Название | Thorburg |
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Автор произведения | Ute Stefanie Strasser |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783701180516 |
Wie, überlegen meine Mutter und ich eines Nachmittags, könnte unser Haus, wenn es denn eine Burg wäre, heißen; Burg allein ist uns ein wenig zu wenig. Thorburg, mit h, schlage ich vor, denn gleich oben am Ende der Alten Straße, an der unser altes Haus zwischen anderen alten Häusern steht, ist früher ein Stadttor gewesen, und Tor hat man früher mit h geschrieben. Ja, das passte, ab jetzt und für immer sollte es unsere Thorburg sein.
Die Thorburg lehnt sich wie das Weiße Haus im Feenthal an einen Hang, des-halb hat sie von der Alten Straße aus gesehen ein Stockwerk, vom Garten aus gesehen aber zwei. Die in Ost-West-Richtung verlaufende Alte Straße war bis zum Bau der Neuen Straße die Hauptverkehrsader durchs Städtchen. Schon Napoleon und seine Soldaten müssen sie im April 1797 beim Verlassen des Städtchens hinuntergezogen sein; die Bewohner der Häuser werden neugierig und ängstlich aus den Fenstern gegafft haben. Die Thorburg war zu der Zeit ein bescheidenes Handwerkerhaus; die Chronik erzählt von einem Lödler, das ist einer, der das Leder aus den in der Nachbarschaft liegenden Gerbereien verarbeitet hat, von einem Sattler, von einem Zinngießer, von einem Schuster, von einem Schneider. Die Chronik erzählt auch, dass die Thorburg schon während des Dreißigjährigen Krieges gestanden ist, allerdings brannte sie danach ein paarmal, zum letzten Mal 1710, wobei man annehmen darf, dass die Grundmauern jeden Brand einigermaßen heil überstanden haben. Aus dem Brandschutt wird man jeweils herausgeholt haben, was man zum Wiederaufbau verwenden konnte, die Reste hat man zur Mitte hin auf einen Haufen gekehrt. Und da liegen sie noch, im tiefen Zentrum des Hauses, von vier dicken Mauern umschlossen.
Hinter der Thorburg ist der Garten wie ein großes grünes Handtuch auf den sonnigen Südhang gebreitet. Unten wird der Garten durch eine Straße und einen Bach begrenzt, beide verbinden uns mit dem Feenthal. Über den Bach führt ein Brücklein zu einem Haus mit den üblichen Holzhütten (obersteirisches Hüttenwesen), dahinter geht es einen wilden Wald bergan. Der Berg ist ein Kalvarienberg, der Wald ist ein Finsterwald (Peter Handke). Die Fichten haben ihre Äste eng miteinander verhakt – dichtes Fichtendickicht – und lassen das Licht nicht nach unten durch. Solche Finsterwälder schmücken oder verunzieren – ob dies oder das, ist eine Frage des persönlichen Geschmacks – weite Teile der schönen Obersteiermark.
Auf der einen Seite des Gartens, auf der linken, wenn man vom Haus nach unten schaut, trennt uns ein schmaler Pfad vom Nachbargarten, ein steirisches Steigerl, wir nennen es das Gassl. Es verbindet die Alte Straße und die Bachgasse und wird vorrangig von den Leuten begangen, die unten in der Bachgasse wohnen.
Opa K. kam das Gassl hoch, wenn er, als er schon in Rente war, bei uns vorbeischaute, um uns etwas Gutes aus dem Feenthal zu bringen: Kirschen, Eierschwammerl (Pfifferlinge), einen Herrenpilz – nicht wurmstichig, Bauernspeck Bauernbrot Bauernbutter, und im Advent ein paar Zweiglein von der alten Tanne im Tal. Meist war er angekündigt und meine Mutter erwartete ihn. Immer wieder schaute sie zum Fenster hinaus, und wenn sie ihn das Gassl hochkommen sah, rief sie voller Freude: Da Vata kummt! Mit leuchtenden Augen lief sie ihm entgegen, umhalste ihn und küsste ihn auf die stachelige Wange – Dreitagebart, mindestens. Sie lotste ihn in unsere Küche und half ihm, den Rucksack abzulegen und auszupacken. Sie bestaunte die Gaben und bedankte sich – danke danke danke. Er, da Vata, setzte sich an den Tisch, zündete sich seine Pfeife an und schenkte ihr und mir, so ich da war, ein väterliches Schmunzeln. Sie bewirtete ihn: Kaffee oder Tee? (mit oder ohne Rum war keine Frage, weil immer mit), oder lieber ein Glas Weißwein? Essen wollte er nie etwas. Sie setzte sich zu ihm und zupfte ihm so beiläufig irgendwo ein Haar weg, schob ihm eins aus der Stirn, schmierte ihm das komische Muttermal auf der Wange mit der selbstgemachten Ringelblumensalbe ein – die Ringelblumen aus dem eigenen Garten und das Fett von glücklichen Schweinen. Er hielt brav still, ließ sich ihre Handgreiflichkeiten gutmütig gefallen, nannte sie mein Töchterlein. Lange konnte er nie bleiben, er musste noch ins Städtchen wegen diverser ihm von Oma Rosa aufgetragener Besorgungen. Sein Töchterlein begleitete ihn bis unten zur Haustür und hatte den Rest des Tages gute Laune; ich glaube, sie hatte ihren Vater von allen Menschen am allerliebsten.
