Thorburg. Ute Stefanie Strasser

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Название Thorburg
Автор произведения Ute Stefanie Strasser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701180516



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dabei gestritten. Während meine Großmutter am Tisch sitzt und ein Kreuzworträtsel löst, spaziert mein Großvater gerne im Uhrzeigersinn um ihn herum. Wir werden ihn auf einer Runde begleiten und uns umschauen, was es da zu sehen gibt. (Sollte Sie das nicht interessieren, gehen Sie gleich weiter zum nächsten Absatz, zur Frau Roth gegenüber den Großeltern.)

      Wir gehen an der Eingangstür los. Gleich links in der Ecke steht auf einem runden Tischchen das schwarze Telefon. Es läutet selten und es wird keinesfalls täglich benutzt. Von Zeit zu Zeit kommt ein Mieter aus dem Haus und bittet, ob er telefonieren darf. Anschließend legt er einen Schilling in eine kleine Schüssel. Das Telefon ist ein schweres schwarzes Prachtstück. Schon interessant: Die Telefone sind immer kleiner und leichter geworden, man hat sie mit Tasten ausgestattet, weil das Drehen der Drehscheibe so aufwändig, dann wurden sie schnurlos – wie praktisch! Und jetzt? Jetzt blickt manch ei-ner sehnsüchtig zurück zu den großen schweren Schwarzen oder Weißen, wie man sie in alten Kinofilmen sieht und bei Manufactum für 250,– Euro kaufen kann (Warenkatalog 28, 2015).

      Nicht in jedem Haus stand ein Telefon, im Feenthal stand das einzige im Grubhof. Wenn in den umliegenden Häusern oder Bauernhöfen jemand plötzlich krank wurde oder sich verletzt hatte und man einen Arzt benötigte, musste man zum Grubhof rennen, um ihn anzurufen. Und es dauerte, bis der mit seinem Jeep oder sogar der weiße Rettungswagen, die Rettung, vorfuhr. Wie weit weg sind doch diese langsamen Zeiten vom Heute mit den allzeit verfügbaren Handys!

      In den frühen Sechzigern erst bekamen meine Eltern ihr erstes Telefon – ein Vierteltelefon, es gab auch Halbtelefone. Das bedeutete, dass vier Teilnehmer bzw. zwei Teilnehmer, die sich untereinander nicht kannten und von denen jeder seine eigene Telefonnummer hatte, an einer Leitung hingen. Diese die Grundgebühr verbilligenden Sammelanschlüsse hatten den Nachteil, dass die Leitung jeweils nur von einem genutzt werden konnte; wenn einer telefonierte, war sie für die anderen besetzt. Das hätte bei einem Notfall ein Pro-blem geben können, war im Normalfall aber nicht weiter störend, denn kein Sparsamer mit einem Viertel- oder einem Halbanschluss führte lange und also teure Telefongespräche.

      Jetzt gehen wir die Zimmer-Nordwand entlang, wo zwischen den beiden Fens-tern zur Straße hin die schwere Pendeluhr hängt. Freitags wird ihr Glastür-

      chen geöffnet und das Uhrwerk aufgezogen, dann tickt die Uhr wieder bis zum nächsten Freitag in das Zimmer hinein. Ihr Schlagwerk wird nur an Silvester für die zwölf Schläge zur Begrüßung des Neuen Jahres in Betrieb gesetzt. Unter der Uhr steht eine dunkle Kommode mit Bett- und Tischwäsche.

      In der nächsten Ecke steht ein großer Schreibtisch mit vielen Schubladen. Auf dem Schreibtisch liegen ein Atlas, ein Lexikon und ein Wörterbuch (das ist die Bibliothek meiner Großeltern), liegen Papier und Papiere, Stempel und Stempelkissen, Heftmaschine Locher Löschwiege und anderer Krimskrams. An manchen Samstagnachmittagen sitzt mein Vater an diesem Schreibtisch und erledigt Büroarbeiten für die Großeltern. Ich stehe herum und lauere darauf, ihm mit einem Stempel oder der Löschwiege zur Hand zu gehen. Die Heftmaschine überlässt er mir nur widerwillig, denn damit stelle ich mich ungeschickt an und er muss anschließend die schräg verbogene Klammer wieder entfernen, mit den Fingern, dabei sticht er sich in die Fingerkuppen.

      In der nächsten Wand gibt es gleich am Anfang das Fenster nach Osten und danach stehen der Wand entlang die graue Bettbank, auf der Amas kleine Großnichten sitzen, wenn sie zu Besuch sind, und direkt im Anschluss daran das Lotterbett. Das Lotterbett hat nichts mit Lotterleben zu tun, es dient keinem Müßiggänger als Liegestatt, es dient tagsüber der Ablage von Kleidern und des Nachts meiner Großmutter zum Schlafen. Und an Ostern finde ich dort hinter einem Kissen ein Osterhasi und ein Schokolade-Ei und am sechsten Dezember finde ich dort ein Nikolausi in einem Schokolade-Stiefel.

      Das Lotterbett ist bis in die dritte Zimmerecke geschoben; rechts davon ist die Eingangstür in das Kabinett, der nach Süden hin gelegenen Schlafkammer meines Großvaters. Nach dieser Tür steht ein Kleiderschrank und vor ihm steht die Singer Nähmaschine und auf der steht zu Weihnachten der Weihnachtsbaum – ja, da staunt man, wie viel auf so wenig Platz stehen kann.

