Thorburg. Ute Stefanie Strasser

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Название Thorburg
Автор произведения Ute Stefanie Strasser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701180516



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das Handtuch trocknet; wenn es trocken ist oder jemand zu Besuch kommt, schiebt man ihn hinein. Das klingt alles umständlich, war aber für uns ein Fortschritt gegenüber der Lavur auf dem Stockerl. Geradeaus steht der hohe weiße Küchenschrank, die Kredenz (Anrichte), zu der gehen wir jetzt hin und ziehen eine Lade heraus, schauen, was drin liegt. Aha, da liegt das Besteck drin. Wir schieben die Lade wieder hinein und ziehen die Lade daneben heraus, da liegen Schöpfer Kochlöffel Erdäpfelstampfer Reibeisen Schneebesen. Alles hat seinen Platz hier, meine Mutter hält Ordnung. Wir schieben die Lade wieder hinein. Jetzt gehen wir an den Tisch mit dem karierten Wachs-tischtuch und der Blumenvase und dem Keramikaschenbecherchen, mehr Nippes als Gebrauchsgegenstand – wenn Opa K. seine Pfeife anzündet, holt meine Mutter den großen Aschenbecher von oben von der Kredenz herunter. Wir gehen also an den Tisch, ich rücke den einen Stuhl zurück und setze mich drauf. Gemütlich sitzt es sich hier und anheimelnd wäre es, bekäme ich Kaffee serviert (Sie, liebe Leser, bekämen auch einen, klar, Stehkaffee). Aber: Ei der Daus, wer kommt denn da? Mich dünkt, ich sehe meinen Vater, im Nachtgewande. In einem weißen Nachthemd kommt er daher, wie Hamlets Vater, peinlich! Was will der denn hier? Grad jetzt, wo ich eine Führung mache! Er schaltet das Licht ein und schaut sich um, er scheint etwas zu suchen. Er grüßt uns nicht einmal, geschweige denn, dass er einen Kaffee dabei hätte. Er schaut durch uns durch, er ignoriert uns. Er rüttelt an der Eingangstür, schaut ins Wohnzimmer hinein, schüttelt den Kopf, schaltet das Licht aus und geht zurück ins Schlafzimmer. Seltsam, ob er im Schlafe wandelte? Mein Vater, ein Schlafwandler? Weil’s mit dem Kaffeetrinken eh nichts wird, stehe ich wieder auf; dabei rücke ich den Stuhl noch einmal etwas zurück, in Richtung Küchenmitte, und wir gehen in das Wohnzimmer. Moment mal – ich hab vergessen, den Stuhl wieder an den Tisch zurückzuschieben. Ach, wurscht egal, wir müssen weiter im Text.

      Bald nach unserem Einzug hatte meine Mutter im vorderen Teil der Küche einen Vorhang angebracht. Wenn echte Besucher kamen, womöglich noch überraschend, zog sie den mit grünen Blättern und roten Kirschen bedruckten Vorhang zu und entzog so herumstehendes Geschirr und andere Unaufgeräumtheiten ihren Blicken. Dann geleitete sie die Besucher durch den Quasi-Vorraum ins Wohnzimmer zur Sitzgruppe mit der Bettbank und den zwei Foadöis (Fauteuils) ums runde Tischchen, da mussten sie sich hinsetzen. Wir, liebe Leser, bleiben stehen und schauen uns um. In der Ecke hinter der Sitzgruppe steht eine Kommode, darin sind der Plattenspieler und Schallplatten untergebracht, und auf der Kommode steht ein Radio. Links davon in der nächsten Ecke, nach dem Ostfenster, steht die Nähmaschine meiner Mutter und daneben zwischen den beiden Fenstern nach Norden ein kleiner Schreibtisch für mich. An manchen Nachmittagen sitzen meine Mutter und ich einträchtig nebeneinander, sie näht und ich erledige meine Hausaufgaben. Mein Vater, wenn er schon zu Hause ist, liegt ab und zu auf der Bettbank und döst; nachts schlafe ich dort. Gleich neben dem Zimmereingang links steht der schwarze Ofen an der Wand und daneben, geschützt durch einen Wandschirm, der breite dunkelglänzende Kasten (Schrank), den wir Sekretär nennen. In den beiden Seitenteilen beherbergt er je eine Hängeabteilung, eine für den Vater und eine für Mutter und Kind. Im mittleren Teil unten liegen Bettwäsche und Leibwäsche, im aufklappbaren Fach darüber die Fotografier-Utensilien meines Vaters, Fotoapparat Stativ Belichtungsmesser und so weiter, und das Schachspiel. Mit den Schachfiguren hatte ich früher gespielt wie mit Puppen, und viele Male hatte ich meinen Vater angebettelt, mir das echte Spiel mit ihnen beizubringen. Aber er wollte nicht – sei zu schwer für mich, viel zu schwer. Irgendwann hat er mich überzeugt gehabt und ich hab mein Lebtag lang keinen Versuch mehr unternommen, das Schachspiel zu erlernen – zu schwer für mich. Über dem Klappfach hinter zwei gläsernen Schiebtüren ist unsere Bibliothek: Meisterwerke Deutscher Klassik, Das Buch von San Michele, Lebenslauf eines Optimisten, und noch ein paar andere. Was? Das sei keine Bibliothek? Dann lesen Sie doch bitte einmal A Series of Unfortunate Events, da gibt’s wesentlich kleinere Bibliotheken. Im Fach über den Büchern ist unsere Hausbar: Wein- und Schnapsgläser und Mutters selbst angesetzter Kräuterschnaps und Mutters selbst hergestellter Eierlikör und ein gekaufter Slibowitz.