Auf der anderen Seite des Gartens, auf der rechten, schließt direkt der Nachbargarten an, ein etwas vernachlässigter Nutzgarten und nach unten hin ein grandioser Dschungel, in dem Katzen und anderes Getier herumschleichen. Die Buben des zu diesem Garten gehörenden Hauses spielen, naja: brüllen und ballern oben im Hof. Manchmal geht ein schöner Jüngling, später werde ich ihn noch näher kennenlernen, die Steintreppen zum Garten hinunter. Da steht zwischen den Beeten ein niedriges, im Sommer nach oben hin offenes Glashaus, in dem er Kakteen zieht. Er hockt sich vor seine Kakteen und schaut. Stundenlang, kommt mir vor, hockt er da und schaut und schaut, und tut nichts. Tut doch was: raucht eine Zigarette nach der anderen und zupft hin und wieder an einem Kaktus. Das kann ich alles sehen, denn ich habe mir in unserem Garten durch die Wiese einen Pfad zum Apfelbaum getreten, wo eine Bank und ein Tisch stehen, und jeden Tag steige ich auf die Bank und von der Bank auf den Tisch, und vom Tisch klettere ich auf einen niedrig angesetzten Ast, und von dem Ast klettere ich weiter zu einer Astgabel, in der ich, selbst ein wenig versteckt, bequem sitzen und meine Umgebung beobachten kann. Ein wenig sitzt es sich hier wie in der Felsennische hinter dem Weißen Haus im Feenthal. Ein vertrautes Gefühl also und doch etwas Neues, denn hier sitze ich auf einem Baum und das erfüllt mich mit Stolz, war doch das Auf-die-Bäume-Klettern im Feenthal aus Gründen der Stärke und der Geschicklichkeit meinen Cousins vorbehalten gewesen; mancher wird sich erinnern: Wene saß einmal fast einen ganzen Tag auf der hohen Fichte bei Oma Rosas Häuschen. Jetzt sitze ich auf einem Baum, den ganzen August lang bis zum Ende der Sommerferien. Von den grünen Äpfeln soll ich ja nicht probieren, der Zeigefinger wurde erhoben: Bauchweh – Darmverschlingung. Und aufpassen soll ich, dass ich nicht herunterfalle. Ich habe aufgepasst, trotz-dem bin ich heruntergefallen, weil ich höher hinaus wollte, noch ein Stück nach oben. Ich fiel ins Gras, aber leider auf den Rücken und bekam für ewige Augenblicke keine Luft. Glücklicherweise kam ich mit dem Schrecken davon und glücklicherweise hatte niemand meinen Sturz gesehen. Meine Mutter hätte nämlich auf keinen Fall von diesem Fall erfahren dürfen, sie hätte mich mit einem Baumverbot belegt und dessen Einhaltung kontrolliert. Fortan
blieb ich in meiner Astgabel sitzen, keine Experimente mehr.
Täglich also sitze ich ein paar Stunden auf dem Baum in Gesumm und Geflatter und gewöhne mich an die neue Umgebung. Oben bei den Häusern ist ein Geräuschteppich gewoben aus Rufen Reden Lachen Geschirrklappern, dem Auf und Zu von Fenstern und Türen und ein wenig Radiomusik, noch keine WUMWUM-Stereoanlagen. Unten durch die Bachgasse fährt hie und da ein Auto oder ein Fuhrwerk oder ein Traktor oder einer auf seinem Moped mit doppelt tönendem Arsch: unten das knatternde Auspuffrohr und oben Gedudel oder die sich überschlagende Stimme eines Sportkommentators aus einem auf den Gepäckträger geklemmten Kofferradio. Wenn ein Schichtarbeiter nachts oder sehr früh am Morgen mit seinem Moped durch die Bachgasse röhrte auf dem Weg vom oder ins Gussstahlwerk, wurden, auch ohne zusätz-lich tönendes Kofferradio, bestimmt fünfzig Leute wach. Mein Vater nann-te diese Krachmacher Mopedschisten, in Anlehnung an Idealisten Sozialisten Kommunisten (Konsumisten kannte er noch nicht). Heute Nacht, fluchte er, habe ihn wieder a sou a deppata Mopedschist, oder auch: a sou a Depp von an Mopedschisten, aufgeweckt.
Immer im Blick hatte ich, selbst wenn ich in einem Buch las, den Ortgang an unserem Haus. Der Ortgang hat einen Boden aus Holzbrettern, ein Geländer aus Eisen und ein Dach aus Blech und ist nicht bloß der Weg zum Abort, sondern auch ein Ort für sich, den wir großspurig Balkon nennen. Die weiblichen Hausbewohner stehen dort oder sitzen auf der schmalen Bank – auf dem quer stehenden Schemel sitzt fast den ganzen Tag der alte Herr O. –, schauen in den Garten hinunter und unterhalten sich. Wenn sie ihre Stimmen nicht gerade bis zu einem Flüstern zurücknehmen, fallen Gesprächsfetzen zu mir herab, aus denen ich mir allerhand zusammenreime. Über ihren Köpfen ist eine Leine gespannt, auf der kleine Wäsche zum Trocknen hängt: Geschirrtücher, Socken, eine Unterhose. Große Wäschestücke werden auf die im Garten oder winters auf die im Dachboden gespannten Leinen gehängt.
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