Название | Der Traum vom kühnen Leben |
---|---|
Автор произведения | Elena Costa |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858699312 |
Evelyne beugte sich zu mir vor und drückte mir einen Kuss auf die Wange, um gleich wieder in den schäkernden Ton unseres Gesprächs zu verfallen. Dann imitierte sie den strengen Ton, mit dem die junge Frau sich an ihren Verlobten gerichtet hatte:
»It’s simple, honey. Here we are at the Rjuu du Petite-Mjusc«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf den Tisch.
Ich brach in Lachen aus, während sie wegen des Blitzlichts des Fotoapparats noch immer die Augen zukniff.
Ich weiß nicht, warum Evelyne mir so gefallen hat, ich hätte sie genauso gut nicht ausstehen können. Sie war nicht natürlich und versuchte sich als jemand anders auszugeben. Diejenige, die ich liebte, war die entspannte junge Studentin, die in dem Café schallend loslachte, ich fühlte mich aber auch von dieser Frau mit der eleganten Erscheinung angezogen. Wahrscheinlich fehlte es ihr, wenn sie so viel Mühe auf ihr Äußeres verwendete, an Selbstvertrauen. Manche Aspekte ihrer Persönlichkeit, die in mir jeder anderen gegenüber Antipathie ausgelöst hätten, zogen mich bei ihr an: ihre frivole Art, ihre Vorliebe für Luxuskleider, ihr leicht mondäner Tonfall, in dem sie die Sätze betonte, und der italienische Akzent, mit dem sie die Titel von Respighis Werken aussprach, die sie in Mailand gehört hatte. Noch nie war ich mit einer solch starken Präsenz konfrontiert gewesen, bestimmt, weil Evelyne älter war als ich. Ich war in dem Café euphorisch wie nach einer Anästhesie, die mich vergessen ließ, dass ich mir selbst überlassen war. Und während ich mich weigerte, mich unter die anderen Erstsemester zu mischen, und in der Einsamkeit jene Verbindung suchte, die mich mir selbst näherbrachte, wünschte ich mir jetzt im Gegenteil, mit ihr zusammenzubleiben, die Gewissheit zu haben, sie am nächsten Tag wiederzusehen. Ich hing an ihren Lippen in dem Bedürfnis, sie kennenzulernen, wollte sie aber auch über das erfassen, was sie durchscheinen ließ, wenn sie nicht sprach. Zeitweise kam es mir vor, als hätte ich selbst die Sätze gesagt, die sie äußerte, so sehr versuchte ich, Teil ihres Lebens zu werden.
Evelyne war Klavierlehrerin und sollte bald eine Stelle in einem Gymnasium im Vallée de la Bièvre antreten, wo ihr eine Dienstwohnung zur Verfügung stand. Es machte ihr Angst, Paris mit der Banlieue zu tauschen. Sie lebte von einer Stellvertretung zur anderen, die das Rektorat ihr anbot, und dazwischen gab sie Privatstunden bei den Schülern zu Hause und spielte ganze Nachmittage lang Klavier. Sie gab mir ihre Visitenkarte, auf der dieselbe Telefonnummer stand wie auf dem Metroticket:
Mme Evelyne Arnaudin
Klavierlehrerin
Diplomiert am Conservatoire Lausanne
42 56 20 78
Ich untersuchte die Karte, aber auch auf der Rückseite stand ihre Adresse nicht.
»Du kannst sie behalten, wenn du willst.«
Es war das erste Mal, dass sie mich duzte.
»Aber«, sagte ich, »du hast gar keinen Schweizer Akzent.«
Ich hatte erst gezögert, bevor ich sie ebenfalls duzte, wegen unseres Altersunterschieds.
»Na und, du doch auch nicht, du hast doch auch keinen südfranzösischen Akzent. Ich habe es hingeschrieben, damit es seriöser wirkt. Ich habe meine Klavierausbildung am Conservatoire von Besançon gemacht, wo ich aufgewachsen bin.«
»Ehrlich gesagt dachte ich, du seist aus Paris.«
»Wirklich? Wie kommst du denn darauf«, fragte sie mich mit einem falschen Ton der Entrüstung.
»Einfach so … Die Pariserinnen sind hübscher als die aus der Provinz.«
»Hör zu, weißt du, was jemanden aus der Provinz von einem Pariser unterscheidet?«, fragte sie und gab die Antwort gleich selbst: »Ein Pariser schaut dich auf der Straße an, ohne dich zu sehen, so als hätte er dich schon vergessen, bevor er dich kennengelernt hat.«
Evelyne war nicht diese Frau bürgerlicher Abstammung, deren Gehabe sie angenommen hatte. Als ich sie über ihre Kindheit sprechen hörte, glaubte ich einen Augenblick, sie habe sich um meinen Mantel gekümmert, um mit mir zu reden, um alles rauszulassen, was sie in sich verborgen hielt, und dass ich sie nie mehr wiedersehen würde.