      Unser Wohnzimmer ist ein Multifunktionszimmer: Empfangszimmer Musikzimmer Arbeitszimmer Hobbyraum Kleiderkammer Bibliothek Bar Ruheraum Schlafzimmer, und einmal im Jahr ist es unser Weihnachtszimmer. Ins winzige Schlafzimmer meiner Eltern auf der anderen Seite der Küche gehen wir jetzt nicht mehr hin, dort gibt es außer den Betten nicht viel zu sehen und wo-möglich schlafen die gerade drin und wir würden sie wecken.

      Die Wohnungsführung ist hiermit zu Ende. Nicht mehr besichtigt werden die beiden Außenstellen: der Kasten auf dem Dachboden und das Regal im Keller. Im Dachbodenkasten liegen der Christbaumschmuck und andere Dinge, die wir gerade nicht brauchen, aber vielleicht wieder einmal brauchen könnten; die Koffer, mit denen wir im Sommer verreisen, liegen unter den Betten meiner Eltern. Auf dem Regal im Keller stehen Gläser mit Marmeladen und Mixed Pickles.

      Ja, Sie haben recht, unsere Wohnung war klein, aber das Leben auf so kleiner Fläche, wie es neuerdings in Großstädten wie Tokio und New York en vogue ist, hat Vorteile: Man sammelt weniger Unnötiges an, man spart Heizkosten, man spart Stromkosten, man verbringt mehr Zeit außerhalb der Wohnung (dabei spart man wieder Heiz- und Stromkosten) und im Freien, weshalb man kein Vitamin D einzunehmen braucht – nochmal gespart.

      In unserem multifunktionalen Wohnzimmer in der Beletage der Thorburg gab es drei Fenster zur Alten Straße hinaus. Wenn wir uns ein wenig zerstreuen wollten, sagte meine Mutter zu mir: Gemma a bissl Fensterschauen; und sie ging zum Ostfenster, zog den Vorhang, den Store, zur Seite und öffnete es. Dann legte sie zwei Polster (Kissen) auf die Fensterbank und wir schauten Fenster, wie andere einfache Leute dazumal. Ein dreidimensionales Nahse-hen war das, das zweidimensionale Fernsehen gab es noch nicht. Doch auch beim Nahsehschauen konnten wir wie beim späteren Fernsehschauen unsere Schaulust befriedigen. Wir beglotzten Vorübergehende und kommentierten Gang Frisur Kleidung. Fuhr ein Auto die Alte Straße entlang, stellten wir Vermutungen darüber an, wer da wohl drin sitzt, wie lang der das Auto schon hat, und ob er es sich überhaupt leisten kann – oder: Raten Kredit Schulden!

      Am geöffneten Ostfenster unter uns stand Großvater Jo jeden Morgen rund ums Jahr, atmete tief ein und aus und lobte die Luftqualität. Nun war diese zwar besser als heute, doch er atmete besonders tief, wenn ein Auto vorbeifuhr. Da stand er und schnüffelte genießerisch dem Benzin-Schweif hinterher, diesem Geruch der neuen Zeit. Oje, ich glaub ja fast, mein Großvater Jo war ein Schnüffler.

      Zweites Kapitel

      Wir gehen durch die Thorburg

      Gruselgang, eine Runde mit dem Großvater, das Gigerl, scharfer Geruch, ein Wesen, Türen knallen und da Pracka, do dastickst, Shabby Chic, Rapunzel lässt ihr Haar hinunter, und so weiter – zum Beispiel: eine falsche Blondine takelt sich auf

      Die Thorburg hat vier Ebenen: die erste mit den Kellerräumen liegt auf der Höhe des Hinterhofes, von dem eine Stiege hinunter in den Garten führt, die zweite liegt auf der Höhe der Alten Straße, die dritte Ebene ist das Oberge-schoss und die vierte, das ist der Dachboden. In den Fünfzigerjahren lebten auf diesen vier Ebenen in acht Wohneinheiten auf einer Fläche von allerhöchstens150 Quadratmetern siebzehn Personen, denn noch zehn Jahre nach Ende des Krieges war Wohnraum knapp.

      Jetzt nehme ich Sie, lieber Leser, an der Hand und wie ich Sie früher einmal zu den Häusern des Feenthals und kürzlich durch unsere Wohnung geführt habe, so führe ich Sie jetzt durch die Thorburg. Folgen Sie uns bitte, liebe Leser!

      Wir kommen von der Straße her, steigen drei Stufen hinauf und gehen durch eine zweiflügelige Haustür – ein Flügel steht außer im Winter tagsüber immer offen – in das Vorhaus (den Flur), einen dunkeldüsteren Gruselgang, der geradeaus zum Ortgang führt, vor dem wieder eine fast immer offene Tür ist. Auf der linken Seite des Vorhauses befinden sich die Tür zum Wohnraum meiner Großeltern, der Hausbrunnen, an dem alle ihr Wasser holen, und die Stiegen hinunter zum Keller und hinauf in den Oberstock; auf der rechten Seite sind drei Türen.

      Wir gehen durch die erste Tür links zu meinen Großeltern Ama und Jo, den Eltern meines Vaters. Sie wohnen in einem großen Zimmer, darin viele Möbel und Dinge stehen; es ist, wie unser Wohnzimmer, ein Multifunktionszimmer: Esszimmer Schlafzimmer Büro Empfangszimmer. Dahinter liegt noch ein Kabinett, Turmzimmer wird es mein Ehemann später nennen. Im Zentrum des Zimmers steht