich einen Umweg, um Zigaretten zu kaufen, und da sah ich sie an der Ecke zur Rue Saint-Antoine. Evelyne hielt ungefähr auf der Höhe ihrer Schulter einen Kleiderbügel in der linken Hand. Sie trug eine Stoffhose und einen beigefarbenen Regenmantel. Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit trotz des Winds, der die weiße Hülle aufbauschte. Es sah aus, als würde sie mir ein Signal, einen Notruf aussenden, wie eine weiße Flagge, die am Horizont flatterte. Ich folgte ihr langsam aus einiger Entfernung, bis sie das Café betrat, ohne dass ich wagte, sie anzusprechen, sie hatte mir, als ich sie zum ersten Mal sah, nicht gesagt, wie sie hieß, und auch am Telefon nicht. Als ich sie so beobachtete, fiel mir auf, dass das Café sich in einem einstöckigen Haus befand, was eher an eine kleine Provinzstadt denken ließ.

      Ich trat ein und ging auf Evelyne zu, sie hatte sich im großen Raum mit dem Rücken zur Wand hingesetzt, unter die Porträts des Mannes und der Frau aus den fünfziger Jahren. Mein Mantel lag ausgebreitet neben ihr auf der Bank. Ich hatte das Gefühl, ich sei noch nie in diesem Café gewesen, so anders war die Atmosphäre hier als in dieser Ecke, wo der Flipperkasten fast den ganzen Raum einnahm. Obwohl es draußen bereits dunkel war, war es hier heller, und das Geschirrklappern hinter dem Ausschank, die Gespräche ringsum vermittelten mir nicht das übliche Gefühl der Einsamkeit. Als ich sie begrüßte, antwortete sie kaum; sie beeilte sich zu sagen, der Flecken sei rausgegangen.

      Evelyne bestellte ein Glas Rotwein und rief dem Kellner mit einem zwinkernden Seitenblick auf mich zu:

      »Ich hoffe, heute wird er es nicht verschütten!«

      Sie schien nicht sehr oft hierherzukommen, denn der Kellner zog ein schiefes Gesicht, als hätte er die Anspielung auf das Missgeschick ein paar Tage zuvor nicht verstanden.

      »Für mich dasselbe«, sagte ich.

      Der Kellner hatte auf dem Hals, hinter dem Ohr, eine blaue Tätowierung, ein leicht gebogenes Kreuz, das sich jedes Mal wellte, wenn er sich an einen Kunden wandte, um die Bestellung aufzunehmen.

      Ich war überrascht, dass Evelyne etwas Zeit mit mir verbringen wollte. Sie hatte mich das letzte Mal ignoriert, in ihrer Zeitschrift gelesen, und als sie darauf beharrte, sich um die Reinigung zu kümmern, war ihr Ton herablassend. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob sie zu dem Treffen erscheinen würde, sie hätte den Mantel auch an der Theke abgeben und nie wieder herkommen können.

      Ich hatte viel an sie gedacht seit unserer Begegnung im Café, aber da ich ihren Namen nicht kannte, war sie mir nur verschwommen im Gedächtnis geblieben, etwas unwirklich, wie die Leute auf den Visitenkarten. Ich hatte das Metroticket mit ihrer Telefonnummer in das durchsichtige Fach meines Portemonnaies geschoben, und wenn ich es öffnete, überprüfte ich, ob Evelynes Nummer wirklich draufstand, um mich zu vergewissern, dass ich nicht geträumt hatte. Ich konnte die Nummer schließlich auswendig, als wäre sie ein unsichtbarer Faden, den ich aufgreifen konnte, um in Gedanken mit ihr in Verbindung zu treten. Nach unserer ersten Begegnung hatte ich mehrmals geglaubt, sie im Viertel zu sehen. Evelyne war so präsent in mir, dass ich ihr Gesicht auf unbekannte Frauen projizierte, die ich auf der Straße sah, bis ich merkte, dass ich mich getäuscht hatte. Ich hatte sogar geglaubt, sie in einem Film zu sehen, der im Fernsehen lief. Die Schauspielerin hatte einen kleinen Auftritt, eine junge Frau, die an einer Ampel abgesetzt wird und den Fahrer durch die halb offene Scheibe lässig fragt: »Hast du vielleicht einen Hunderter für mich?« Es dauerte nur einen kurzen Moment, ich war nicht sicher, ob sie es war. Vielleicht war es Aurore Clément, von der sie mir später irgendwann erzählte, dass sie oft mit ihr verwechselt wurde. Evelyne hatte mehrmals