      Die vierte Zimmerecke wird vom hohen hellgelben Kachelofen ausgefüllt, an dessen wohlige Wärme sich Ama gerne lehnt. Rechts vom Kachelofen, an der vierten Zimmerwand (Zimmer-Westwand), hängt der runde Spiegel. Vor ihm macht der Großvater öfters eine Pause bei seiner Zimmerrunde, besichtigt sich darin, cremt sich ein, rückt sich die Pullmankappe zurecht, und jedes Jahr zu Weihnachten probiert er vor ihm seine neue auf und zupft an ihr herum, weil sie partout nicht so sitzen will wie die gute alte, die die Großmutter gerade neben ihm ins Feuer des Kachelofens schmeißt.

      Rechts vom Spiegel steht eine dunkle Kredenz mit Geschirr und Gläsern drin. In ihrer Nische stehen eine rechteckige schwarze Blechdose und eine runde Porzellandose in Türkis mit Sternenmuster. Nach der Kredenz sind wir wieder bei der Eingangstür – unsere Sightseeing-Rundtour ist zu Ende, wir scheren aus. Der Großvater spaziert weiter, wie aufgezogen rundum und rundum, bis ihn die Großmutter anfaucht, dass er sich setzen soll. Er gehorcht und setzt sich.

      Wir gehen weiter. Gegenüber den Großeltern wohnt in einem einzigen klei-nen Raum die blondgelockte Frau Roth mit ihrem Buben, der ist ungefähr fünf Jahre alt und hat immer kurze Hosen an. Mit den beiden wohnt der Herr Bortwisch – glattes dunkles Haar, mit Frisiercreme (Brisk) gefettet und seitlich gescheitelt; Gesichtsverzierung: kein Schnauzer und keine Bürste, sondern ein feines Oberlippenbärtchen, wie angeklebt. Wegen der verschiedenen Namen wissen wir, dass diese drei Personen als Familie nicht echt sind.

      Herr Bortwisch verlässt jeden Morgen gegen neun Uhr das Haus – heller Anzug, Hut und Spazierstock. Wohin er sich begibt, wissen wir nicht. Ich sehe ihn die Alte Straße hinaufeilen und seinen Spazierstock schwingen; dieses Bild erinnert mich an den geschmeidigen Kater Bartl, von dem Marlen Haushofer erzählt, dass er, wenn er über die Straße läuft, aussieht wie ein Mann in den besten Jahren, der es eilig hat in sein Geschäft zu kommen, nur dass ihm die Aktentasche fehle. Die fehlt auch dem Herrn Bortwisch, und überhaupt – der Herr Bortwisch schaut nicht aus wie ein pflichtbewusster Büromensch. Aber wie ein ehrlicher Arbeiter schaut er auch nicht aus, finden die Frauen im Haus. Ja, sie finden ihn in seinem Aufzug ein wenig anrüchig und sie rätseln, wo er wohl den ganzen Tag herumstrawanzt, denn er kommt erst gegen Abend wieder nach Hause; und sie spekulieren, wie er sein Geld verdient, mit welchen G’schäftln, ob er überhaupt welches verdient. Hinter vorgehaltenen Händen nennen sie ihn ein Gigerl, einen eitlen Geck und einen Luftikus, und sie verdächtigen ihn, dass er auf Kosten der Frau Roth lebt. Die wiederum verdächtigen sie, dass sie älter ist als er; bestimmt ist sie das. Und bestimmt ist sie eine Kriegerswitwe und lebt mit ihrem Sohn von einer Rente und er, der Herr Bortwisch, lebt da mit. Woher kommt der eigentlich? Also ein Hiesiger ist er bestimmt nicht, so wie er redet, wenn er redet. Redet eh kaum was. Ist der überhaupt ein Österreicher?

      Und sie, die Frau Roth, diese gelockte Blondine – weder die Locken noch das Blond echt, mutmaßen die Frauen –, die takelt sich auch täglich auf, putzt sich heraus und geht ebenfalls weg, gegen Mittag und mit dem Kind; die kocht nix. Wohin die wohl gehen? Dazu werden diverse Mutmaßungen ausgetauscht.

      Eines Tages brachte der Herr Bortwisch einen Hund mit, eine Art Pudel, von dem Ama behauptete, dass er Tag und Nacht kläffe. Gott sei Dank zog diese unechte Familie bald nach dem Einzug des Hundes mit dem Hund aus. Jetzt zog Ama mit ihrer Küche aus dem zweiten Raum rechts, genau gegenüber dem Hausbrunnen, in dieses frei gewordene Zimmer. Der verlassene Raum bekam den Namen Alte Küche und diente fortan als allgemeine Waschküche.

      Wir kommen zum dritten Raum rechts, da wohnt Katharina Fröhlich. Hinter dem wohlklingenden Namen verbirgt sich eine dürre Gestalt, die ein dunkles Kopftuch und knöchellanges Schwarz trägt. Ihrem Zimmer entströmt ein scharfer Geruch, denn die Kathi, wie sie im Haus genannt wird, ist unten nicht mehr ganz dicht; oben angeblich auch nicht. Einmal am Tag schlurft sie in Pantoffeln mit einem leeren Kübel zum Hausbrunnen und holt frisches Wasser, und einmal am Tag schlurft sie mit einem vollen Kübel durch den Gruselgang nach vorne zur Straße und entleert ihn in den Straßengraben. Unser Haus ist noch nicht kanalisiert, alle müssen ihr Schmutzwasser nach draußen leeren. Hat sie festere Bestandteile in ihrem Kübel, geht sie damit zum Plumpsklo, denn die darf frau nicht in den Straßengraben entsorgen, das weiß auch die Kathi.