»Wenn du Schüler suchst, kann ich dem Wirt deine Karte geben, damit er sie hinter der Theke aushängt. Weißt du, ich komme jeden Tag zur gleichen Zeit hierher, sobald es dunkel wird.«
Sie schwieg einen Augenblick. Als ich spürte, dass sie von mir wegdriftete, sah ich vor mir, wie sie auf einem Gemälde von Edward Hopper abends allein an diesem Tisch sitzt, über ihr Glas Wein gebeugt, und im Versuch, sie da herauszuholen, sie ihrem Schweigen zu entreißen, fragte ich ganz laut:
»Und Jérôme? Wie geht es ihm?«
»Er lebt bei seinem Vater, ich sehe ihn nur selten. Es ist besser so.«
Seit sie in Cannes war, habe sich ihre Beziehung noch weiter gelockert.
»Er ist ein schwieriger Junge«, fügte sie in gleichgültigem Ton hinzu, als wäre sie es gewohnt, diesen vorgefertigten Satz jedem Beliebigen zu wiederholen.
Es schien ihr für einen Moment gutzutun, schlecht über ihn zu reden. Dann wechselte sie erneut das Thema. Ihr Blick war leer, Evelyne war wieder zu einer gut gekleideten Frau geworden mit diesem etwas ernsten Ausdruck, den die Frauen aus bürgerlichem Haus oft aufsetzen. Der Gedanke streifte mich kurz, sie habe sich verkleidet: Sie war einfach nur ein Mädchen in meinem Alter, dem man die Jugend gestohlen hatte, und das es, genau wie ich, nicht schaffte, so unbekümmert zu sein wie die anderen Studenten.
3
Drei Tage nach unserem Treffen rief ich Evelyne von einer Telefonzelle aus an. Ich war nicht sicher, dass sie zu Hause war. Es musste ungefähr vier Uhr nachmittags sein, und meistens gab sie um diese Zeit bei ihren Schülern Klavierstunden. Vielleicht sollte ich mein Schicksal einfach dem Zufall überlassen? Wenn das Telefon ins Leere klingelte, würde ich nicht mehr versuchen, sie wiederzusehen.
Wir waren vor dem Café etwas überstürzt auseinandergegangen. Evelyne wollte nicht, dass ich sie zur Metrostation begleitete. Sie habe es eilig, hatte sie kurz angebunden gesagt. Ich ging nach Hause und hielt die weiße Hülle auf Schulterhöhe, um mich davon abzuhalten, ihr mit dem Blick zu folgen und auf dem Gehsteig hinterherzurennen. Am liebsten hätte ich den Reißverschluss aufgemacht und mein Gesicht hineingedrückt, um darin zu verschwinden. Sie hatte mich nicht geküsst zum Abschied. Ich bereute es, dass ich sie nach Jérôme gefragt hatte, denn fünf Minuten später brach Evelyne unser Gespräch ab und ging zur Theke, um die Getränke zu bezahlen, unter dem Vorwand, sie sei in der Nähe der Madeleine verabredet. Bestimmt schämte sie sich, mir zu gestehen, dass ihr Sohn nicht bei ihr lebte. Ich hatte nichts dazu gesagt, konnte jedoch meine Überraschung und den Gedanken schlecht verbergen, der mich spontan überkam, sie sei eine schlechte Mutter. Hatte sie ihren Sohn denn nicht ein ganzes Schuljahr lang alleingelassen, um in Cannes zu leben?
Ich spürte die Einsamkeit noch immer, doch seit unserer Begegnung im Café hatte die Leere das Gesicht von Evelyne. Wenn es verwischte, versuchte ich mich an das Foto zu erinnern, das ich von ihr neben dem amerikanischen Pärchen gemacht hatte, und sie tauchte wieder vor mir auf. Einen Augenblick lang saß sie dann auf der Bank und spielte mit ihrer Halskette, während sie die Fotos an den Wänden betrachtete, und das Stimmengewirr eines Cafés füllte meine Ohren. Evelyne war ein Schatten, den die Sonne entstehen und gleich wieder verblassen ließ, bis er sich ganz aufgelöst hatte, aber es schien mir, ich könnte danach genau an der Stelle, wo das Licht ihn hingelegt hatte, noch immer seinen Abdruck, seine intakten Umrisse sehen.
»Hallo. Guten Tag, hier ist Yves.«
»Hallo … Wer ist am Apparat?«, fragte sie in einem strengen Lehrerton.
Ich hörte das Klavier im Hintergrund, falsche Noten, die mich hinderten, sie deutlich zu verstehen.
»Yves, vom Café an der Rue du Petit-Musc. Ich würde Sie … dich gern wiedersehen …«, sagte